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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Chevalier

© Frank Weber

Die Ampel steht noch immer auf Rot - seit Stunden. Die Zeit verlor an jeglicher Konstanz und jedes "Tack" der Uhr, welches auf ein "Tick" folgt, dauert, als müsse die Uhr in Johannisbeergelee eingelegt sein und der Sekundenzeiger übermenschliche Kräfte aufbringen, um gegen die Masse anzukämpfen. Cory hat in ihrem Auto zwar nur eine Digitaluhr, also weder Tick-Tack noch Sekundenmesser.
Während sie nervös mit den Fingern auf das Lederimitat des Steuerrades trommelt, stellt sie sich eine typische Schweizer Bahnhofsuhr mit rotem Sekundenzeiger vor, welcher alleine schon durch die Last des übermächtigen Punktes am Gliedende hätte schlapp nach unten hängen sollen. Kraftlos. Unfähig, das Gewicht aufzubringen, sich auf der linken Seite des Zifferblattes nach oben zu arbeiten. Diese Mitleid erregende Uhr konnte nur durch die sadistische Phantasie eines krankhaften Künstlers kreiert worden sein, welcher sich neben Reichtümern auch Ruhm und Ehre verdient hat.
Ein Hupen.
Im Rückspiegel blinkt das Licht des Folgewagens auf. Der Blick nach vorne verrät Cory, dass sich die Farbe der Ampel nun doch noch ins Grüne gewandelt hat. Am liebsten hätte sie den Rückwärtsgang eingelegt und wäre dem Nörgler in die Karosserie geschossen. Sie legt den Gang ein und fährt los. Vorwärts.
Ein leiser Regen hat schon vor Stunden eingesetzt. Der Regen vermag es jedoch nicht, Cory die Sicht zu stehlen. Dafür ist die übermäßige Feuchtigkeit in den Augen verantwortlich. "Du musst stark sein", sagt sie sich immer wieder.
Sie versucht krampfhaft, die Tränen zu unterdrücken. Ab und zu reibt sie sich mit dem rechten Ärmel über das Gesicht, ein Effekt, welcher weniger Wirkung zeigt als der Scheibenwischer vor dem Frontglas. Sie versucht, mit dieser Geste den Eindruck zu erwecken, sie müsse die Müdigkeit abschütteln.
Wem will sie etwas vormachen? Wozu dieses Laienschauspiel? "Ich mache mir etwas vor. Nur mir." Wem sonst?
Während sie nun auf der langen Gerade der Autobahn in Richtung ihres Ferienhauses vorwärts schießt, lässt sie nochmals den gestrigen Tag Revue passieren.
Die Veränderungen begannen so schleichend, so erschreckend normal. Sie hätte nie gedacht, dass ein Tag ein ganzes Leben verändern kann. In ihrem Fall ins Negative.
Sie saß, wie oft an einem Samstag früh, in ihrem Atelier im Dachgeschoss.
Der Teig fühlte sich zwar kalt aber dennoch erotisch an unter ihren Fingern.
Sie fühlte, wie der Ton auf der Scheibe ihrem sanften Druck gehorchte.
Er schien förmlich danach zu schreien, zu einer kunstvollen Vase verarbeitet zu werden. Es gab Tage, da hatte Cory die Gewissheit, nicht sie forme die Schalen, Tassen und Vasen. Sie fühlte sich nicht als Schöpferin, sondern als Werkzeug, die dem weichen Material die Form gab, welche längst vorhanden war, man nur noch nicht sehen konnte. Gestern war so ein Tag und sie wollte das Beste herausholen. Jedes noch so unwichtige Detail sollte sich perfekt in die Kreation einbinden, so selbstverständlich klar und doch perfekt wie eben nur die Natur sein kann.
Schrill klingelte die Wohnungsglocke, welche sie aus ihren Träumen der erotischen Erlebnisse riss. Missmutig ließ sie vom Fußpedal ab, hielt die Materie jedoch noch bis zu ihrem Stillstand fest.
"Salomé, gehst du an die Türe?"
Sie Lauschte in die Stille. Keine Antwort. Mit einem Seufzer wischte sie sich die Hände am Frotteetuch, welches auf ihren Beinen lag, halbherzig ab und begab sich zur Pforte.
Wer konnte das nur sein? Wen sollte sie samstags um neun Uhr früh erwarten?
Bestimmt wollten irgendwelche Sektenbrüder auf Seelenfang oder Sozialmütter auf Spendenjagd gehen. Hatten diese Jungs denn nie Wochenende? Missmutig öffnete sie die Eingangstüre. Sie erinnerte sich in dem Moment an die Geschichte, als ein Sektenanhänger vor der Türe stand und die Bewohnerin diesen mit den Worten abwimmelte "Ich würde Sie ja gerne hereinbitten, mein Mann und ich sind jedoch gerade in einer Seance mit dem Teufel, wenn Sie doch bitte ein andermal wiederkommen möchten?"
"Hallo Schönheit, du wirst von Tag zu Tag noch bezaubernder!" Der Mann, welcher im Eingang stand, war im Sinne der meisten Frauen wunderschön. Sein aristokratisches Gesicht war scharfkantig geschnitten und strahlte eine Härte aus, die auf ein starkes Selbstwertgefühl und Willenskraft schließen ließ. Seine glühenden, dunkelblauen Augen sprachen für Leidenschaft und sein sanft geschwungener Mund deutete auf eine romantische Ader hin. Gekrönt war das ganze Bouquet mit sattem, tiefschwarzem Haar. Pierce Brosnan wäre neben Alexander M. Chevalier bei einer Umfrage in einer Frauenzeitschrift bestimmt als hässliches Entlein untergegangen.
Cory liebte ihren Bruder neidlos. Sie war fast einen Kopf kleiner als Alex, war jedoch sicher, bei einem Körpergewichts-Wettkampf den ersten Platz zu gewinnen.
Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht.
"Hy, Alex, komm nur rein. Was machst du denn schon so früh auf den Beinen? Brauchst du denn keinen Schönheitsschlaf?"
"Aber Cory, du weißt doch, dass ich als Schönheitskur täglich ohne Schirm im Regen wandle, wozu also schlafen?"
