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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Reflexionen
© B. Brumm
"Hey Junge, ich glaube es wird Zeit für dich zu gehen. Steh schon auf, das Leben ist zu kurz um den ganzen Tag zu schlafen." Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es musste einfach so sein. Er war zuhause und wurde von seiner Mutter geweckt. Solche "Lebensweisheiten" gab bekanntlich nur sie von sich. Aber ist das Leben wirklich zu kurz um nicht den größten Teil davon im Bett zu verbringen? Gedanken an eine Katze schossen ihm durch den Kopf. Er hatte einmal gehört, Katzen schlafen bis zu 70%
eines Tages. Aber das ist lange her und für Katzen interessiert er sich längst nicht mehr.
"Jetzt verschwinde endlich und mach etwas aus deinem Leben", wurde die Stimme jetzt energischer. Er gab ein murmelndes Sprachgewirr von sich, in dem er seine Mutter bat noch wenige Minuten weiter schlafen zu können.
"Mutter!? Ich glaub du tickst nicht mehr ganz richtig, du kleiner Quälgeist!" Erschrocken drehte er sich um und sah Emelie in ihr schmutziges, zerfurchtes Gesicht und erinnerte sich plötzlich, dass er keineswegs zuhause war und es für ihn auch gar kein Zuhause mehr gab.
(Emelie konnte selbstverständlich nicht seine Mutter sein. Sie war gerade einmal 24 und damit fünf Jahre älter als er selbst, auch wenn sie von Fremden häufig für weit über 40 geschätzt wurde. Allerdings hatte sie schon mehr Erfahrung sammeln können, als es ihm in einem Jahr möglich war. Emelie lebte zu diesem Zeitpunkt schon 7 Jahre auf der Straße. Wie sie selbst oft erzählt, ist sie damit eine "Spätaussteigerin". Gründe gab es viele, von zuhause abzuhauen. Welche es genau waren, weiß sie selbst seit
langer Zeit nicht mehr. Sie hatte große Probleme mit Drogen zu dieser Zeit: Heroin, Crack, Kokain und alles was der Markt so hergeben konnte für "einen kleinen Fick", wie Emelie ihre schwerste Zeit beschrieb. Von den Drogen ist sie seit 2 Jahren los, von dem ein oder anderen "kleinen Fick" nicht. Inzwischen gilt dieser allerdings nur noch zur Beschaffung von Nahrung. In wenigen Stunden wird einer dieser kurzen Geschlechtsakte, oder viel mehr noch der männliche Part dieses Aktes, sie töten.)
Doch bis dahin wird er sie vergessen haben und sich um seine eigenen Probleme kümmern. Vor 412 Tagen verschwand er spurlos und seine Eltern sollten ihn bis zu diesem Tage nicht mehr sehen. "An meinem 19. Geburtstag werde ich verschwinden, für immer", hatte er seinem besten Kumpel Tim häufig gesagt. Tim hieß eigentlich Timothy. Aber alle nannten ihn nur Tim, obwohl ihm das nie gefallen hatte. "Timothy hat so einen amerikanischen Touch, das gefällt den Mädchen sicher", sagte er ihm öfter. Er
wusste nicht viel von Mädchen. Timothy dagegen schon. Er liebte die Frauen und sie liebten ihn. Er war schon als pubertierender Junge von Frauen umringt und das sollte sich nicht ändern. (Timothy behauptete oft Sohn amerikanischer Eltern zu sein, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien, als er vier Jahre alt war. Tim war ein dreckiger Lügner. Seine Mutter war eine Prostituierte, die sich bald nach seinem vierten Geburtstag eine Kugel in den Kopf jagte, weil sie sich nicht länger ertragen konnte.
Sein Vater war ein nicht genauer zuzuordnender Anteil des Spermas, das sich am 27.Mai vor 21 Jahren in seiner Mutter aufhielt. Tim kam daraufhin in ein Waisenhaus und wurde 2 Jahre später von einem liebenswürdigen, kinderlosen Paar aufgenommen. Tims Leben verlief so harmonisch, wie es für ein Kind seines Alters, das seine Eltern nie wirklich kannte, ablaufen konnte. Er war ein kluger, gut aussehender Junge, der nie mit irgendjemanden in Konflikt geraten konnte. Selbst, wenn man ihn provozierte. Vor einem Jahr
jagte er sich eine Kugel in den Kopf, weil er sich nicht länger ertragen konnte.)
