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Die Geburt eines Vaters

© Petra Kramp

Du bist kein Freund großer Worte. Ebenso sind dir große Gefühlsausbrüche relativ fremd.
Du bist halt ein sehr sachlich und rational eingestellter Mensch. - Dachte ich jedenfalls.
Lange Zeit wolltest du auch gar keine Kinder haben. Diese kleinen Wesen mit ihren ureigenen Bedürfnissen waren dir immer fremd, wenn nicht gar suspekt erschienen.
Du verfolgtest das Weltgeschehen mit einer grundsätzlichen Aufmerksamkeit und auch mit einer gewissen Sorge; die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Veränderungen um dich herum machten dir zwar nicht unbedingt Angst, aber beruhigten dich natürlich auch nicht besonders.
Du versuchtest deinen Job so gut wie möglich zu erledigen, warst kein übermäßiger Sparer, sondern gabst mein Geld auch sehr gerne aus - für CDs, Rockkonzerte und - vor allen Dingen - für Reisen. Letztendlich lebtest du auf der Arbeit eigentlich nur für die Zeit, in der du frei und ungebunden warst, sprich für den Urlaub. Im Urlaub bliebst du so gut wie nie daheim. Natürlich hatten wir eine gemütliche Wohnung, aber den Urlaub, das war deine Devise, den verbrachte man nicht dort, sondern dann fuhr man weg. Und wir waren Spezialisten im Wegfahren, im Reisen. Das entlegendste Ziel war uns gerade reizvoll genug, aber letztendlich zählte natürlich nicht der Kilometerstand, sondern das Land selbst war von Interesse. Wir sparten Urlaubstage an, damit sich wenigstens einmal im Jahr eine weite Reise zeitlich lohnte. Rückblickend betrachtet kann ich aber von dir sagen, dass es höchstwahrscheinlich nur deine innere Unrast war, die dich trieb, und die dich daran hinderte, im Urlaub auch mal zu Hause zu bleiben.
Du wolltest dich nie festlegen, zumindest nicht in privater Hinsicht. Lange Zeit kam für dich eine Heirat überhaupt nicht in Frage, obschon du zu dieser Zeit bereits auf eine langjährige Lebensgemeinschaft mit mir zurückblicken konntest.
Dann kam es zu einer Entwicklung, die dir alles andere als gefiel, weil sie deiner Lebensplanung so diametral entgegensteuerte. Ich wünschte mir mehr denn je ein Kind, obwohl ich deine Einstellung sehr gut kannte. Ich versuchte, meinen immer stärker werdenden Wunsch mit aller Macht zu unterdrücken, was mir - verständlicherweise aus heutiger Sicht - nicht gelang. Mein Wunsch wurde so stark, dass du dich wohl oder übel damit noch einmal auseinandersetzen musstest. Du merktest, wenn du dich mit dieser Vorstellung an ein Kind weiterhin nicht anfreunden könntest, würdest du mich verlieren, bzw. dann ginge unsere Beziehung in die Brüche. Du erkanntest aber auch, dass du diese Beziehung nicht aufgeben wolltest.
Lange Zeit wurde ich nicht schwanger, was mich zusehends betrübter werden ließ, dich aber nicht allzu sehr beunruhigte. Denn du - du brauchtest ein Kind nicht.
Und dann, als wir schon beide nicht mehr an die Möglichkeit dachten, Eltern zu werden, teilte ich dir eines Tages überglücklich mit, dass ich schwanger sei. Irgendwie fühltest du dich wie vor den Kopf geschlagen. Jetzt doch noch ein Kind - unser Kind!
Eine große Unsicherheit überkam dich. Du wirst Vater!!?! Und du hast, so glaube ich heute, in den ersten Schwangerschaftsmonaten den Gedanken daran vollständig zu verdrängen versucht. Auf alle noch so zaghaften Versuch meinerseits, die Geburt zum Thema zu machen, (beispielsweise beim netten Namensgebungsspiel), reagiertest du mit fast störrischer Negierung: "Ach, es ist doch noch lange nicht so weit. Lass uns erst mal abwarten."
Na ja, ein aufmerksamer und besonders liebevoller "werdender" Vater und Ehemann warst du anscheinend wirklich nicht.
In den letzten Schwangerschaftsmonaten gingst du an den sogen. "Nestbau" heran: Arbeitszimmer ausräumen, Dachgeschoß ausbauen, Kinderzimmer herrichten. Doch dies geschah, weil es so sein musste, und weil du eben ein sehr praktischer und pragmatisch orientierter Mensch warst und auch immer noch bist.
Bis kurz vor dem Entbindungstermin wusstest du aber beispielsweise immer noch nicht, ob du mich in den Kreißsaal begleiten wolltest, solltest oder nicht. Schließlich hast du dich doch entschlossen mitzugehen, denn ich hatte ja auch keine Wahlmöglichkeit, sagtest du - die Geburt konnte schlecht ohne mich stattfinden.
