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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zwanzig Meilen High Street

© Ritha Elmholt

Zwölfuhrmittag; dieser College Tag ist abgeleistet. Das bedeutet jedoch nichts anderes als Hausaufgabenmachen bis Mitternacht. Darum heißt es, den halbstündigen Weg zum Busstop zu genießen und den Kopf bis dahin abzuschließen. Christopherus vom Campus, der Entdecker auf dem Sockel, zeigt mit langgestrecktem Arm die Richtung an.
Warten auf grün in sengender Sonne, über 100° F, der Asphalt des Collegeparkplatzes, meine Abkürzung zu Fuß, kocht. Das Graubrüderkloster links mit seinen schmuddeligen, stets geschlossenen Vorhängen gähnt wieder hitzeapathische Weltferne, obwohl erst gestern das Leben aus dem neuen Kirchenanbau - wahrscheinlich wegen der Einweihung - nur so heraussprudelte und Engelsflügel in der Luft flirrten. Junge Nonnen (oder Novizinnen?), mehr als hundert, quollen aus dem Neubau, aufgeräumt, kichernd, die Köpfen zusammensteckend. Hintendrein die Brüder, selig, selig ihr Lächeln.
Wie schon so oft muss ich wieder die Straßenseite wechseln. Das bisschen Trottoir wird aufgerissen; kegelförmige, orange Stateflowers - Staatsblumen - sperren es ab. Ungern und eilig mache ich mich an der Feuerwehr vorbei. Drohend steht Leiter eins, Ladder One - zärtlich als Top Gun bezeichnet - blitzeblank ihr Chrom, zum Ausrücken bereit. Was würde dann wohl aus mir, breche dieser gewaltige Löschzug unversehens mit ohrenbetäubendem Ua-Ua-Ua aus seinem Quartier?
Wieder zwei Fußgängerüberwege mit Ampelschaltungen, jeder Fußgänger ein gehetztes Tier, ein Quer-ulant. Überlebt! Nun Wolkenkratzerstraßenfluchten, Downtown, Schatten, Wasserspiele, Blütenduft und schwitzende Verwaltungsmenschen (Toilettenhinweis: Employees, wash your hands before returning to your offices - Angestellte, wascht Eure Hände, bevor Ihr in Eure Büros zurückkehrt), Lärm und noch mehr Autos. Columbus OH, du trägst Blütenweiß mit Schlips, ich schwer an meiner College Mappe, die gefüllt ist mit Wissen, einer leeren Thermoflasche, einem abgebissenen Apfel und klebrigen Bonbons. Ein feuerroter Truck fährt ein riesengroßes Bild von einem abgetriebenen Föten umher; eine zerstörte Menschenknospe in Blut. Mehr als tausend Worte! Mein liebes Columbus.
Endlich High Street, Nationwide Gebäude; der Cota-Bus ist noch nicht da. Ich schaffe jedoch gerade, fünf Quarters passend aus dem Portemonnaie zu fummeln, da bremst er auch schon am Kantstein. Dies einmal pro Stunde in Stoßzeiten, verpassen ist also nicht. Am Steuer wieder die blondgelockte Walküre; die kenne ich schon, sie fährt wie der Teufel. Ihr Gefährt ist gefüllt mit Müden, Gelangweilten und zwei Klonen von Julia Roberts, die sich nicht zu kennen scheinen. Neben einem Latino finde ich einen engen Platz. Die Aircondition tropft mir auf die Stirn, ich friere und muss husten. Der Latino, so fünfunddreißig bis vierzig, geilt mich unentwegt an, plappert etwas von Girlfriend und wo ich herkomme. Russland, lüge ich, da dies schon öfter vor mir vermutet wurde. Seinem Drängen, meine Telefonnummer herauszurücken, gebe ich scheinbar nach und verpasse ihm eine erfundene.
Wir passieren den Short North, den nördlichen Teil der High Street mit seinen Galerien und Kunsthandwerkboutiquen. In einem großen Ladenfenster entdecke ich zwei romantische Kissen, die mit Stoffrosen bedeckt sind, rosa und rot. Ich beschließe, das nächste Mal erst hier einzusteigen, um eins davon zu kaufen; Preisschilder fehlen. An einer Haltestelle steigt ein tänzelnder Farbiger zu, ein rappendes Radio geschultert. Wegen eines gellenden Schreis und lauten Fluchens vom Steuer her bringt er jedoch erschrocken das Gerät zum Schweigen. Radiohören verboten! Wie zum Trotz hebt ein junger Schwarzer in einer hinteren Reihe zu einem Lied an. Er darf das, und es hört sich gut an.
Die nächste Haltestelle erhebt sich vor einem Geröllfeld. Hier fängt der Campus der Ohio State University an; die Stadt in der Stadt. Ein gewaltiges Schild lockt mit einer schicken Einkaufszeile, die hier aus den Trümmern gestampft werden soll. Noch eine.
Ein weißer Jüngling mit gelber Rastamähne erklimmt cool und artistisch - der Schritt seiner Jeans hängt in den Kniekehlen - das Gefährt, findet keine Sitzgelegenheit. Während unsere Teufelschauffeurin fast abhebt im Geschwindigkeitsrausch, lehnt der Coole sich über zwei Sitzende und öffnet eins von den kleinen Schiebefenstern. Laut beschimpft er umherstehende Studenten, die sich überall am Rand der Fahrbahn zusammenrotten. Der Bus stoppt krachend; wir werden von den Sitzen katapultiert und geraten durcheinander, in, über und zwischen. Vorn brüllt die Fahrerin den Rausschmiss des Pöbelnden und öffnet die Tür. Bevor dieser aber dem ungastlichen Ort entflieht, lässt er seine Hose herunter und zeigt uns seinen schneeweißen Hintern. Summendes Erwachen ist die Folge. Die fahrende Sardinenbüchse findet ihre Sprache wieder, belebt sich. Der Tag hat ein Thema, man lacht, blinzelt aufgeregt, nickt sich zu.
