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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Blick zurück nach vorn   oder: Die Reise nach München

© Petra Kramp

Ihr Blick fiel auf das kleine Foto, das sie ansonsten immer in einem der kleinen hinteren Fächer in ihrem Portemonnaie bei sich zu tragen pflegte. Sie überlegte: Sie kannten sich schon seit etwas über zwanzig Jahren.
Kennen gelernt hatten sie sich auf einer Architektentagung. Zufälligerweise saßen sie nebeneinander im Vortragssaal, und es war auch wirklich Zufall gewesen, damals. Was nicht Zufall war, war, dass sie beide auch am nächsten Tag wieder nebeneinander saßen. Sie hatten sich - von beiden ausgehend, wie sich im Nachhinein herausstellte - bewusst wieder nebeneinander hingesetzt. Ihre Blicke trafen sich und in beider Augen spiegelten sich Schalk, Übermut und einfach kindliche Freude darüber, sich wieder zusehen und sich erneut nah zu sein. Sie war zu diesem Zeitpunkt mit Martin zusammen gewesen und wohnte mit ihm auch zusammen, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie heiraten würden. "Der andere", ihr Gegenüber, war älter als sie und - verheiratet. Unglücklich, wie er betonte. (Aber sagten das nicht alle Männer, wenn sie auf ein Abenteuer aus waren? Aber eigenartigerweise glaubte sie ihm - von Anfang an - und sie verlor sich in seinen klugen und warmherzigen, braunen Augen.) Er war streng katholisch und sein Zwiespalt war offenkundig. Sie sprachen über gemeinsame Bücher, die sie gelesen hatten, über Filme, die sie beeindruckt hatten und Länder, die sie bereits kannten, oder die sie so gerne noch bereisen wollten. Es war eine unglaubliche Seelenverwandtschaft, und manchmal glaubte sie fast, er wäre homosexuell, so herrlich anregend, aufregend und harmonisch und wiederum auch nahezu unglaublich entspannend war es für sie, mit einem Mann!! so übereinstimmend beispielsweise über sogen. "Frauenfilme" reden zu können.
Die von dem Veranstalter zusätzlich ins Programm gebrachte Besichtigung in Brüssel per Bus buchten natürlich beide. Angespannt und erwartungsvoll saßen sie auch hier wieder nebeneinander und für eine kurze Berührung nur - seine Hand ruhte wie selbstverständlich auf einem ihrer Schenkel - dachte sie daran, wie es wohl wäre, wenn sie sich einfach küssen würden.
Eigenartig - auch rückblickend betrachtet - geküsst hatten sie sich tatsächlich nie, von anderen Dingen ganz zu schweigen … Lediglich innige Umarmungen, wenn keiner zusah natürlich. Natürlich? - warum eigentlich diese ganze Heimlichtuerei, hier kannte sie doch keiner? Sie hätte sich damals schon mehr gewünscht, aber es war halt so, wie es war.
Sie redeten auch über ihre eigenen Beziehungen, über Anna, seine Frau und auch über Martin, ihren Mann. Sie sprachen über berufliche Träume, was sie alles noch konstruieren wollten, aber in beruflicher Hinsicht hatten sich erstmals bei ihnen unterschiedliche Lebenspläne herausgestellt. Sie wollte lieber im sozialen Wohnungsbau tätig sein und für die Vernachlässigten "etwas tun", d.h. menschenwürdigeren Wohnraum schaffen, er träumte von dem Monument schlechthin, einer wunderschönen Kirche mit äußerst gewagtem Kuppelbau, und es existierten auch schon konkretere Pläne darüber. Sie redeten und redeten.
Der Abschied war grausam. Als sie im Zug saß, weinte sie vor Verzweiflung lang und hemmungslos und auch er stieg zutiefst bekümmert in seinen Wagen. Sie wollten aber in Kontakt bleiben, versicherten sie sich gegenseitig.
Ab und zu telefonierten sie miteinander, er hatte sich, so sagte er, mittlerweile von seiner Frau getrennt, sie hatte Martin geheiratet. Sie war glücklich mit ihm, doch jeder Anruf, jedes noch so selten von ihr aus geführte Telefongespräch, versetzte ihr Herz in helle Aufruhr.
Nur eines war seltsam: Sie konnte ihn immer nur telefonisch in seinem Büro erreichen.
Sie gebar zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Sie hatten ein schönes Haus, Martin verdiente gutes Geld, und in der ersten Zeit blieb sie zu Hause, um sich ganz der Familie widmen zu können. Sie war zufrieden mit ihrem Leben.