Am errechneten Geburtstermin setzten starke Wehen ein, und wir fuhren mit Bleifuß zum Krankenhaus. Unglücklicherweise verzögerte sich aber die Geburt noch um weitere vier Tage, weil sich der Muttermund einfach nicht weit genug öffnen wollte. Dessen ungeachtet zeichnete der Wehenschreiber in relativ kurzen Intervallen unablässig starke Wehen auf. Ich ging auf dem Zahnfleisch, und meine Schmerzen mit ansehen zu müssen, ohne wirklich helfen zu können, brachten auch dich an deine Belastungsgrenzen. Ich musste im Krankenhaus bleiben und du fuhrst am Abend immer wieder nach Hause. Dann endlich rief dich das Krankenhaus an um dir mitzuteilen, dass jetzt die "eigentliche" Geburt begönne. Gerade noch rechtzeitig warst du bei mir. Und du warst aufgeregt und nervös wie vielleicht noch nie zuvor in deinem Leben. Im letzten Moment musste leider noch die Geburtszange zur Anwendung kommen, weil sich weitere Komplikationen eingestellt hatten.
Und dann - nach zwei weiteren Presswehen - war das Kind da - dein Kind, dein Sohn, unser Sohn. Noch blutend und mit der Nabelschnur verbunden, legte der Arzt das Kind auf den Bauch seiner Mutter. Etwas später durftest du die Nabelschnur durchtrennen.
Und den ersten Moment, den wie drei - die kleine frischgeborene F a m i l i e - dann ganz allein für uns hatten, den wirst du, den werden wir unser ganzes Leben lang nicht vergessen. Weil dieser erste Moment so geprägt war von dem besonderen intensiven Blick unseres neugeborenen Kindes, diese aufmerksamen, weit aufgerissenen Augen, die so wissend blickten, so, als hätten sie alles Wissen der Menschheit in sich vereint, so wissend, so intensiv und gleichzeitig so unschuldig hilflos und schutzbedürftig
Als du unser Kind dann in meinen Armen streicheltest, da brachen bei dir alle Dämme, da lösten sich vermutlich gleichzeitig viele Blockaden in dir. Und du weintest, weintest so hemmungslos, so schutzlos, so aufrichtig ehrlich, so ergriffen, und gleichzeitig geborgen und gebettet in der Liebe deiner kleinen Familie. Und du und ich, wir weinten ob dieses kleinen Wunders, für das wir nun die Eltern waren.
Und du wusstest, du trugst von nun an Verantwortung, und vielleicht zum ersten Mal richtige Verantwortung nicht nur für dich oder für eine Sache, ein Projekt, sondern für ein anderes schutzbedürftiges, kleines Wesen, und ich weiß, du schworst - auch zum ersten Mal in deinem Leben - zu Gott, dem Allmächtigen, dass du alles in deiner Macht stehende tun würdest, um unserem Kind ein guter Vater zu sein. Und du wolltest ihm gleichzeitig Wurzeln und Flügel geben, gerade so, wie ich es dir einmal aus einem Spruch vorgelesen hatte. Damals hattest du nur beiläufig zugehört, aber jetzt fiel es dir wieder ein. Du hofftest damals inständig, dass dir die Metamorphose zu einem guten Vater gelingen möge.
Und du hast dich verändert! Seit der Geburt bist du anders geworden. Dein Kind hat die "weibliche" Seite in dir zum Vorschein gebracht. Du bist besorgt und ehrlich bemüht, deinen Sohn vor allem Unbill dieser Welt zu beschützen. Du bist insgesamt zärtlicher geworden. Du lässt Gefühle zu wie Freude, Liebe, aber auch Trauer, Schmerz und Wut.
Das soziale Umfeld - auch auf dem Arbeitsplatz - "berührt" dich mehr. Und je älter der Kleine wird, und je mehr "Mann" mit ihm "richtig" spielen kann, umso mehr kommt dein eigener tief in dir schlummernder Spieltrieb zum Vorschein.
Manchmal sitzt ihr beide auf dem Fußboden - du hast vermutlich in deinem ganzen Leben zuvor noch nie so oft auf dem Boden gesessen wie jetzt mit deinem Sohn, und ihr macht "Quulle-Quulle-Quatsch", d. h. tiefsten und hochgradigsten Blödsinn, und ihr lacht euch halb schlapp dabei. Und du hast mir auch erzählt, dass du dich oft dabei ertappst, dass du dir bereits auf der Arbeit überlegst, welche Schienenform ihr seiner Duplo-Eisenbahn an diesem Abend verleihen wollt, oder wie du mit ihm zu Hause zu deiner neuesten Rock-CD (und die ist bekanntermaßen eigentlich nur etwas für ganz Hartgesottene) einen neu kreierten völlig abgedrehten Tanz aufs Parkett hinlegen werdet.
Und bei dem Wort "Timbuktu" fällt dir heute nicht mehr unmittelbar der Ort des afrikanischen Staates Mali ein, sondern vielmehr die Tatsache, dass gemäß der Hörcassette "Aristocats", die Tiere "den bösen Edgar" in einer Möbelkiste nach Timbuktu verfrachtet hatten.
Wie oft habe ich euch dabei beobachtet, wie du mit deinem Sprössling zudem jene Szenen aus den Abenteuern des kleinen Eisbären nachgespiel hast, indem der kleine "Lars" von "Hippo" erschreckt wird, jenem gut- und warmherzigen Nilpferd, nur um hinterher mit ihm Freundschaft schließen zu können.
Ja, dein Sohn hat dich in der Tat verändert, er hat es verstanden - und versteht es noch immer - die besten Saiten in dir anklingen zu lassen, und letztendlich war diese Geburt euer beider Geburt, die Geburt eines Sohnes und die eines Vaters und dafür bin ich sehr dankbar.
Ich weiß nicht, woher ich diese Sicherheit nahm, schon im Vorfeld zu wissen, dass du die "Metamorphose" schon schaffen würdest, ich wusste es halt …


Eingereicht am 10. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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