"Und was tust du, wenn es nicht regnet? Lass dich mal anschauen." Sie packte mit der tonverschmierten Hand Alex's leicht stoppeliges Gesicht. Sie liebte es, wenn ein Männergesicht kratzte. Am liebsten hätte sie die Hände im Schmirgelpapiergesicht vergraben. Dieses Gefühl bereitete ihr noch mehr Befriedigung, als der weiche Ton oben auf der Drehscheibe. Sie drehte das Haupt ihres Bruders von links nach rechts und wieder zurück.
"Oh, scheinbar hat es schon länger nicht mehr geregnet. Deine Schönheitskur lässt sehr zu wünschen übrig."
Sanft griff Alex Corys Handgelenk, um es von seinem Gesicht zu entfernen und schaute auf ihre Handflächen.
"Eine Fangopackung? Ob mir das über die regenfreien Tage hinweghilft?"
Sie strahlten sich gegenseitig herzlich an.
"Komm herein, ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mich weiter meinem Ton widme."
Alex trat an seiner Schwester vorbei in die Stube, welche einst ihre Eltern bewohnten.
"Nein, kein Problem. Ist Salomé zu Hause? Ist dir auch schon aufgefallen, sie wird langsam eine richtige Dame. Allmählich wird es Zeit, dass du sie über die Schönheiten, Risiken und Gefahren des Erwachsenwerdens aufklärst.
Sie besitzt wie du Mutters Schönheit! Bestimmt werden die Jungs schon bald an deiner Türe Schlange stehen und du kannst beginnen, Eintritt zu verlangen."
"Nun ja, solange die Casanovas ordentlich die Schuhe abputzen und dann und wann auch mir einen Strauß vorbeibringen, soll sie nur aufblühen. Aber im Moment hast du Pech. Ich weiß nicht, wo Salomé ist. Hast du mit ihr abgemacht?"
"Ja, ich wollte sie einladen, mit mir in den Zoo zu fahren. Dann werden wir noch ein Geburtstagsgeschenk für sie aussuchen. Bestimmt ist sie in ihrem Zimmer."
"Sie ist gerade in einem schwierigen Alter. Wahrscheinlich haben wir das auch durchgemacht, obschon ich mich nicht mehr so recht daran erinnern kann. Ihre pubertären Phasen sind manchmal ganz schön anstrengend. Könntest du sie nicht einmal darauf ansprechen? Vielleicht wenn du mit ihr im Zoo die Gnus anschaust?"
"Aber sicher doch, ich werde ihr erzählen, ihre Schwester ist überzeugt, sie wäre ein Rindvieh."
Cory lächelte. "Bitte bring's ihr schonend bei!"
Salomé war als jüngste Tochter das Nesthäkchen der Familie Chevalier. Als Alex zur Welt kam, war ihr Vater ein 23-jähriger Angestellter einer Plastikfabrik mit der Aufenthaltsbewilligung C und viel Angst, da er damit rechnen musste, aus der Schweiz nach Frankreich zurückdeportiert zu werden.
Er sprach nur sehr gebrochen deutsch, hatte jedoch den Stolz der Franzosen und die Vision, etwas verändern zu können, was er in seinen späteren Jahren in bescheidenem Ausmaße auch tat. Henry lernte seine zukünftige Frau bei der Bewerbung in der Fabrik kennen und verliebte sich sofort in sie. Dank seines, damals in der Schweiz noch unüblichen französischen Charmes eroberte er das Herz der 19jährigen Birgit im Sturm. Ein Jahr später war die junge Ehe um ein Familienmitglied reicher. Nach der Geburt von Alessandre Michèle hängte Birgit ihren Job im Büro der Plastikfabrik an den Nagel und widmete sich voll und ganz der Erziehung ihres Sohnes. Da die finanziellen Mittel nicht ausreichten, bat Henry um eine Gehaltserhöhung, welche sein damaliger Arbeitgeber mit der Kündigung quittierte.
Henry begann alsbald den Job als Bäcker, den er ursprünglich in seinem Heimatland gelernt hatte und arbeitete sich in wenigen Jahren mit viel Fleiß und Liebe zur Backkunst nach oben. Acht Jahre später besaß er seine eigene Bäckerei mit drei Angestellten. Ein Jahr darauf, Henry war unterdessen 32, Birgit 29 und Alex zählte schon stolze neun Lenze und ging in die dritte Klasse, erblickte Corinne Stéphanie das Licht zur Welt. Die Bäckerei lief zufrieden stellend und viele Freunde und Bekannte der Familie Chevalier rieten Henry, seinen Betrieb auszubauen und weitere Filialen einzurichten, was dieser jedoch niemals tat. Er lebte nach der französischen Gemütlichkeit.
"Wozu soll isch noch mehr Arbeiten? Es reischt doch zum Leben erforragend!", meinte er oftmals mit dem amüsierten Blick, welche den Gesprächspartner den Schalk im Nacken erkennen ließ. Oftmals schwang er zu diesen Worten einen Pastis oder hielt ein Glas Rotwein aus seiner Heimat in der Hand.
Im Alter von 44, 12 Jahre später, erlebte Henry seinen dritten Frühling und so kam Salomé Géraldine zur Welt. Unterdessen war der 21-jährige Alex schon seit zwei Jahren außer Haus. Er arbeitete zwar nebenbei in der Bäckerei seines Vaters, bewohnte jedoch ein Studentenheim in Zürich, wo er Jura studierte.
Die damals zwölfjährige Cory ging fleißig zur Schule. Sie wollte schon dazumal zur Kunstakademie.
Als Salomé zwei Jahre alt war, gönnten sich deren Eltern das erste Mal seit über zwanzig Jahren alleine Urlaub.
Bei einem Rundflug mit einer kleinen Fünfplätzer-Propellermaschine über der Bretagne mussten sie in ein Hochdruckgebiet geraten sein, welches die Maschine abfallen ließ. Wahrscheinlich stand der Pilot unter Alkoholeinfluss, so stand es jedenfalls in den Gerichtsakten. Der Flieger streifte eine Felswand, der Pilot verlor die Kontrolle und sie stürzten ab.
Die Folgen waren drei Tote und eine kleine Zeitungsanzeige auf Seite vier einer Boulevardzeitung.
