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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Im doppelten Sinn
© Carmen Caputo
"Ciao Franco. Ist der Artikel nicht gut geworden?" Diara war mit Leib und Seele Journalistin und hielt ihm eine frischgedruckte Zeitung unter die Nase.
Franco sah Diara an. "Wie kann ich dir nur danken?" "Vielleicht mit einem Abendessen, beim Italiener." Diara schmunzelte. Es war ein sonderbarer Zufall gewesen, diesen Franco Bentana kennen gelernt zu haben. Und das alles wegen einem kleinen Schlüssel.
Diara dachte an die Rückfahrt von Rimini zurück.
"Es kommt häufiger vor, dass jemand etwas verliert, da kann man nichts machen." Der Bahnbeamte hatte Diara bloß schulterzuckend angesehen. "Ist nicht zu ändern." "Grazie." Enttäuscht war sie wieder in ihr Abtei zurück gegangen.
"Hey, grübele doch nicht, denke lieber daran, dass unser Urlaub vorbei ist." Vera, engste Freundin und Begleitung der netten Urlaubstage in Rimini sah nervös aus dem Fenster hinaus.
Diara drehte das Medaillon. "Hast du schon mal so eine komische Form gesehen. Also ... ich noch nicht." "Jemand hat es hier verloren, und?" Vera stöhnte. Die Abteile waren unbequem und ohne jeden Komfort. "Hoffentlich wechseln wir den Zug bald." "Es sieht wie ein goldener Schlüssel aus. Sieh mal, hier, eine Gravur." "Ach lass mich in Ruhe." "Per Franco - scheint ein Name zu sein", begann Diara nach einer Weile erneut.
Vera begann nun doch zu lachen. "Du nervst ganz schön. Ach, komm`, suchen wir uns lieber etwas zu essen." Diara schüttelte den Kopf und klappte das Medaillon auf.
Es zeigte das Bild einer älteren, südländisch aussehenden Frau, daneben ein älterer Junge.
"Mmm ...", murmelte sie, "seltsam. Hier ist noch etwas drin." Diara zog einen winzigen Zettel mit einer ebenso winzigen Schrift heraus. "Franco Bentana, Frankfurt. Na so ein Zufall", stieß sie aus, "ausgerechnet Frankfurt, Vera." "Ich gehe lieber noch etwas essen, der Zug hält erst in einer Stunde." Vera verließ das Abteil, um den Speisewagen zu suchen.
Diara schüttelte mit dem Kopf. Sie hatte kein Appetit.
Franco Bentana aus Frankfurt. "So ein Zufall", grübelte sie vor sich hin.
"Frankfurt Hauptbahnhof. Frankfurt Hauptbahnhof." "Diara, bis Montag morgen in der Redaktion." "Ja, tschüss." Die beiden Freundinnen verabschiedeten sich und Diara stieg die Treppen zu ihrem Appartement hinauf.
Sie öffnete die Tür, stellte den Koffer in eine Ecke, warf die Sandalen von ihren Füßen, nahm das Telefonbuch und warf sich auf das Sofa. B.... Ban... Ben... Benta... Da! Bentana Franco.
Das musste er sein. Sie wählte die Nummer.
"Bentana?"
"Franco Bentana?"
"Ja."
"Sie kennen mich nicht, ich habe ihr Medaillon im Zug gefunden." "Unmöglich." "Doch. Es sieht wie ein goldener Schlüssel aus." Diara erklärte, dass sie es zufällig zwischen den Sitzen gefunden hatte.
"Oh Dio, mein Schlüssel. Das muss mein Schlüssel sein", stotterte Franco völlig verblüfft.
Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in einem Cafe am Stadtrand Frankfurts.
"Herr Bentana?" Diara erkannte ihn anhand des Bildes sofort.
"Ja. Nennen Sie mich doch einfach Franco." "Ciao Franco, ich bin Diara und arbeite als Journalistin bei der Frankfurter Montagspost. Kommen Sie, setzten wir uns." Diara reichte ihm das kleine Medaillon.
Franco nahm es in die Hand und strich darüber. "Mamma mia, ja! Mein Schlüssel! Dreißig Jahre", stammelte er nur noch und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Diara erfuhr, dass er in einem kalabresischen Dorf in den Bergen aufgewachsen war, mit 15 Jahren das Land verlassen hatte, um bei seinem Deutschlandonkel als Gastarbeiter sich ein besseres Leben aufzubauen.
"... Meine Mutter hat mich damals nur ungern gehen lassen, begann Franco den Zeitungsartikel laut vor zu lesen, "aber es war die einzige Möglichkeit, etwas aus meinem Leben zu machen. "Du wirst einmal große Häuser bauen und viel Geld verdienen, mio figlo", hat sie immer gesagt. Deshalb hat sie mir den Schlüssel geschenkt. Ich weiß bis heute nicht, warum sie so sehr an mich geglaubt hat, denn mit Schule hatte ich gar nichts im Sinn.