Und dann kam der alles verzehrende Alltag. Zunächst noch schleichend, dann immer fordernder werdend: Zuerst verkroch er sich im Keller und trat nur dann in Erscheinung, wenn sie wusch und bügelte, Tätigkeiten, die sie mehr als verabscheute. Dann jedoch machte er sich im Erdgeschoss ihres Hauses breit, er saß in der Toilette des Gäste-WCs, wenn sie hier schrubbte, er lauerte in der Dunstabzugshaube, wenn sie kochte. Und abends strich er beinahe lautlos und beiläufig wie eine Katze um ihre Beine, wenn sie sich beispielsweise bückte, um Legobausteine im Wohnzimmer aufzuheben um das Spielzeugchaos der Kinder etwas abzumildern.
Und Martin? Hatte er den kleinen Alltagsteufel auch schon entlarvt? Mit Sicherheit! Aber er ging anders mit ihm um: Er versuchte ihn durch Wegdösen zu vertreiben. Müde und abgeschlagen kam er oftmals abends vom Büro nach Hause, raffte sich noch gerade eben auf, um den stürmischen Empfang seiner Kinder, halb lachend, halb stöhnend abzuwehren, aß dann noch mit allen zu Abend, und dann sackte er - und das geschah fast allabendlich - wie ein zu schwer gewordener Kartoffelsack nach der Tagesschau in sich zusammen und - schlief ein. So kam es, dass dieser kleine, bösartige Alltagsteufel sich jetzt auch im gemeinsamen Schlafzimmer breit machte. Er hatte ein gutes Leben dort, denn er ernährte sich von Langeweile und Routine.
Die Kinder wurden größer und der ursprüngliche Plan von ihr, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, stand anfangs unter keinem guten Stern. Sie war schon sehr lang - zu lange? - aus dem Geschäft raus, und ihre alten Verbindungen halfen ihr auch nicht mehr: Nathalie, ihre einstige Kommilitonin und Freundin, hatte sich mittlerweile nach New York abgeseilt. Ob sie dort tatsächlich Karriere gemacht hatte, wusste sie noch nicht einmal. Der Kontakt brach irgendwann einfach ab. Nathalie hatte nie verstehen können, warum für ihre Freundin die Familie immer an allererster Stelle kam.
Und heute war sie also 50 Jahre alt geworden. Ob sie es einfach probieren sollte? Ob sie es riskieren sollte, bei ihm anzurufen? Um kurz "Hallo" zu sagen? … Und um dann kurzerhand Nägel mit Köpfen zu machen und um ein Wiedersehen, also ein t a t s ä c h l i c h e s, und nicht nur ein erträumtes, von ihrer Phantasie immer wieder mal neu ersponnenes Treffen mit ihm zu vereinbaren?
Die Bedingungen waren denkbar günstig: Die Kinder waren im Sommerlager, Martin musste beruflich nach Berlin fliegen und kam erst in ein paar Tagen wieder.
So rief sie bei ihm an und diesmal war alles anders als sonst, weil ja ein reales Treffen möglich wäre. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Er meldete sich selbst, ohne die ansonsten vorgeschaltete Sekretärin. Beim Klang seiner sympathischen und immer noch jungenhaften Stimme merkte sie, wie das Blut in ihren Kopf schoss, ihr Herzschlag immer schneller wurde.
"Natürlich können wir uns sehen. Ja, das ließe sich vielleicht sogar kurzfristig arrangieren … Natürlich wohne ich allein, nein, ganz allein nicht", er schmunzelte, "wenn man alle meine Bücher mitzählt, komme ich auf eine ganz stattliche Mannschaft an Bord". Er lachte leise.
Ob auch er so aufgeregt war? So höllisch aus dem Gleichgewicht gerissen, gerade so, als hätte man in diesem Moment sein allererstes Date ausgemacht? Vermutlich war es so.
Sie trafen sich zwei Tage später in München. Sie war aus zweierlei Gründen mit dem Zug gereist: Einerseits wollte sie sich jetzt nicht auch noch auf den Verkehr konzentrieren müssen und andererseits vielleicht, um wieder einen Anflug der damaligen Gefühle herauf zu beschwören, damals, als sie sich kennen lernten.