Die Opfer waren der Pilot und das Ehepaar Chevalier. Ersterer hinterließ seine Stammkneipe, welche um ihn trauerte, letztere hinterließen drei Waisenkinder und eine florierende Bäckerei.
Cory, damals 14, übernahm das Haus und die Aufgaben einer Mutter, Alex blieb in Zürich, schickte jedoch nach seinem Abschluss als Anwalt, drei Jahre später, regelmäßig Geld. Die Bäckerei wurde verkauft, womit Cory und Salomé ein bescheidenes Vermögen ihr Eigen nannten. Neben dem Ersatzmutterberuf schloss Cory ihre Schule ab und machte einige Kurse in der Kunsthochschule. Da sie sehr begabt war, konnte sie von dem Ersparten, der Unterstützung durch ihren Bruder und den Verkäufen einiger Töpferwerke ein relativ gutes Leben führen, ohne Ihrer Schwester großen Luxus vorenthalten zu müssen.
Als die Geschwister Chevalier letzte Weihnachten zum ersten Mal gemeinsam im Haus ihrer Eltern feierten, eröffnete Alex seinen Schwestern, er werde ab März in der Nähe sein Domizil aufschlagen, da er in einer nahe gelegenen Anwaltskanzlei anfangen werde. Auf den Vorschlag von Cory, er solle sich doch im Haus seines Vaters niederlassen, schüttelte Alex den Kopf. Dieses Haus gehöre nun seinen Schwestern und er wolle sich nicht in ihr Leben einmischen.
Erst da wurde ihr klar, dass sie ihren eigenen Bruder nicht kannte. Sie liebte seine Großzügigkeit, sein Aussehen und seinen Stolz, welche sie an ihren gemeinsamen Vater erinnerte, dennoch verwirrte er sie. Sie hatte das Gefühl, nicht hinter seine Fassade schauen zu können. Als sie dies einmal einer Freundin erzählte, meinte diese nur ganz aufgeregt, man könne Männer nie ganz verstehen und wenn man es könne, so müsse er ein Langweiler sein.
"Petra, er ist mein Bruder" gab sie damals zu bedenken, was diese nur noch mehr zu erotischen Ausschweifungen anstiftete.
"Anscheinend muss ich euch mal miteinander bekannt machen", meinte Cory darauf.
"Es wundert mich sowieso, dass er mit 33 Jahren noch ungebunden ist. Ist das normal?"
"Vielleicht ist er schwul. Ja, stell ihn mir mal vor, dann wird es sich schnell zeigen, welche Neigungen er hat."
Heute, cirka drei Monate später, weiß sie, dass er nicht homosexuell war.
Sie wünschte sich, er wäre es gewesen.
Der Regen hat zugenommen. Unterdessen befindet sich der rote Mitsubishi auf der Autobahn. Die meisten Fahrer verfluchen zu diesem Zeitpunkt wohl die Gewitterschauer. Cory fühlt sich völlig ausgedörrt. Sie bringt es nur mit erheblichem Aufwand zustande, zu schlucken. Ihre Kehle fühlt sich an, als habe sie einen Sandkuchen zum Abendessen verzehrt. Dennoch erschrickt sie ein wenig, als sie bei der Schluckbewegung ein weinerliches Grunzen hört.
Ihr ganzes Selbstbewusstsein ist ins Schwanken geraten. Sie ist dabei, ihr ganzes Weltbild zu revidieren. Der Regen auf der Scheibe wirkt daher tröstend auf sie.
Er scheint nicht nur das Auto, sondern auch ihre Seele zu reinigen. Oder ist es der Schutz hinter dem Wasserkleid vor den Mitstreitern im Straßenverkehr?
Sie kann sich die Wendung in ihrem Leben noch immer nicht glaubhaft machen.
Immer und immer wieder spult sie den Film zurück und lässt ihn in Zeitlupe durch das Kino ihrer Schädeldecke abspielen.
"Salomé, bist du im Zimmer?"
Freudestrahlend rannte Alex die Treppenstufen hoch. Um seinen langen Beinen gerecht zu werden und um die Geschwindigkeit zu beschleunigen, nahm er jeweils zwei Stufen gleichzeitig. Sie selbst folgte ihm langsam. Alex stand vor der verschlossenen Türe ihrer Schwester und klopfte.
"Salomé, Darling, mach bitte auf. Wir wollen doch zusammen in den Tierpark fahren." Cory drängte sich zwischen Alex und die Tür, um diese zu öffnen.
Erfolglos. Irritiert lugte sie ihren Bruder an und schüttelte leicht den Kopf.
"Sie mag in letzter Zeit schon sonderbar sein, doch ihr Zimmer abgeschlossen - das hat sie noch nie."
"Ach, Kinder, du weißt ja, wie die sind! Lass ihr ihre Flausen."
"Salomé? Schätzchen, was ist denn los? Mach doch bitte die Türe auf"
Als Cory sprach, wurden Geräusche im Zimmer hörbar. Nach einer Weile drehte sich der Schlüssel. Als Cory eintrat, war das Kind bereits wieder auf dem Weg zum Bett. Sie trug ihr Nachthemd zusammen mit einem paar Trainingshosen.
Sofort legte sie sich hin und zog die Decke bis ans Kinn.
"Ich muss schlafen, ich habe Fieber."
"Lass mal sehen, Schatz." Cory setzte sich zu Salomé aufs Bett und legte die rechte Hand auf ihr Gesicht. Leicht erwärmt, ja, jedoch nicht sehr stark.
Vielleicht etwas Temperatur, aber bestimmt kein Fieber.
"Soll ich dir Tee kochen? Du musst viel trinken, wenn dir nicht wohl ist."
"Nein, nein, schon gut. Ich schlafe jetzt, dann geht es mir morgen besser."
"Wie du meinst, mein Schatz." Sie betrachtete ihre tonbehafteten Hände mit leichter Scham.
"Soll ich dir noch etwas bringen oder soll Alex bei dir bleiben?"
Salomé blickte von der Decke hoch zum Eingang, wo Alex noch immer stand, ließ sich wieder ins Kissen fallen. Sie schüttelte den Kopf.
"Ist schon okay. Geht nur."
"Aber Salomé, wir wollten doch ..."
