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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Luise
© Lu Falckenbach
Luises Hand wanderte in das Spirituosen-Regal. Heraus nahm sie eine Flasche Wodka, den Billigsten. Die Frau, die neben ihr Wein aussuchte, sah sie nur kurz und mitleidig an. "Ich bin keine Alkoholikerin!" hätte Luise sie am liebsten angeschrien, doch seit dem gestrigen Tag schwieg sie. Gestern Abend hatte ihr Freund Gedouard sie verlassen; und Luise wusste: Sie war Schuld daran! Auch wenn sie wollte, sie sah keine Chance mehr Gedouard zurückzugewinnen. "Du bist süchtig nach Jugend, du willst um
jeden Preis jung sein!", hatte er ihr vorgeworfen. ‚Wie konnte diese Beziehung nur so enden?', fragte sich Luise. Vor fünf Jahren hatte sie Gedouard im Theater kennen gelernt. Er war damals Statist, verdiente sich neben dem Studium ein bisschen etwas dazu, während Luise am Theater eine Festanstellung hatte.
Recht schnell kamen sie zusammen, doch je älter Luise wurde, desto mehr nahmen die Probleme in der Beziehung zu. Zuerst färbte sie nur ihre grauen Haare weg, dann begannen sich die Anti-Falten-Crémes im Badschränkchen zu stapeln. Immer mehr kümmerte sich Luise darum jugendlicher zu wirken; so lange bis Gedouard der Kragen platze. Das war gestern Abend. Heute wusste sie, sie hätte auf ihren Bruder hören sollen, der ihr immer wieder gesagt hatte: "Gedouard ist wichtiger, als die Anti-Falten-Creme."
Luise bezahlte ihren Wodka und machte sich auf den Weg nach Hause. Heute Morgen hatte sie sich schon bei einem Arzt Schlaf- und Schmerztabletten verschreiben lassen. Ein bisschen war sie schon stolz darauf, dass der Arzt nichts gemerkt hatte, als sie über Schlaflosigkeit und Magenschmerzen klagte. Die Wohnung war leer, es schmerzte Luise, dass Gedouard nicht wie üblich vor seinem Computer saß und arbeitete; dass Jazz nicht voll aufgedreht das Wohnzimmer zum Vibrieren brachte. Es begann zu dämmern und Luise zündete
einige Kerzen an. Sie ging ins Badezimmer, suchte nach einem geeigneten Badezusatz und ließ sich ein Bad ein. Die Kerzen nahm sie mit und stellte sie um die Badewanne herum. Langsam schlüpfte sie aus ihrer Kleidung, band sich das Handtuch um ihren Körper und holte sich aus der Küche den Wodka und die Tabletten. Ihre Hände zitterten; sie hatte etwas Angst vor dem Schritt, den sie heute gehen wollte, aber sie sah keine andere Lösung mehr. Einige Zeit später hatte sie es geschafft alle Tabletten aus den Hüllen zu
drücken; ein kleiner Berg häufte sich in ihrer Hand. Wie sollte sie die alle auf einmal hinunterbringen? Das schien unmöglich. Sie teilte die Tabletten in kleine Portionen auf und schluckte sie nacheinander immer mit einem großen Schluck Wodka. Glücklicherweise schmeckte sie den Wodka kaum, das war das Gute daran; so wurde ihr wenigstens nicht übel, wie sonst immer, wenn sie Alkohol trank. Als keine Tabletten mehr übrig waren, legte sie sich in die Badewanne. Sie genoss die Wärme um sich herum, während sie einschlief.