Im Gegensatz zu Tim hatte er noch nie Sex, auch nicht für Geld. Früher hatte er oft gesagt: "Ich möchte auf die echte, wahre Liebe warten". Aber das ist lange her und für die echte, wahre Liebe interessiert er sich längst nicht mehr. Langsam stand er auf. Sein Körper schmerzte ihn an jeder Stelle. Er stank fürchterlich. Er dachte an ein Bad im nahe gelegenen See- doch den Gedanken verwarf er schnell. Er wollte Tamara nicht begegnen. Tamara war wunderschön. Sie hatte blaue Augen und seidenes blondes
Haar bis zu den Schultern. Sie war die Frau, der seine ganze Begierde und Liebe galt. Doch angesprochen hat er sie nie. "Die interessiert sich doch nicht für einen wie mich", sagte er sich selbst. Und in der Tat interessierte er sie nicht das Geringste. Sie ging mit Jungs aus, welche von der Frauenwelt begehrt wurden. Jungs wie Timothy. Was er nicht wissen konnte war, dass er Tamara nicht am Badesee treffen konnte. Heute nicht und sonst auch nicht. (Tamara war selten in der Schule. Sie machte sich einfach
nichts daraus. Dennoch war sie keineswegs dumm. Sie war eine begeisterte Kunstliebhaberin, zuweilen malte sie selbst. Ihre Eltern und Lehrer sahen in ihren wirren Zeichengebilden allerdings nicht mehr als eine Ansammlung von eckigen und runden Formen. Also grenzte sie sich von ihren Eltern und bald darauf auch von der Schule ab. Sie malte mit Independent-Künstlern und sog das Leben eines unabhängigen Freigeists förmlich auf. Doch die scheinbare Unabhängigkeit schlug ihre Wellen um Tamaras Geist. Sie hatte das
Gefühl in einer anderen Welt zu sein, frei von allen banalen Lerntheorien. "Ich werde eine neue, kluge Kunstepoche erschaffen", wurde sie in diversen Szenekreisen zitiert. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade 17 Jahre alt geworden und man fand sie, vor sich hin sabbernd, in einem Waldstück neben Timothy liegend. Der Freitod ihres Freundes hatte in Tamara einen schlafenden Riesen geweckt. Tamara litt an Epilepsie und hatte einen Anfall erlitten, als sie Tims offene Schädeldecke vor sich sah. Sie sollte
sich nicht wieder erholen. Die Ärzte sprachen von einem andauernden Trauma, das durch die zu spät erkannte Krankheit nicht mehr in den Griff zu bekommen war. Tamara sollte im hohen Alter in einer psychiatrischen Anstalt sterben.) Früher wollte er auch einmal Arzt werden, doch das ist lange her und für Medizin interessiert er sich längst nicht mehr. Er trottete langsam durch eine Straße, die ihm bekannt war. Als Kind war er hier öfter mit seiner Mutter spazieren gegangen. Es muss noch früh am Morgen gewesen sein,
denn er roch den Duft von frisch gebackenen Brötchen und zudem waren nur sehr wenige Menschen auf der Straße. Allerdings sammelte er jedes Augenpaar ein, das auch nur auf ihn zu zentrieren war. Das war eine dieser Situationen, die ihn rasend machten und in denen er sich nach Wärme sehnte. Wenn die Leute tuschelten: "Schaut euch diesen Penner an!" Oder die Mütter ihre Kinder ganz nah zu sich heran zogen, um ihm zu zeigen: "Sieh her, was du alles verpasst hast in deinem kümmerlichen, schäbigen Leben!"