Cory drehte sich zu ihrem Bruder um und unterbrach ihn mit einem viel sagenden Blick. Sie stand auf, löschte das Nachttischlämpchen, ging an Alex vorbei und zog ihn mit sich in den Flur. Leise schloss sie die Türe hinter sich.
"Komm, wenn sie sich nicht gut fühlt, dann lassen wir sie besser alleine. Morgen geht's ihr besser. Ihr könnt dann noch immer in den Zoo fahren!"
"Ja, in den Zoo schon, die Einkaufspassagen haben aber sonntags geschlossen!"
Alex sah aus wie ein Trotzkopf. Cory hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und ihm die Haare verwuschelt. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Dachgeschoss zu ihren Töpferarbeiten.
Während sich Cory wieder ihrer Töpferscheibe zuwandte, saß Alex auf einem Schemel und bewunderte erneut ihre Begabung. Nach einer halben Stunde verabschiedete er sich, da er sie in ihrer Muse nicht stören wollte.
"Wir gehen heute Abend aber trotzdem essen, oder? Du wolltest mir doch diese Petra vorstellen. Wann soll ich vorbeikommen?"
"Ach, ich kann doch Salo nicht alleine lassen, wenn es ihr schlecht geht.
Komm doch gegen acht vorbei. Bis dahin sollte Petra hier sein. Du bist mir doch nicht böse, wenn ihr ohne mich essen geht, oder?"
"Du bist eine Hexe, erst willst du mich mit deinen Freundinnen verkuppeln und dann muss ich das ganz alleine durchstehen."
"Ich bin euch nur im Weg, freue dich doch, dass ich nicht als fünftes Rad am Wagen mitfahre."
"Ein Wagen ohne Steuerrad ist nicht lenkbar, wir sind also auf ein fünftes angewiesen."
"Lass' dich von deinen Gefühlen steuern, dazu brauchst du mich nicht"
"Du meinst doch wohl eher von meinen Trieben?"
"Oh, nein, Brüderchen, dafür ist Petra zuständig. Sie hat die Triebe der Männer vollkommen im Griff!"
"Du siehst, du bereitest mir eine Heidenangst. Komm doch mit."
Cory drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihm um.
"Nein, Alex. Das kann ich Salomé wirklich nicht antun."
"Na gut. Dann bis acht Uhr. Aber wenn Petra zu aufdringlich wird, dann schreie ich nach der Feuerwehr, damit sie uns mit einem Eimer Wasser trennt."
"Du bist wirklich ein komischer Mann. Die meisten Männer wären begeistert, wenn ich sie mit Petra verkuppeln würde."
"Du gibst also zu, mich verkuppeln zu wollen?"
"Ich bekenne mich schuldig. Nun geh schon, sonst hast du keine Möglichkeit wieder zu kommen!"
"Weil ich noch da wäre, ich weiss. Nun gut, dann bis später. Gib Salomé einen dicken Kuss von mir."
Es war erst zwei Wochen her, als er zum zweiten Mal seit dem Tod ihrer Eltern vor ihr stand. Am vergangenen Weihnachtsfest besuchte er sie zum ersten Mal. Vorher standen sie unter regem Briefwechsel bei Weihnachten und an Geburtstagen. Hin und wieder auch unterm Jahr. Er schrieb schöne Briefe, voller Leidenschaft und Liebe, erzählte von Erlebnissen während seiner Studienzeit und Geschichten aus dem Alltag eines Juristen. Eigentlich sollten solche Erzählungen langweilig sein. Er schmückte sie jedoch mit einem solchen Charme, dass es jedes Mal eine Freude war, Post von Alex zu erhalten.
Zufrieden wendete sich Cory wieder ihrer Töpferarbeit zu und versank voller Begeisterung in ihre Arbeit, bis das Meisterwerk vollbracht war. Wie viel Zeit war wohl verstrichen? Stunden? Nur Minuten? Cory wusste es nicht. Sie betrachtete ihre Vase und war zufrieden. Sie merkte wie ausgedorrt ihre Kehle war, drehte sich deshalb voller Elan und mit einem Summen auf den Lippen zum Wasserglas um und stieß mit dem rechten Bein an das Tischchen. Das Glas fiel zu Boden und zerbarst.
"Scheiße", murmelte sie, verlor jedoch ihre Gemütsverfassung nicht. Noch immer summend stand sie auf und begab sich nach unten in die Küche. Als sie gerade das Glas gefüllt hatte und einen Schluck daraus trank, glaubte sie Stimmen aus dem Zimmer ihrer Schwester zu vernehmen. Leicht verwundert schlich sie zu ihrem Schlafraum. Die Tür war angelehnt.
Da sie ihre Schwester nicht wecken wollte, öffnete sie die Türe so leise, wie nur möglich.
Beinahe wäre ihr ein Schrei entwichen, als sie das Unglaubliche sah:
Sie sah sich.
Sie sah sich im Bett ihrer Schwester. Sie war nicht deutlich zu erkennen, da die Jalousien zugezogen waren. Ihr Bruder Alex saß mit heruntergelassenen Hosen auf ihr. Sie wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Erst jetzt hörte sie das leise und beruhigende Murmeln ihres Bruders.
"Ich habe dich so lieb. Du bist mein größter Schatz. Warum musst du mich immer wieder verführen? Warum nur? Papa hat dich lieb. Sei ein braves Mädchen. Cory soll nicht böse auf dich sein. Cory würde dich in ein Heim für böse, ... böse Mädchen stecken. Das wollen wir doch nicht, oder? Wir wollen Cory doch nicht wütend machen, oder? Du bist ein braves Mädchen."
Jeden Satz flüsterte er stoßweise hervor, während er in Cory eindrang.
Nein, nicht Cory, Salomé. Natürlich. Das war Salomé, welcher gerade Gewalt angetan wurde. Cory stand an der Türe und war Zeugin. Dennoch kam es Cory vor, als liege sie unter ihrem Bruder. Sie hörte die besänftigenden Worte direkt über sich. Sie roch seinen Atem. Spürte seine Worte an ihrem Ohr, während er hart in sie eindrang. Der Schmerz stand in keinem Verhältnis zu seinen tröstenden Worten. Cory wimmerte. Nein, eben nicht Cory, es war ihre Schwester, es war Salomé, welche sie wimmern hörte. Sie selbst flennte zwar auch, merkte jedoch erst jetzt, dass sie die geballte Faust an den Mund gedrückt hatte.
