Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Der Ring zum Glück

© Astrid Pfister

Sie saß auf dem Bett und ihr Blick schweifte durch den Raum, der bis heute ihr Zuhause gewesen war. Vor ihr lag ein großer Koffer, der schon bis zum Rand gefüllt war mit ihren Besitztümern. Kleidung, Bücher, Spielzeug aus vergangenen Tagen, von denen sie sich nicht trennen konnte.
Traurig stand sie auf und ging zur Wand um ihre Bilder und Poster abzunehmen, die sie im Laufe der Jahre dort angebracht hatte.
Sie war so mit ihren Gedanken und Erinnerungen beschäftigt, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass ihre Tante die Treppe herauf gekommen war.
"Ein schönes Zimmer hattest du hier", sagte ihre Tante, während sie den Raum betrachtete und schließlich aus dem großen Fenster sah, was fast die gesamte rechte Zimmerhälfte einnahm.
"Danke, Tante Kathy", sagte sie mit leiser zittriger Stimme.
"Dein neues Zimmer wird dir bestimmt auch gefallen. Du darfst es ganz nach deinem Geschmack einrichten, wir streichen es neu und nächste Woche gehen wir zusammen Möbel aussuchen", versuchte die Tante sie aufzumuntern.
"Ich bin fertig mit Packen", sagte Kelly während sie auf ihrem Koffer und zwei Tüten sah, die jetzt ihre sämtlichen Besitztümer ausmachten. "Das ist alles was ich mitnehme".
Während ihre Tante zum Auto ging um die Sachen zu verstauen, blickte sich Kelly ein letztes Mal in ihrem Zimmer um. Sechzehn Jahre war es ihr Zuhause gewesen und jetzt würde sie es nie mehr wiedersehen.
Als sie in Forrest Hill, Tante Kathys Heimatstadt, ankamen, wurden sie freudig von Onkel Sam und seiner sechsjährigen Tochter Charlotte begrüßt.
"Du bist jetzt meine große Schwester", rief Charlotte und lief begeistert in Kellys Arme.
Nur mit Mühe konnte sie ein Lächeln zustande bringen und verabschiedete sich nach einer kurzen Unterhaltung mit ihrem Onkel um in ihr neues Zimmer zu gehen und auszupacken.
Nachdem sie all ihre Kleidung und Bücher ausgepackt hatte nahm sie sich die Tasche mit ihren persönlichen Dingen vor.
Ihr Tagebuch, ihre Zeichnungen und ihren Schmuck. Bis jetzt hatte sie alles gut gemeistert, aber als sie das kleine Herzmedaillon in den Händen hielt und die filigrane Kette durch ihre Finger rann, brach das heraus, was sie seit Tagen mühsam unterdrückt hatte. Ein gewaltiges Schluchzen entrang ihrer Brust und ein Weinkrampf durchfuhr ihren Körper.
Mit tränennassem Gesicht öffnete sie das Medaillon und schaute auf die beiden Bilder im Inneren.
"Mum, Dad, warum habt ihr mich allein gelassen? Warum war ich nicht mit euch im Auto als es passiert ist?"
Zärtlich fuhren ihre Finger über die Gesichter ihrer Eltern während ihr Weinen immer heftiger wurde.
Von einem Geräusch aufgeschreckt hob sie den Kopf und sah ihre Tante Kathy die an der Tür stand.
"Hier, mein Schatz, ich habe dir einen heißen Kakao gemacht damit du besser schlafen kannst." Langsam durchquerte sie das Zimmer und setzte sich vorsichtig neben Kelly aufs Bett.
Als ihre Nichte den Kakao in ihren zittrigen Händen hielt, nahm Kathy die Tochter ihrer verstorbenen Schwester fest in den Arm. Lange Zeit saßen die beiden einfach schweigend nebeneinander.
Als Kellys Weinen verstummt war und sie sich wieder ein bisschen gefangen hatte, wünschte Kathy ihrer Nichte eine gute Nacht und verließ das Zimmer.
Sie beschloss Kelly nicht zum Reden zu drängen, wenn sie über den Tod ihrer Eltern sprechen konnte und wollte würde sie sich schon an sie wenden.
Mitten in der Nacht drang ein schriller Schrei durchs Haus.
Kathy zog sich schnell einen Bademantel über und eilte in Kellys Zimmer, die schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd im Bett saß.