Er war aber gar kein Obdachloser, obgleich es manchmal vorkam, dass er die Nacht auf der Straße verbringen musste. Er verstand sich jedoch hervorragend darin, Obdachlosen das Leben noch schwerer zu machen. Er war Dealer geworden. "Ich werde ein ganz Großer, einer dieser Drogenbarone", fantasierte er oft vor sich hin, als er noch jünger war und Ziele und Träume hatte. Er war einer dieser miesen, schmutzigen Dealern, die ihr Gras, ihr Crack, ihr Koks, ihr Heroin auch an Kinder und Junkies verkauften,
wenn das Geschäft mal schlecht lief. Es musste November gewesen sein, denn er hatte innerhalb weniger Tage bereits einen Großteil seiner Ware verkauft und jetzt erwartete er sein letztes Geschäft. Ein Geschäft mit Herrn Grimmt. (Herr Grimmt hieß eigentlich gar nicht Herr Grimmt. Aber alle nannten ihn so, also nannte auch er ihn so. Herr Grimmt war ein Mann Mitte 40 und war für ihn so etwas wie der Staubsaugervertreter. Er lockte meist jugendliche Kunden an und durfte dafür einen gewissen Teil der Proben einbehalten.
Herr Grimmt war ihm ein Dorn im Auge. Er mochte ihn nicht, er verabscheute ihn und doch war er eine wichtige Person auf dem "Weg ganz nach oben", wie er oft dachte. "Jeder Baron hat seine Verkäufer; eines Tages werde ich gar nichts mehr selbst verkaufen und meine einzige Beschäftigung wird Geld zählen sein. Du wirst schon sehen", sagte er oft zu Tim. Soweit würde es nie kommen. Herr Grimmt wurde an diesem Morgen halbtot auf der Straße gefunden. Einige Jugendliche raubten ihn aus. Eigentlich
ging es Ihnen um Geld. Als sie die Mengen an Rauschmitteln sahen, die der Mann bei sich trug, nahmen sie diese mit und ließen ihm die Brieftasche. "So sieht alles wie ein Unfall aus und wir sind aus dem Schneider", war die allgemeine Stimmung bei den 7 Jugendlichen, die auf den armen Herr Grimmt einschlugen. Herr Grimmt sah jedoch nicht nach einem Unfallopfer aus. Viel mehr sah es aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschossen, da es völlig deformiert auf seiner Stirn lag. Herr Grimmt starb noch im Krankenwagen.
Die Obduktion stellte einen Unfall als wahrscheinliche Todesursache fest und die Polizei fahndete nach einem "kleineren, stark beschädigten PKW".) Es hatte keinen Sinn mehr. Er wartete nicht mehr länger und ging weiter. Heute musste es soweit sein, er wollte keine Zeit mehr verlieren. Das Geld durch seine Drogengeschäftchen legte er zum größten Teil beiseite. Es sollte ihm als Grundkapital für den internationalen Drogenring dienen, den er seit langem in seinen Gedanken aufgebaut hatte. Der Rest würde
an seine Mutter und seinen Vater gehen. "Sie werden es als Entschuldigung für mein Leben sicher annehmen", hatte er sich immer wieder eingeredet. Es war also endlich an der Zeit. An der Zeit für den schwersten, größten, weitesten Schritt in seinem miserablen Leben. Als er in die Straße einbog, die ihm lange Jahre seines Lebens ein wundervolles zuhause war, fühlte er eine seltsam, unangenehme Hitze in sich aufsteigen. Er sah das Haus vor sich, doch es schien in weite Ferne zu rücken. Er blieb stehen
und drehte sich ohne es selbst zu merken um und lief davon, so schnell ihn seine schmerzenden Beine tragen konnten. Seine Mutter war jetzt bestimmt im Garten hinter dem Haus und hätte ihre beschissenen Rosen zurecht geschnitten, dachte er sich. Er irrte. Seit seinem plötzlichen Verschwinden schnitt seine Mutter keine Rosen mehr und überhaupt: es gab keine einzige Rose mehr. Um diese Zeit räumte sie, wie jeden Tag nach seiner Flucht, sein Zimmer auf und bezog sein Bett. (Elisabeth Mauks war ein aufgeschlossenes