Von ihrer Seite war scheinbar kein Ton zu hören oder es war im Einklang mit dem Schluchzen ihrer Schwester.
In ihrem Schock wich sie langsam zurück. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Das kann nicht sein.
Im Dachzimmer angekommen, stellte sie das Wasserglas sanft, fast liebevoll an den Platz seines Vorgängers. Es war ein Wunder, dass es bei der schrecklichen Entdeckung kurz zuvor nicht ebenfalls zu Bruch gegangen war. Nachdem sich Cory von dem Trinkgefäss entledigt hatte, kauerte sich in die Ecke. Sie zitterte am ganzen Leibe. Noch immer sah sie sich unter ihrem Bruder liegen und hörte sich innerlich schreien.
"Ich bin schuld. Ich darf nichts Mamman erzählen. Sie steckt mich in ein Internat. Ich bin ein liebes Kind, ich darf Mamman nicht wütend machen."
Wieso tauchten diese Bilder auf? Litt sie so stark mit ihrer Schwester?
Wahrscheinlich.
Doch warum sprang sie ihrer Schwester nicht zu Hilfe? Ihr Herz raste. Wieder hatte sie ein Summen auf den Lippen. Ein Summen, das aus tiefster Kehle kam. Diesmal war es nicht "I just call to say I love you", diesmal war es ein Singsang, welches keinerlei Melodie in sich zu bergen schien. Das Wimmern war ein Lied von Panik, Angst und Trauer. Ein Lied, das Eis zum Schmelzen brachte. Noch immer biss sie auf ihre Faust. "Warum habe ich Salomé nicht geholfen? Warum habe ich diesen Bastard nicht von ihr heruntergezerrt?"
Ihr ging durch den Kopf, dass sie es noch immer tun konnte. Ihre Beine und ihr Gesäß schienen jedoch das Gewicht eines Ozeandampfers an Land zu haben.
Wie ein Orca, welcher sich durch sein eigenes Körpergewicht erdrückt, sollte er auf die dumme Idee kommen, einen Ausflug aufs Land zu unternehmen. Sie war zu keiner Bewegung außer dem Zittern fähig, welchen ihren ganzen Körper unter Strom setzte.
Stunden vergingen. Der Bastard musste längst gegangen sein. Er hat das Haus beschmutzt. Die Ehre ihrer Eltern besudelt.
Um acht schrillte es an der Haustüre. Das musste er sein. Alex wollte sein Rendez-vous einhalten. Seine Familie - ihre Familie noch mehr beschmutzen.
Wahrscheinlich würde er mit Petra nicht weniger zimperlich umgehen.
"Hallo? Hallo, ist jemand zu Hause?" Petra kam mit Gepolter die Treppe herauf.
Mühsam und noch immer zitternd kämpfte sich Cory auf ihren Drehstuhl. Ihre Beine waren noch immer zu schwach, um sie tragen zu können.
Just in dem Moment, als Petra in ihr Zimmer trat, schien sich Cory wieder zu fangen.
"Ach, da bist du, hy Cory." Ihr Blick fiel auf die Vase. Sie schlug die Hände vor den Mund. "Mein Gott, ist die schön. Das ist wohl das schönste Gefäß, welches du jemals getöpfert hast. Ich wusste immer, dass du begabt bist, doch so etwas. Darf ich sie mal anfassen?"
"Hau ab, renn um dein Leben, der Schweinehund ist schon auf dem Weg hierher. Er will dich. Er hat schon Salomé Gewalt angetan. Jetzt will er bestimmt auch dich vergewaltigen", wollte sie ihrer Freundin anschmettern. Bestimmt hätte diese Cory für ein törichtes, kleines Ding gehalten. Der herzensgute Alex, voller Witz und Charme konnte wohl kaum jemals so etwas unsagbar Schreckliches tun. Sie hörte sich selbst reden, als wäre sie gar nicht sie selbst, als wäre sie zu Gast bei einer unglaublichen Inszenierung.
"Nein, bitte Petra, die Vase ist nicht trocken. Ich muss sie erst noch brennen. Du, tut mir Leid, Alex kann heute nicht kommen. Er musste dringend weg. Ich glaube, ein Klient hat ihn gerufen. Er lässt sich entschuldigen und meint, dass er die Verabredung gerne ein andermal einhalten wird."
"Ach, wie schade, und ich habe mich so auf diesen Mustergatten gefreut!"
Mustergatte, dass ich nicht lache. Tatsächlich stieg ihr ein Aufflackern eines Lachers aus ihrer Kehle. Dieser barg jedoch keinerlei Fröhlichkeit.
"Bist du sicher, dass er nicht doch noch kommt? Ich will wieder mal einen richtigen Mann haben."
Wieso schaffte es Petra immer wieder, das Falsche zu sagen? In diesem Moment hasste sie Petra. Sich selbst hasste sie noch viel mehr, da sie Petra die Schuld für das verpfuschte Leben ihrer Schwester gab.
Sie, Cory war schuld.
Sie hatte diesen Unhold nicht von seiner Schwester gezerrt.
Sie hatte ihn einfach gewähren lassen.
Ihre Bühnenstimme sprach weiter, um die Szene zu beenden.
"Bitte, Petra, geh' jetzt. Mir ist nicht gut und ich habe noch viel Arbeit."
"Kann ich dir denn nicht etwas zur Hand gehen? Dann bist du viel schneller fertig und wir können doch noch zusammen essen gehen. Was meinst du?"
Warum musste sie jede Szene künstlich am Leben erhalten?
"Petra. Bitte!"
Scheinbar waren diese dominanten Worte doch etwas theatralischer, denn sie zeigten ihre Wirkung. Ihre Busenfreundin plapperte zwar noch weiter, verließ jedoch die Bühne der Tragödie.
In jedem, noch so dümmlichen Bauernschwank, ist es Tradition, wenn jemand die Bühne verlässt, tritt sofort ein neuer Akteur auf. Diesmal war der Schauspieler der Teufel in der Gestalt ihres Bruders. Ihr war nicht nach Applaus, Lachen und Klatschen zumute. Dieser Akt wurde ebenfalls mit einem Läuten an der Haustüre eingeleitet.