Jetzt wieder der Stop neben der Nervenklinik. Meist Alte und Ärmliche, deren regungslose Gesichter vor sich hinglotzen, den Bus kaum wahrnehmen, schlurfen vor der heruntergekommenen Fassade hin und her. Immer derselbe Alte sitzt wie alle Tage in einem Plastikstuhl und starrt desinteressiert auf die Fahrbahn. Links und rechts der Tür einige halbvertrocknete Blumen in Kübeln, die jetzt in meine Augenwinkel abgleiten und außer Sicht geraten, genauso wie dieses tägliche Menschenstillleben. Erleichterung.
Inzwischen hat sich ein junger Hobbykünstler zur Fahrerin durchgedrängelt und legt ihr verlegen lächelnd seine Zeichnungsmappe auf das Steuer. Sie blättert und fährt, fährt und blättert, während kleine spitze Schreie der Begeisterung und des Lobes durch den Raum wirbeln. Der junge Künstler windet sich geschmeichelt, während ich mich ans Überleben klammere.
Der Bus setzt seinen Weg moderater fort, nachdem der Picasso der Zukunft ausgestiegen ist; denn wir nähern uns den feineren Vororten, Park of Roses, Clinton Ville. Bis Worthington noch eine halbe Stunde. Nun kann ich meine Bücher öffnen; der Tote Punkt ist überwunden, mein Latino längst ausgestiegen - mit der Hoffnung auf einen Flirt oder mehr in der Hose - und ich habe meinen Sitzplatz gewechselt; keine Tropfentortur mehr auf meine Stirn.
· I stood in the porch, dumb: unable to speak …u nfähig zu sprechen
· a deep languor: weakness … Schwäche
· with plummet and sounding-line: das sind Navigationsgeräte
· like Aaron's rod: eine Blume *
(*The Prentice Hall Guide for College Writers)
Blumenkübel jetzt links und rechts, später Hanging Baskets. Ein buntes Transparent verlangt: Respect the Pizza! Daneben ein Funeral-Geschäft, die Leichenhalle mit allem Pi-pa-po für einen würdigen Abgang; dann mein Waschsalon. Einen Buck und einen Quarter für eine Maschinenfüllung, fertig in fünfundzwanzig Minuten; Waschhitze gleich was die Leitung hergibt.
Prentice fragt nach: "What is the author's thesis … meine These?"
Gute Frage, doch zurzeit nur Abgeschlagenheit, dumpfe Müdigkeit; ich schlage dich zu, Mr. oder Mrs. Prentice Hall; bis später. Ole Worthington! Das Chatelaine gleitet vorbei, französische Küche und Backwaren für Träumer, nicht ganz billig. Man sitzt auf dem Patio, sehen und gesehen werden, das alte Spiel. Nun The Old Bag of Nails, British - very British Pub. Fish and Chips auf Zeitungspapier im Körbchen; einmal monatlich muss das sein. Hier goutiere ich nichts anderes, will nur das. Dazu ein schwarzes Guiness, - das ist gut für mich - und die Einbildung, ich säße irgendwo auf den britischen Inseln. Europa, ach ja. So ist das immer mit meiner Sehnsucht: Bin ich hüben, will ich nach drüben.
Nach dem Engelladen und dem Weihnachtsshop Juweliere mit Bewachung - ältere Cops mit Sitzbauch -, ein Altenheim der Luxusklasse, Kirchen, viel Rasen und Parkflächen, überall schattenspendende Bäume; Versicherungen, das Rathaus und andere Paläste, Stil altenglisch. Der Bus hat sich fast geleert, außer mir nur noch drei verstreute Personen. Die Worthingtoner benutzen üblicherweise den direkten Bus zu ihrem Ort; der hält nicht an den armen Ecken, muss nicht alles aufnehmen.
Nur noch vier Haltestellen bis zu meinem Stop; mein Orientierungspunkt ist die Lutherische Kirche, die einzige, die ich zu Fuß erreichen kann. Die Bäume fliegen vorbei oder laufen mit und beugen sich zu mir herunter, flüstern durch die Scheibe, raunen einander zu, nicken, schütteln sich, kratzen mit ihren begrünten Fingern an die Scheiben und grinsen mich an. Wie aus weiter Ferne fühlt mein Hinterteil, dass die Fahrbahn sich verändert hat. Zu glatt! Ein Aufwachen zuckt durch meinen Körper, mein Kopf fliegt nach hinten, wo meine Haltestelle gerade geduckt meinem Blickfeld entkommt. Wir fahren ein Stück Autobahn. Panik krallt sich unsympathisch an meinem Nacken fest. Als ich endlich aussteigen kann, verschwindet der Bus ins NeverNeverland, hinterlässt mich umringt von Fahrbahnen und sonst nichts.
Schlafe nie im Bus!


Eingereicht am 14. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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