und schönes Mädchen, "aber auch ein Frechdachs". Zumindest hatten ihm das seine Großeltern immer wieder erzählt. Auf das Drängen seiner Großeltern entschied sich Elisabeth dafür auf ein klösterliches Mädchengymnasium zu gehen. Doch sie war weder besonders christlich, noch hielt sie etwas davon auf eine Mädchenschule zu gehen. Allerdings wollten es ihre Eltern so und daran gab es nichts zu rütteln. Sie wollte Karriere machen in der Welt, doch das mussten ihre Eltern zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht
wissen. Eines Tages begegnete sie dem Jura-Studenten Georg Teeks. Georg war ein charmanter junger Mann, in den sich Elisabeth sofort verliebte. Aus Elisabeth Mauks wurde bald Frau Teeks und ihre Karriere wollte nie beginnen. Georg liebte Elisabeth über alles. Er baute ihr ein Haus mit Rosengarten und die Eltern Mauks kamen häufig zu Besuch. Georg konnte ja nicht ahnen, dass seine Frau irgendwann verrückt werden sollte und einen Pillenverbrauch einer ganzen Intensivstation benötigte um nicht in depressive Angstzustände
zu verfallen.) Rosen. Früher hatte er sich für Rosen interessiert. Seine Mutter hatte ihm alles Wissenswerte beigebracht. Doch das ist lange her und für Botanik interessierte er sich längst nicht mehr. Der Plan sollte also wieder nicht aufgehen. Also Plan B. Er würde das Geld zu seinem Vater in dessen Anwaltskanzlei bringen und so schnell wie möglich wieder verschwinden. Es musste schnell gehen. Denn es wurde bereits Abend und sein Vater würde bald das Büro verlassen. Er nahm also ausnahmsweise den Bus. Er verachtete
Busse. "Ein Drogenbaron fährt nicht in einem Bus. Der hat seine eigene Limousine in der er unermüdlich Geld zählt." Der Bus hielt an und er stieg aus. Er war zu spät. Es brannte kein Licht mehr im Haus, sein Vater war also gerade gegangen. (Georg Teeks ging an diesem Tag bereits nachmittags aus dem Büro, so wie immer an diesen Tagen. Er traf ein 24-jähriges Mädchen. Es war ein simples Geschäft. Er gab ihr genügend Geld um zu überleben und als Gegenleistung durfte er sich mit ihr vergnügen. Er sprach
sich sein Gewissen damit rein. Und damit, dass sie nicht hübscher war als seine alternde Frau und sogar älter wirkte. Er wusste ihren Namen nicht, hatte sie einfach auf der Straße angesprochen und er hatte damals einen schlechten Tag. Sie sollte ihm versprechen, sein Geld nicht für Drogen, sondern für etwas Anständiges zu essen ausgeben und sie hielt sich daran. Doch an diesem Tag machte sie einen Fehler. Sie fragte Georg, ob er Familie hätte oder wenigstens eine Frau, oder wie sein Name sei. Georg Teeks zog
einen Brieföffner, den er gerade gekauft hatte, aus dem Mantel und stach auf das Mädchen ein. 19 Mal. Er rief die Polizei und ließ sich ohne Gegenwehr verhaften. Er wurde wegen Totschlages zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und sein Leben war zerstört. Am Tag, an dem er aus dem Gefängnis kommen wird, wird er sein Leben buchstäblich in Stücke reißen. Er wird vor einen Zug springen.) Er setzte sich auf die Straße. Er ignorierte die hupenden Fahrzeuge, die hin und wieder an ihm vorbei fuhren. Dann kam ein Bus.
Er dachte kurz nach und entschied sich mitzufahren. Als er dem Fahrer das Geld für einen Fahrschein bis zur letzten Station geben wollte lächelte der ihn nur an und sagte: "Ist schon gut. Setz dich an einen freien Platz und wir fahren los." Der Bus war leer. Er war der einzige Fahrgast. Es muss ein moderner Bus gewesen. Denn die Sitzpolster waren nicht wie gewöhnlich voll geschmiert, oder mit Messern (oder Brieföffnern) aufgeschlitzt worden. Er wurde vom Sonnenuntergang vor ihm geblendet und hatte keine
Schmerzen mehr. Er fühlte sich so leicht und sauber wie er sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. "In Zukunft werde ich öfter mit dem Bus fahren", dachte Oliver. Dachte er.
Eingereicht am 29. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.