Hatte sie auch die richtige Garderobe gewählt, nicht allein um ihre im Laufe der Zeit zusätzlichen Pfunde am vortrefflichsten zu kaschieren? Und das passende Make-up, und wie sahen eigentlich ihre Haare aus? Natürlich federten sie nicht mehr so wie mit Ende zwanzig, Sprungkraft nennt man das heute in der Werbung. Prüfend musterte sie sich in ihrem kleinen Taschenspiegel, der gnadenlos jede Porenunebenheit der Haut bloßstellte. Sie war zu aufgeregt, um halbwegs objektiv mit ihrem Spiegelbild zufrieden zu sein.
Er stand schon am Bahnhof um sie in Empfang zu nehmen, aber sie erkannte ihn zunächst nicht wieder. Erst, als er lächelnd auf sie zuschritt, eine leichte Verbeugung machte und sie dann etwas hilflos-verlegen in seine Arme nahm. Ja, sein Haar hatte sich auch verändert, es schütter zu nennen, hätte die Sache nicht annähernd treffend beschrieben - er hatte mittlerweile fast eine Vollglatze. Aber was sagen schon Haare aus? Seine Augen, seine von ihr so maßlos bewunderten, warmherzigen, braunen Augen besaßen noch jene kleinen goldenen Sprenkel in der Iris, genau so, wie sie sie in der Erinnerung behalten hatte. Und er blickte auch noch genau so jungenhaft-schelmisch auf sie hinunter, wie sie es ganz tief in ihrer inneren Schatztruhe ihres Gedächtnisses bewahrt hatte. Dazu kam dann noch die vertraute Stimme - seine Stimme, dieser warme Bariton, mit der er schon damals ihren Ohren zu schmeicheln verstand und der Tonfall, der Klang, der alle ihre nach Zärtlichkeit sich sehnenden Sinne streichelte.
"Hallo, Marie. Wie war die Zugfahrt?" Etwas befangen waren sie beide, was nicht verwunderte, denn nach über zwanzig Jahren sahen sie sich endlich - endlich? - wieder.
Marie glaubte zu träumen und eine Woge unendlich vieler Glückshormone spülte sie fast davon. Nur ungern tauchte sie wieder auf aus ihrer Gefühlswelt, aber letztendlich doch gerade noch rechtzeitig, um sie etwas hören zu lassen, was sie mit einem Mal sofort alle ihre Träume und Wünsche zum Platzen bringen ließ.
Er sagte soeben: "Sollen wir zuerst ins Hotelzimmer und soll ich es dir dann gleich besorgen, oder wollen wir vorher noch eine Kleinigkeit essen gehen?"
Er sah ihr blankes Entsetzen in ihren Augen. Er versuchte das eben Gesagte scherzhaft abzumildern. Dass er nur versucht hätte, den Casanova zu spielen, eine Rolle, die er halt nicht verstand und die er auch nie verstehen würde. Aber er machte es nur noch schlimmer.
Sie entwand sich seinen Armen. So schnell es ihre neuen Schuhe samt Trolley zuließen, lief sie ihm - und damit auch ihren Träumen davon. Tränenblind stolperte sie los, ein Gefühlschaos ungeahnten Ausmaßes hinter sich herziehend.
Wie konnte sie sich nur so getäuscht haben? Wo war dieser hochsensible, hochintelligente, einfühlsame Mensch geblieben, den sie die ganzen Jahre in ihren Träumen wie einen Schatz gehütet hatte?
Er war klug genug gewesen, ihr irgendwann nicht mehr zu folgen. Nachdem sie eine Zeitlang wie ein aufgescheuchtes, völlig verwildertes Tier kopflos hin- und hergelaufen war, setzte sie sich schließlich in einen Wartesaal des Bahnhofes. Dann löste sie unendlich viel später eine Rückfahrkarte.
Der betreffende Zug kam recht bald in den Bahnhof eingefahren. Völlig erschöpft setzte sie sich in ein noch leeres Abteil. Und weinte. Weinte bitterlich, weinte sich den Schmerz von ihrer Seele. Es kam so vieles in ihr hoch, ihre Verletzlichkeit, ihr Hunger nach Zärtlichkeit, ihr Verlust der vermeintlichen Liebe ihres Lebens, der vermeintliche Verlust ihrer Würde.