Ihre Gedanken schweiften in die Ferne. Die Zeit mit Gedouard zog in ihren Erinnerungen vorbei. Wie sehr sie ihn doch liebte, wurde ihr erst jetzt bewusst. Als er ihr damals bei einem Spaziergang im Englischen Garten seine Liebe gestand, mit hochrotem Kopf und nervös, dass er nicht mehr flüssig reden konnte. Der erste gemeinsame Urlaub, in Kanada, drei Wochen in einer abgelegenen Blockhütte, nur Gedouard und sie. Das alles hatte sie weggeworfen, als wäre es nichts gewesen; als wäre es selbstverständlich, dass
jemand das für sie tat. Jetzt, im schläfrigen Rausch, fiel es ihr auf, wie dumm sie gewesen war. Was sollte sie mit Jugendlichkeit, wenn sie dafür alles einbüßte? Gedouard wendete sich von ihr ab, ihr Bruder besuchte sie schon gar nicht mehr um den Diskussionen um Schönheit aus dem Weg zu gehen.
Sie war allein! Plötzlich begann sich Luise schön zu fühlen, ihre Falten und ihre grauen Haare als einen Beweis zu sehen, dass sie lebte, dass sie ein erfülltes Leben führte. Plötzlich war Luise glücklich.
"Ich kann jetzt nicht sterben!", schoss es ihr durch den Kopf. Krampfhaft versuchte sie ihre Augen zu öffnen, sie zwang sich dazu in die reale Welt zurückzukehren, aus ihrem Tiefschlaf zu erwachen. In ihrem Körper war keine Kraft mehr, die Schmerz- und Schlaftabletten hatten ihre Gelenke und Muskeln gelähmt und taub gemacht. Sie wehrte sich zu sterben, doch sie fiel zurück in den Tiefschlaf.
Luise erschrak als sie das Licht sah. Es war so grell; sollte so wirklich das Licht aussehen, von dem Leute sprachen, wenn sie Nahtodeserlebnisse hatten? Langsam bewegte sie ihren Kopf, sie merkte wie steif ihre Gelenke noch waren. Sie konnte nicht tot sein; sie wollte nicht tot sein. In dem Moment hasste sie sich für das, was sie getan hatte.
"Luise...was machst du denn für Sachen?", sagte neben ihr eine sehr vertraute, sanfte Stimme.
Joseph, ihr Bruder, saß neben ihrem Bett.
"Joseph? Wo bin ich denn?"
"Im Krankenhaus. Du kannst von Glück sagen, dass dich Gedouard noch gefunden hat."
"Gedouard hat mich gefunden?"
"Ja, er wollte noch ein paar Sachen aus der Wohnung holen, weil er ein paar Nächte bei seinem Bruder schlafen wollte, da hat er dich im Bad gefunden."
"Wo ist er?", fragte Luise leise.
"Der ist grad frühstücken. Mensch ... was hast du dir nur dabei gedacht?"
"Gedouard hat sich doch von mir trennen wollen."
"Aber deswegen bringt man sich doch nicht gleich um."
Luise rannen Tränen über die Wangen auf das weiße Kissen unter ihrem Kopf. Joseph unterdrückte es, ihr zu erzählen, dass die Wirkstoffe so gering waren, dass die Tabletten sie keineswegs umgebracht hätten. Er fand, ein kleiner Dämpfer täte ihr durchaus gut. Lautlos öffnete sich die Tür zu Luises Zimmer. Gedouard betrat den Raum.
"Ich geh dann mal...", meinte Joseph und ehe Luise etwas sagen konnte, hatte er das Zimmer schon verlassen.
"Luise, was sollte das denn werden?"
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
"Es tut mir so Leid ..."
"Das hoffe ich.", meinte Gedouard fordernd. Dann begannen seine Augen zu lächeln. "Aber so wie es aussieht, hast du doch was gelernt."
Luise nickte schwach: "Ich war wirklich dumm. Irgendwie hab ich nie verstanden, was du mir immer gesagt hast."
"Dass es darauf ankommt, wie alt man in der Seele und nicht in der Geburtsurkunde ist."
Sie lächelte.
"Du siehst gut aus. Zufrieden...", sagte Gedouard, während er sich zu Luise auf's Bett setzte.
"Ich bin's auch. Der Streit hatte doch sein Gutes. Hat wohl doch alles seinen Sinn." Sanft legte sie ihre Hand auf die Seine.
"Bleibst du bei mir?"
"Natürlich", flüsterte Gedouard.
Eingereicht am 17. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.