Auch in diesem Fall öffnete niemand die Türe. Auch dieser Gast verschaffte sich seinen Zutritt ohne Pförtner. Er meldete sich mit einem netten, sonoren "Hallo" an. Cory hörte ihn die Treppe heraufpoltern. Wie konnte sie vor wenigen Stunden noch so leise die Stiege herab und nachher wieder heraufgekommen sein? Hätte er sie bei seiner Tat nicht auch hören sollen?
Cory sass noch immer auf ihrem Drehstuhl, als Alex eintrat. Sie blickte auf ihre Vase, sah sie jedoch nicht.
"Hallo, Schwesterherz. Ist deine Freundin schon da? Du siehst wirklich bezaubernd aus. Bist du sicher, dass du nicht mit uns mitkommen willst?" Ihr Bruder streckte Cory ein paar Tulpen hin und zeigte ihr sein bezauberndstes Lächeln.
Noch immer starrte sie auf das Tongefäß. Leise sprach sie langsam aus einer kratzenden Kehle.
"Warum. Warum nur?"
"Warum du mitkommen sollst?", sprach Alex im munteren Plauderton. "Na, das weißt du doch, ich habe Angst vor deiner Freundin. Ich hatte schon immer Angst vor der Frau, dem fremden Wesen. Darum bin ich Single! Aber du kannst mich bestimmt beschützen." Er streckte die Hand nach ihr aus, als wollte er sie zum Tanz auffordern. "Komm mit, Süße, das wird bestimmt ein bezaubernder Abend. Du hast dir etwas Entspannung verdient!"
Noch immer in dieser kehligen Stimme fuhr sie fort, als habe sie seine Worte nicht gehört "Sie ist deine Schwester, wie konntest du ihr das nur antun?"
"Schwester? Wovon sprichst du?" Er spielte gut. Plötzlich zeigte er dem imaginären Publikum ein Geistesblitz.
"Ah, hat Salomé etwas erzählt? Was hat die Kleine sich nur wieder ausgedacht?"
Er lächelte, ein perfekter Schauspieler
"Du hast ja gesagt, sie wäre in einem schwierigen Alter. Nur Flausen im Kopf. Ich werde mal mit ihr reden."
So ruhig und überlegt wie ihre Stimme war, drehte sie sich zu ihm hin.
"Ich habe euch gesehen. Du Bastard lässt sie in Ruhe. Von wegen, sie kommt in ein Heim. Du gehörst in den Knast, du elender Hurensohn. Wie konntest du nur? Sie ist deine Schwester."
Sie rechnete damit, Entrüstung, Wut und Scham in seinem Gesicht zu finden.
Es erschreckte sie zutiefst, als sie noch immer in die gute Miene, das charmante Lächeln blickte.
"Aber Kleines, sie ist doch nicht meine Schwester", erklärte er ihr, wie man einem Schwachsinnigen erklärt, wie man Legosteine aufeinander türmt.
Ihr verwirrter Blick schien ihn zu amüsieren.
"Nein, Liebes, du solltest es eigentlich besser wissen. Die anderen können es nicht wissen, die kennen mich nicht. Aber du, du solltest mich erkennen. Ich bin doch nicht euer Bruder"
Er sprach so liebevoll wie ein Opa eine Gutenachtgeschichte erzählt. Wobei diese Variante von Großvater sie zu sich winkte. Ein liebevolles Heranwinken, untermauert mit der hypnotischen Stimme, welche bestimmt schon viele Frauen in ihren Bann gezogen hat.
Verwirrt folgte sie seinem stillen Befehl, stand auf und machte zwei Schritte mit gummiartigen Beinen auf ihn zu. Sie schüttelte den Kopf. Sprach dieser Mann eine unbekannte Sprache? Ihr war die Stimme verwehrt. Wahrscheinlich war das auch besser so, was hätte sie schon sagen sollen?
Ihr verwirrtes Kopfschütteln und stumme Mundöffnen, was jeden Fisch vor Neid verstummen lassen hätte, deutete der Ex-Bruder als unausgesprochene Frage.
"Was, erkennst du mich wirklich nicht mehr? Ach, ja, du leidest unter Amnesie."
Er lachte auf: "Ich kann's nicht fassen. Sie ist noch immer mein kleines Mädchen."
Jetzt glich ihr Kopfschütteln einem japanischen Schwert, welches einer Pendeluhr gleich nach unten schwang. Noch immer kommunizierte sie mit nicht vorhandenen Fischen.
"Corinne, Salomé ist meine Tochter!"
Explosionsartig fand sie ihre Stimme wieder. "Das kann nicht sein. Wie solltest du Salomés Vater sein? Das ist doch idiotisch!" Sie trat noch einen Schritt näher und blickte mit Kampfesstellung an ihrem Bruder hoch.
"Oh, je m'excuse. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass auch du meine Tochter bist. Ich bin doch nicht Alessandre. Ich bin ich, Henry, dein Papa!"
Sie wich einen Schritt zurück.
"Das kann nicht sein. Papa ist mit Mamman in der Bretagne abgestürzt. Zudem bist du viel zu jung, um unser Vater zu sein."
"Mais, non, chérie. Klar, Mamman hatte einen kleinen Unfall. Nun, ich weiß nicht so recht, ob man Unfall sagen kann, wenn ein bisschen nachgeholfen wurde. Na egal, ich jedenfalls bin hier. Henry, dein Père!"
Die Aufforderung zum Tanz schien wohl nicht ganz ungerechtfertigt, sie machte wieder einen halben Schritt auf ihren Vater/Bruder zu.
"Man hat die drei Leichen gefunden. Zudem bist du zu jung, um unser Vater zu sein. Ach, hör doch mit diesem Scheiß auf, du kannst mich doch nicht für dumm verkaufen."
"Ja, man hat drei Leichen gefunden: Die des Piloten, die deiner Mutter und die Überreste deines Bruders. Ich saß nicht in der Maschine". Seine Stimme klang immer noch amüsiert. Den letzten Satz schien er fast zu singen.
"Wieso solltest du - wieso hätte Vater Mamman und seinen eigenen Sohn umbringen sollen?"