Eine alte Frau stieg nachher dazu, ohne dass sie aufgehört hätte zu weinen. Dann weinte sie lautlos. Schweigend beobachtete die Frau Marie eine ganze Weile. Schließlich sagte sie: "Kindchen, verzeihen Sie, dass ich Sie Kindchen nenne, aber in meinem Alter darf ich mir das vielleicht im Vergleich zu Ihrem Alter erlauben? Verzeihen Sie auch, dass ich mich ungefragt einmische, aber was immer die Ursache Ihres Kummers sein mag, nichts und niemandem haftet etwas so elementar Tragisches an wie dem Tod. Mein Mann ist vor genau drei Monaten gestorben. Er war ein guter Mann, mir ein guter Ehemann und unseren Kindern und Enkelkindern ein guter Vater und Großvater. Er war leider nie ein Mann großer Worte, was ich manchmal vermisste, aber er war immer für uns da und liebte uns auf seine Weise. Was gäbe ich darum, wenn ich ihm das noch zu seinen Lebzeiten hätte sagen können?"
Sie schwieg daraufhin, und ein paar Tränen bahnten sich ihren Weg langsam und stetig über jedes einzelne Lach- und Sorgenfältchen hinunter in einem Gesicht, in dem sich gelebtes Leben widerspiegelte.
"Also Kindchen", fuhr sie nach einer Weile fort. "Seien Sie dankbar für das Gute im Leben, was Sie hatten und was Sie noch haben." Dann stand sie aus, drückte kurz Maries Arm, nickte ihr aufmunternd zu, verließ das Abteil und stieg aus.
Marie war zunächst wütend, aber auch verblüfft, dann wiederum aber auch irgendwie berührt und angerührt zugleich. Wie kam diese fremde Person dazu, sie "Kindchen" zu nennen? Immerhin war sie selbst schon 50, sah sie denn aus oder benahm sie sich am Ende so wie ein überspannter Twen oder gar Teenager, der zum ersten Mal von heftigstem Liebeskummer überrollt wurde? Und woher wusste diese Fremde überhaupt, dass ihre Tränen Ausdruck eines Herzschmerzes waren, eines Herzschmerzes noch dazu, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie zu diesen Gefühlen in dieser Heftigkeit überhaupt noch fähig war? Sie hätte ja auch wegen einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit so hemmungslos weinen können? Also, was maßte sich diese Frau somit nur an?
Nachdenklicher und ruhiger geworden schaute sie gedankenverloren an sich herunter und da bemerkte sie es: Sie musste die ganze Zeit - ebenso gedankenverloren - das einzige Foto von ihm, das sonst nur in dem hintersten Fach ihres Portemonnaies vergraben war, sie musste also dieses kleine Foto mit ihren Händen immer und immer wieder geknetet haben. Es war schon ganz verknittert und sah überaus ramponiert aus. Na ja, und dann trug sie selbst ja auch einen Ehering. Und da musste die alte Dame wohl eins und eins zusammengezählt haben …
Sie weinte jetzt nicht mehr. Sie blickte auf, sah ihr Spiegelbild im Spiegel des Zugabteils, nickte sich - wie um sich selbst Zuversicht einzuflößen - kurz zu, setzte eine selbstbewusste Miene auf und zerknüddelte das Foto nun vollständig, besann sich dann aber wieder anders und zerriss es in viele kleine Fetzen und versenkte diese dann einzeln, wie bei einem besonders feierlich zu zelebrierenden Ritual, in dem eingebauten Aschenbecher des Abteils.
Jetzt war sie gewillt, etwas in ihrem Leben zu ändern. In ihrer beider Leben.
Wenn sie nach Hause kam, wollte sie ihn mit einer neuen Frisur überraschen, wollte sich das sündhaft teure Kleid endlich kaufen, das sie so lange schon im Schaufenster mit begehrlichen Blicken betrachtet hatte. Natürlich war sie sich darüber im klaren: das waren alles nur Äußerlichkeiten. Sie war aber gewillt, auch weiterhin Hausputz in ihrem Inneren zu halten.
Begonnen hatte sie ja schon damit, indem sie ihren geheimsten Traum ad acta legte.
Als nächstes plante sie einen kurzfristig organisierten Wochenendurlaub nur mit Martin - ohne die Kinder - in genau dem Hotel, indem sie damals ihre Flitterwochen verbracht hatten. Und sie würde den schon seit langem gewünschten Aquarellkurs endlich besuchen, der mangels Zeit bislang immer geopfert werden musste. Und mit Martin würde sie wieder gemeinsam joggen gehen, und sie würde …
Auf einmal war sie wieder voller Tatendrang, verspürte lang brachliegende Energien erneut erwachen.
Und … sie freute sich seit langem wieder auf ihr Zuhause.


Eingereicht am 10. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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