Sie beschloss diese Nacht bei Kelly zu schlafen, nicht ahnend dass es auch in den nächsten Nächten nicht anders sein würde.
Kathy hoffte, dass mit der Zeit der Schmerz von Kelly verblassen würde und sie lernen könnte, damit umzugehen.
Aber es vergingen Wochen und Monate und der Zustand von Kelly wurde immer besorgniserregender.
Sie achte nicht mehr auf ihr Äußeres und nahm mit rasender Geschwindigkeit ab. Besorgt stellte Kathy fest, dass Kelly seit ihrer Ankunft schon über zehn Kilo verloren hatte. Was allerdings auch kein Wunder war, denn sie aß ja auch kaum noch etwas.
Was sie aber am schlimmsten fand, war, dass ihre kleine Nichte nicht mehr sprach. Es war im Laufe der Wochen immer weniger geworden und eines Nachts, nach einem Alptraum sprach sie schließlich gar nicht mehr.
Es tat ihr weh, mit anzusehen wie Kelly litt, so dass sie eines Nachts beschloss etwas dagegen zu unternehmen.
Als Kelly wie jede Nacht schreiend aus ihren Alpträumen erwachte, schaltete Kathy das Licht an und redete mit ihr.
Vorsichtig hielt sie eine kleine Schachtel in ihren Händen und sah Kelly fest in die Augen.
"Als ich noch sehr jung war, hatte ich eine Großmutter die ich von ganzem Herzen liebte, mehr noch als meine Mutter oder meinen Vater. Ich war fast jeden Tag bei ihr, half ihr im Haushalt oder setzte mich einfach zu ihr und hörte ihr stundenlang zu, wie sie mir spannende Geschichten erzählte.
Als sie dann eines Tages sehr krank wurde, rief sie mich zu sich und überreichte mit etwas.
Es handelte sich um diese kleine Schachtel hier. Sie sagte, wenn sie bald nicht mehr bei mir ist und ich es nicht mehr aushalten konnte sie nicht zu sehen, würde mir dieses Geschenk helfen.
Sie warnte mich aber, das Geschenk wirklich nur zu benutzen, wenn ich nicht mehr anders könnte.
Ich habe es damals zwei Mal benutzt und es hat mir sehr geholfen. Bevor ich es dir schenke, musst du mir aber dasselbe versprechen, was ich damals meiner Grandma versprach.
Du darfst nie jemandem etwas davon erzählen oder es gar zeigen. Die Leute würden dich für verrückt halten und es gar nicht glauben.
Zweitens, du darfst es wirklich nur sehr selten benutzen sonst ist der Schmerz später umso größer. Okay?"
Kelly blickte die Tante verunsichert an, aber nickte entschlossen.
Vorsichtig öffnete sie den Deckel und nahm einen kleinen silbernen Ring heraus.
Der Ring war wunderschön verziert und in der Mitte war ein mitternachtsblauer Stein eingelassen.
Er war wirklich hübsch, daran gab es gar keinen Zweifel, aber wie sollte er ihr helfen über den Verlust ihrer Eltern hinwegzukommen?
Wieder gingen ihre Gedanken zu dem Tag zurück, als ihre Eltern nur mal kurz einkaufen fahren wollten und nie mehr wieder kamen.
Ihre Tante nahm den Ring aus der Schachtel und steckte ihn an Kellys Ringfinger. Er passte perfekt, so als wenn er für sie gemacht worden wäre.
"Jetzt stell dir ein richtig glückliches Ereignis vor, das du mit deinen Eltern erlebt hast und dreh den Ring an deinem Finger nach innen."
Kelly schloss die Augen und stellte sich das Picknick vor, das sie mit ihren Eltern letzten Sommer gemacht hatte.
Sie konnte sich noch an jede Einzelheit erinnern, an das wunderschöne gelbe Sommerkleid ihrer Mutter, an die große Picknickdecke mit den köstlichen Speisen und an den Duft des frisch gemähten Rasens.
Sie stellte sich alles so perfekt vor, dass sie das Gras wirklich riechen konnte und das Lachen ihrer Mutter und ihres Vaters wirklich hören konnte.
Oder war das vielleicht gar nicht in ihrer Vorstellung?
Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah nicht ihre Zimmerdecke, sondern den strahlend blauen Himmel.
Als sie sich langsam aufsetzte, konnte sie ihren Augen nicht trauen, denn ein paar Meter entfernt auf der Picknickdecke saßen ihre Eltern und scherzten miteinander.
Weinend sprang sie auf und rannte in die Arme ihrer verdutzten Eltern.
"Was ist denn los Honey", fragte ihre Mutter verwundert.
"Sie ist bestimmt im Gras eingeschlafen und hat schlecht geträumt", sagte ihr Vater und schloss sie fest in die Arme.
Überglücklich drückte sie sich an ihn und atmete den vertrauten Geruch seines Aftershaves ein.
"Ich habe euch so lieb", presste Kelly mühsam hervor.
Sie verbrachte eine wunderschöne Stunde mit ihren Eltern als sich plötzlich der Ring an ihrer Hand zu drehen begann.
Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah und plötzlich war sie wieder in ihrem neuen Zimmer und lag dort im Bett.
Aufgeregt fing Kelly an zu sprechen und erzählte alles was sie erlebt hatte. Kathy sah die glücklichen Augen ihrer Nichte und bemerkte erfreut, dass Kelly wieder angefangen hatte zu sprechen. Das alleine war es wert, ihr den Ring zu geben.
In dieser Nacht schlief Kelly zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern vollkommen ruhig und traumlos.
In der folgenden Woche benutze Kelly den Ring einige Male und man sah, dass er ihr half über den Verlust ihrer Eltern hinwegzukommen.
Sie wurde fröhlicher, gesprächiger und nahm auch wieder zu. Sie hielt sich an ihr Versprechen, benutze den Ring nicht zu oft und sprach auch mit niemandem außer mit ihrer Tante darüber.
Kathy erzählte Kelly von früher, als ihr der Ring treue Dienste erwiesen hatte und was sie sich damals vorgestellt hatte.
Aber umso mehr Zeit verging umso mehr verblasste die Ermahnung, den Ring nicht zu oft zu benutzen in ihrer Erinnerung. Kelly merkte, dass sie ohne diese Erlebnisse nicht mehr leben konnte, dass sie der Grund waren warum sie morgens aufstand.
Ihre schulischen Leistungen wurden immer schlechter und Kelly zog sich immer mehr zurück.
Sie war immer noch freundlich zu allen und aß auch wieder, aber ihr einziger Lichtblick am Tag war, den Ring zu drehen und ihre Eltern wieder zu sehen.
Aber sie hütete sich ihrer Tante davon zu erzählen, da sie Angst hatte, dass sie ihr den Ring wieder wegnehmen könnte.
Eines Morgens setzte sich Kelly aufs Bett und stellte sich den schönsten Tag, den sie jemals erlebt hatte, in ihrer Erinnerung vor.
Ihren zehnten Geburtstag ... dieser Tag war der schönste ihres Lebens gewesen.
Als sie den Ring drehte und ein paar Sekunden später die Augen öffnete, saß sie am Esszimmertisch und vor ihr stand eine riesige Torte auf der mit Zuckerschrift "Kelly wird heute zehn" stand.
Neben ihr standen ihr Vater und ihre Mutter und sangen lauthals Happy Birthday.
Glücklich pustete Kelly die Kerzen aus und schloss die Augen um sich etwas zu wünschen.
Nach dem Essen entschuldigte sie sich und schlich sich in den Keller. Vorsichtig tastete sie im Dunkeln herum bis sich ihre Finger um den Gegenstand schlossen den sie gesucht hatte.
Dann zog sie denn kleinen Ring von ihrem Finger und legte ihn vorsichtig auf die Werkbank.
Als sie ausholte und der Hammer mit aller Macht den Ring traf, zerbrach dieser in tausend Stückchen.
Egal was man probieren würde, er wäre nicht mehr zu reparieren.
"Wo bist Du denn Schatz?", rief ihre Mutter herunter.
Vorsichtig fegte Kelly die kleinen Stücken in ihre Hand und rief ihrer Mutter herauf "Ich komme sofort."
Sie hatte Recht gehabt, dieser Tag war wirklich der glücklichste Tag ihres Lebens.


Eingereicht am 06. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Blogs mit lustigen Gedichten
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Gedichte «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» Limericks «««
»»» HOME PAGE «««