An dem Tag meiner Abfahrt stellte sich die Sonne stellte grell in meine Augen hinein. Hastig zog ich meine neuen Hosen an und lief ich schreiend in die Küche hinunter. Etwas später fuhren wir mit dem Bus zum nächsten Ort hinunter.
Auf dem kleinen Bahnhof herrschte großes Gedränge mit schreienden Menschen und aufgetürmten Gepäckwagen. Die Schaffnerstimme dröhnte in den Ohren. "Attenzione, Signori!"
Ich stieg ein, strich über die harten, hölzernen Sitzbänke und öffnete die Fensterscheibe. Der Geruch von heißem, öligem Metall zog durch das Fenster in das Abteil hinein. Ungeduldig streckte ich den Kopf aus dem klapprigen Fenster.
Draußen stand Mutter neben Vater, versteinert und leblos.
"Mach dir keine Sorgen. Deutschlandonkel wird auf mich Acht geben", rief ich ihr entgegen. Als ich endgültig Cleto verließ, war das Sonnenlicht an diesem Tag so kristallklar, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ein tiefes Rot über dem Meer kündigte einen herrlichen, morgigen Sommertag an, während sich der altersschwache Zug vibrierend in Bewegung setzte.
"Ci vediamo presto - wir sehen uns bald wieder", rief ich immer wieder, bis ihr Bild in der Unendlichkeit verschwunden war.
Ich verließ meine heile Welt. Aus dem Vorhersehbaren der Tage, den vertrauten Wegen, dem Blick auf die Weinberge und Olivenhaine, würde nun eine unübersichtliche Fremdheit, ein Weg nach draußen, in die Freiheit werden. Alles, was ich kannte, war unser Dorf, unser Haus, die Waschschüssel für Mutter, der Stall mit dem Schwein ... und meinenVögel.
Allmählich begann sich der Zug zu füllen, die Abteile waren besetzt und draußen herrschte lautes Stimmengewirr von Reisenden, die keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten.
Sie saßen auf ihren Koffern, die Köpfe an die vibrierenden Zugwände gelehnt und dösten müde dahin. Ich griff in die von Mutter gepackte Tasche hinein, um die Trinkflasche heraus zu nehmen. und war umso erstaunter als ich stattdessen ein kleines rotes Kästchen mit einem goldenen Schlüssel herauszog. Dazwischen lag ein Zettel: "Ich fühle es genau, du wirst große Häuser bauen, mio figlio". Ich klappte das kleine Medaillon und sah ein Bild von Mutter und mir.
Inmitten der plötzlich um mich herum aufsteigenden Stille rief ich: Si, Mamma, si, ich verspreche es dir. Danach schluckte ich die aufsteigenden Tränen hinunter und dämmerte weiter vor mich hin.
Gegen Mittag erreichten wir dann Deutschland. Deutschland.
Ich konnte den Blick nicht von der Landschaft nehmen, wobei ich nicht wusste, wie sie hätte sein sollen. Das Meiste wusste ich nur aus Erzählungen von Deutschlandonkel. Jedenfalls sah es düster und recht trist aus. Deutschland. Nichts, rein gar nichts, erinnerte mich an die heißen strahlenden Sommertage daheim.
Deutschland. Nur Regen, nichts als dicker, fadenartiger Regen, klatschte unaufhörlich stur an die Scheiben. Die hin und her geschleuderten Äste vorbeirauschender Wälder ließen auf Sturm schließen. Ich presste unwillkürlich den Rücken tiefer in den harten Sitz hinein und schloss die Augen, den Schlüssel tief in meine Hand gedrückt.
Ich musste wohl eingeschlafen sein. Den Schlüssel hatte ich völlig vergessen. Einige Stunden nahm die Fahrt ihr Ende.
Ich nahm den Koffer, stieg aus dem Zug und zog fröstelnd die Jacke enger um mich herum. Deutschlandonkel erwartete mich auf dem Bahnsteig und winkte ebenso wie auch das neue Leben mir zuzuwinken schien. Als mir der Schlüssel wieder einfiel, war es zu spät und ich habe mich nicht getraut, jemanden davon zu erzählen.
Dann ging alles schnell und irgendwann studierte ich tatsächlich und baute, wie Mutter es vorhergesagt hatte, Häuser."
"Dein Artikel, Diara, ist einfach wunderbar. Ich danke dir sehr, dafür und für meinen Schlüssel." Franco spielte mit dem Medaillon in seiner Hand. "Und dieses Mal werde ich es nicht wieder verlieren."
Eingereicht am 10. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.