"Siehst du, du beginnst die Wahrheit schon langsam zu erkennen. Deine Mutter war eine bezaubernde Frau. Oh, ich habe sie geliebt, doch leider machte die Natur einen Fehler: Sie wurde alt! Du warst damals noch im richtigen Alter. Weist du nicht mehr, wie wir uns vergnügt haben? Leider hatte deine Mutter einen Verdacht über unsere Liebe. So musste sie gehen. Dein Bruder war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Er kam einmal in die Küche, als wir uns über dieses leidige Thema stritten. Er musste einfach zum Schweigen gebracht werden."
"Und warum hast du mich nicht umgebracht?"
Wie ein gütiger Nikolaus lachte der Mann in einen, nicht vorhandenen Bart.
"Chéry, das wollte ich doch. Doch dann bekamst du durch eine glückliche Fügung des Schicksals den Gedächtnisschwund! Dich zu töten war nicht nur ein gefährliches Risiko, sondern auch völlig unnötig. Das siehst du doch ein, oder? Nachdem ich die Propellermaschine, nun sagen wir, etwas nach meinen Vorstellungen umgebaut habe - dieses Wissen musste ich mir mühsam aus Büchern beschaffen, du glaubst gar nicht, wie anstrengend das ist, blieb ich zehn Monate in Frankreich. Da legte ich mich bei den Besten ihres Fachs unters Messer.
Ein Schnittchen da, ein Lifting dort, ein bisschen Farbe in die Haare und schon war ich 22 Jahre jünger und - et voilà, war ich Alessandre."
"Ich habe keine Amnesie!"
"Was weißt du noch aus deiner Kindheit, bevor wir - pardon", er lachte fröhlich, "bevor deine Mutter und dein Bruder zu Tode gestürzt sind?"
Sie versuchte sich zu besinnen, stellte jedoch fest, dass sie sich in der Tat an nichts erinnerte. Sie wusste noch, dass sie in die Kunsthochschule wollte und dass sie immer gerne malte, zeichnete und - natürlich töpferte aber das hätte auch nach ihrem 14. Geburtstag passiert sein können. Fakt war, sie erinnerte sich an nichts und ihr war das während der letzten zehn Jahre nie aufgefallen.
Vor Schreck über sich selbst trat sie wieder zurück, bis sie mit dem Fuß das hölzerne Stuhlbein berührte.
"Dann hast du Mama und Alex umgebracht, dich in ihn verwandelt und an seiner Stelle Jura studiert!"
"Mais, non. Non non non non." Wieder lachte er herzhaft. "Ich habe doch nicht studiert, das war Alex. Diese Tatsache kam mir zwar sehr gelegen um meine Abwesenheit zu erklären. Hast du dich über die Briefe gefreut?"
Als Henry/Alex keine Antwort bekam, fuhr er fort: "Ich bin in dieser Zeit über meinen Schatten gesprungen! Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, ein akzentfreies Schweizerdeutsch zu lernen? Dieser Dialekt hat es einfach nicht verdient, als Sprache definiert zu werden."
Cory wollte noch weiter zurückweichen, wurde aber vom Stuhl behindert, was sie zum Stolpern brachte. Mit einem rettenden Griff hielt sie sich an der Drehscheibe fest. Ein sanftes Blopp und die Vase fiel zu Boden. Cory kümmerte das nicht weiter. Die Drehscheibe, ihre Verbindung zur Normalität gab ihr den nötigen Halt.
"Ich habe, wenn ich nicht am Lernen war, in einer Bäckerei gearbeitet. Wie sagt man so schön? Ich habe unsere Brötchen verdient."
"Du hast unsere Familie auf dem Gewissen. Du hast uns geschändet. Warum? Warum bist du zurückgekehrt?"
"Aber Darling, du warst nach dem Tode von mir und deiner Mama tabu und Salomé war damals noch zu jung für mich. Ich musste sie doch erst reifen lassen. Das verstehst du doch. Darum habe ich euch das viele Geld geschickt. Und jetzt bin ich hier, um die Früchte zu ernten. Ich muss sagen, du hast deine Arbeit gut gemacht. Salomé ist wirklich ein bezauberndes Ding. Und sie ist bezaubernd wie ihre Mutter. Nur ist sie eben jünger. So, ich denke, wir haben genug Erinnerungen ausgetauscht. Wollen wir noch miteinander essen gehen, oder möchtest du deiner Mutter gleich nacheilen?"
Dieser Bastard sprach noch immer im Plauderton, als habe er gerade über den letzten Wetterbericht gesprochen. Galant, wie es nur Franzosen hinkriegen, stellte er die Tulpen in das Wasserglas, welches Cory gegen ihren Durst geholt hatte, jedoch nicht mehr benutzte und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
Cory ergriff die Scherben, welche die Vorgängerin der provisorischen Tulpenvase hinterlassen hatte, dankte im Gedanken ihrem Hang zum Chaos und schleuderte die messerscharfen Bruchstücke ins Gesicht ihres einstigen Vaters. Endlich verlor er sein arrogantes Lächeln, welches Cory bis zum Vormittag als charmant bezeichnet hätte. Henry gab einen Schrei von sich, während er mit den Händen sein Gesicht vergrub und beschrieb einen Halbkreis Richtung Kammertüre.
So schnell, wie nur irgend möglich, rappelte sich Cory an ihrer Drehscheibe hoch, hob die Platte ab und schlug sie ihrem Vater zwischen Hals und Oberarm.
Eigentlich wollte sie das Haupt ihres Peinigers treffen. Durch die Drehbewegung bot er Cory nur die Schulter zum Ziel. Mit einem weiteren Schrei fiel Henry/Alex zu Boden. Geistesgegenwärtig packte er sie mit dem gesunden Arm am Bein und brachte sie ebenfalls zu Fall. Kaum war die einstige Tochter, dann Schwester und nun wieder Tochter am Boden, schlug der Beschmutzer die Faust an Cory's Schläfe. Ein wilder Nebel fleckiger Dunkelheit machte sich breit und ihre Gedanken schienen wieder in den Zuschauerreihen zu verschwinden.
"Du musst wach bleiben", hörte sie sich selbst in ihrem Schädel brummen. "Wenn du nun ohnmächtig wirst, ist das dein Todesurteil"
Langsam wich die Dunkelheit. Ihr Vater schlug noch immer auf sie ein, jedoch nicht mehr so gezielt wie zuvor. Anscheinend hat sie ihn nicht schlecht getroffen. Er fluchte in seiner Muttersprache, wie ein alter Berserker.
Halb besinnungslos vor Schmerz robbte sie am Boden entlang unter den Tisch. Henry packte sie an den Beinen und zog sie zu sich zurück "Mais, non, junges Fräulein, so schnell kommst du mir nicht davon. Jetzt ist fertig gespielt. Jetzt machen wir ausnahmsweise einmal ernst!"
Der ganzen Länge nach wurde sie zu ihrem einstigen Bruder zurückgezogen. Plötzlich realisierte sie einen Schmerz in der Hand. Eine gebogene Scherbe, noch immer auf dem Boden liegend, schnitt ihre Hand auf. Mit einem blutigen Griff packte sie das Glasstück und als sie bei ihrem ziehenden Vater angelangt war, hielt sie die Waffe wie einen Dolch und stach es dem Bösewicht ins linke Auge.
Er gab einen markerschütternden Schrei zum Besten und hob abermals die Hände zum Gesicht. Diese Gelegenheit nützte Cory aus. Sie stach das Glas ununterbrochen in den Bauch, den Schritt und die Brust des Widersachers. Als der alte Herr schon lange nicht mehr schrie, stach sie noch immer wutentbrannt auf ihn ein. Sie sühnte ihre Mutter, Bruder, Schwester und natürlich auch sich selbst.
Der Regen fällt schwer, er hat noch mehr zugenommen. Noch immer wischt sie sich die Tränen vom Gesicht. Sie kann nicht glauben, wie gut sie mit der Situation zurecht gekommen ist. Nachdem sie ihren Vater - unterdessen hat sie diese Tatsache akzeptiert - wie ein Schwein abgeschlachtet hat, ging sie duschen. Der Wasserstrahl vermochte zwar nur ihre Haut, nicht aber ihre Seele zu reinigen. Danach kleidete sie sich neu (die alten Sachen waren voll von eingetrocknetem Ton und Blut) und ging ins Zimmer ihrer Schwester.
Sofort hörte sie das Wimmern ihrer Ziehtochter, obschon diese die Decke über den Kopf gezogen hatte.
"Liebes, es ist alles gut", sprach sie, während sie sich auf ihr Bett setzte.
Sie streichelte das Haar, welches aus der Decke hervorlugte "Es ist alles in Ordnung, Salomé. Das Geschwür in Menschengestalt wird dir nichts mehr zu Leide tun. Komm, sei ein braves Mädchen und zieh dich an."
"Ich bin schuld. Ich weiß es. Du bringst mich jetzt in ein Erziehungsheim. Ich bin an allem schuld".
"Dich trifft keine Schuld. Er hat sich an dir vergriffen. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Er wird dir nie wieder etwas zuleide tun, versprochen. Komm, zieh dich an."
Langsam nahm Salomé die Decke von ihrem Gesicht und schaute ihre Schwester in die Augen, um darin die Wahrheit zu suchen. Anscheinend glaubte sie der warmherzigen Stimme und den traurig blickenden Augen. Sie zog die Decke ganz weg und vergrub ihr Gesicht an der Schulter ihrer großen Schwester. Sie schluchzte eine Ewigkeit bevor ihre Tränen versiegten. Danach war sie befreit genug, ebenfalls ein Duschbad zu nehmen und sich umzuziehen. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, brachte Cory ihre Schwester zur Nachbarin, damit diese auf Salomé aufpasste. Am liebsten hätte Cory ihre Schwester zu Petra gebracht, dies hätte jedoch zu viele Fragen gestellt.
Cory glaubte kaum, ein Auge schließen zu können, döste jedoch aus Erschöpfung sofort ein, kaum hatte sie sich zu Bett gelegt.
Heute Morgen packte sie die Leiche ihres Bruder/Vaters auf den Beifahrersitz, schnallte diesen ordnungsgemäß an, setzte sich hinters Steuer und fuhr los.
Der Weg zur Autobahn ist steil. Sie weiß nicht mehr, wie lange es her ist, als sie die Hauptstrasse verlassen hat. Der Scheibenwischer vermag nicht mehr mit der Fülle des Regens fertig zu werden.
"Ich werde ihn vergraben. Irgendwo hinterm Haus. Bei diesem Wetter ist der Boden weich und niemand wird uns sehen" geht es ihr durch den Kopf, als sie ein Stöhnen von der Beifahrerseite hört. Ruckartig wendet Cory ihr Haupt zu dem Toten. Ein weiteres Stöhnen dringt aus dem Mund ihres Vaters und er hebt leicht den Kopf. Der Schreck erfasst ihre Glieder und sie tritt voll aufs Gaspedal. Links geht's steil bergab, rechts ist die Anhöhe. Die Kurve rast auf sie zu. Sie ist viel zu schnell. Mit vollem Tempo fährt sie in die Leitplanke, welche nicht für diese Kraft konstruiert wurde.
"Ich habe es geschafft", geht es ihr durch den Kopf. Ihr muss klar geworden sein, dass sie das Aufleben des Mörders und Familienschänders nur eine Illusion gewesen ist.
"Ich wusste, dass ich es tun werde" sind ihre letzten Gedanken, welche sie auf dieser Welt hat. Sie lacht irre.
Der rote Mitsubishi überschlägt sich. Wie ein Kunstspringer fliegt das Auto die Felswand hinab.

Aus einem regionalen Tagblatt, Sonntag, 14. März:
TOT DURCH REGENSCHAUER
Gestern früh kam es zu einem Unfall auf der Bergstrasse zwischen Chur und Arosa. Ein roter Kombi stürzte ca. 30 Meter ins Tal und fing Feuer. Für die Insassen, der jungen Lenkerin C.C. (24) und deren Bruder A.C. (33) kam jede Rettung zu spät. Wie die Polizei auf Anfrage erklärte, wird ein Tötungsdelikt oder Suizid ausgeschlossen. Das Fahrzeug war zum Zeitpunkt des Unfalls mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Die Opfer wurden von S.C.*(14), der Schwester der Verunfallten, identifiziert.
*Namen der Redaktion bekannt


Eingereicht am 25. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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