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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ich schenke dir Zeit

©  Rosemarie C. Barth

Jeffrey Lind saß am Schreibtisch im Arbeitszimmer und blickte aus dem Fenster. Nur einen Steinwurf entfernt lag eine duftende Wiese. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie ihm den Kalender ersetzt. Im Frühjahr blühten die Krokusse, Anfang April war der Südhang gelb von Himmelschlüsselchen und ab Mitte April schien sich die Natur in ihrer Farbenpracht zu überschlagen: Rotklee, Wiesenschaumkraut, Korn- und Butterblumen, Schafgarbe, Jungfer im Grünen - er kannte diese Pflanzen alle.
Heutzutage war nicht mehr die Natur sein Kalender, sondern ein in beigefarbenes Ziegenleder gebundenes Buch, sein übervoller Terminkalender.
Heut nahm er nicht mehr wahr, ob Blumen auf der Wiese blühten oder Schafe weideten. Nun war er der viel beschäftigte Manager eines großen Marketingunternehmens. Geschult in Seminaren, die ihm ständig einhämmerten, dass er nicht mit seiner Frau Isabella, sondern mit der Firma verheiratet sei. Isabella! Als hätten seine Gedanken sie herbei gezaubert, stand sie plötzlich vor ihm. Sie war ungeschminkt und trug einen Bademantel. Aber sie war wunderschön. Ihr Haar glänzte im halbdämmrigen Schein der Schreibtischlampe, und ihre meerblauen Augen sahen sehr zärtlich aus.
"Schatz, willst du nicht ins Bett kommen? Morgen ist doch auch noch ein Tag."
"Gleich Isabella, ich muss mich noch auf die Werbekonferenz für morgen vorbereiten, und dann ..."
Sie setzte sich auf seinen Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund. "Morgen am Abend hast du aber Zeit für mich, nicht wahr Schatz?" Sie lächelte geheimnisvoll.
Morgen? Morgen? Er blätterte in seinem Kopf herum wie in einem Notizkalender. Morgen zum Abend? Da war doch was? Ach ja, klar - das wichtige Geschäftsessen.
"Ich fürchte nein, Isabella. Da ist das Essen mit Felix und Gerd Lehmann. Du, da hängt einiges von ab. Du verstehst schon, hm?"
Offenbar verstand sie nicht. Das liebe Lächeln und ihre glutvollen Augen waren plötzlich erloschen. Sie war auf einmal sehr weit weg von ihm entfernt. "Ist schon gut", antwortete Isabella. Ihre helle Stimme klang fremd. "Ja, ja ist schon gut." Enttäuscht zog sie sich ins einsame Schlafzimmer zurück.
Das Telefon klingelte. Jeffreys Sekretärin war in der Leitung. "Haben Sie an den Hochzeitstag gedacht, Herr Lind?", fragte sie.
"Hochzeitstag?" Er starrte auf den Telefonhörer so erstaunt an, als hätte er ihn erstmalig gesehen. "Hochzeitstag?", fragte er wieder, als wäre dieses Wort für ihn etwas Unbegreifliches.
"Ja, Herr Lind! Ist doch nur gut gemeint." Marianna Flugemann kannte ihren Chef genau und wusste, wie vorsichtig man ihn von der Arbeit weg zu den trivialen Dingen des Lebens führen musste.
"Morgen ist nämlich der 30. September, Herr Lind!"
Der 30. September? Ach, du lieber Gott im Himmel. Und er hatte natürlich kein Geschenk für Isabella.
"Sie sind wirklich ein Engel, Frau Flugemann."
"Ich weiß das", antwortete sie verschmitzt, "und ich soll gleich morgen früh ein Geschenk besorgen, der Preis spielt keine Rolle."
"Also, nun hört doch wohl alles auf! Woher wissen Sie, was ich eben sagen wollte?"
Sie entgegnete trocken: "Weil Sie es in den letzten Jahren auch so gesagt haben. Und soll ich auch für abends einen Tisch für Zwei bestellen?"
"Aber nein", in Jeffreys Stimme schwang eine leise Schelte mit, "ich habe ja schließlich das Geschäftsessen."
"Ich könnte doch Herrn Lehmann und Felix bitten, es auf den nächsten Abend zu verschieben, hm?"
"Auf gar keinen Fall! Und nochmals recht vielen Dank, Frau Flugemann."
Genervt packte Jeffrey den Hörer auf. Das Thema Hochzeitstag war damit für ihn erledigt. Er wollte nicht mehr daran denken.
Vor allem aber wollte er sein Gewissen daran hindern, ihn in eine Falle zu locken, der er erst wieder entkam, wenn er dieses Geschenk selbst aussuchte und dann mit seiner Frau Isabella fein essen ging. Dazu fehlte ihm allerdings jegliche Zeit.
Dennoch die dunkelgrauen Rauchschwaden von viel zu vielen Zigaretten, die er im Laufe des Abends geraucht hatte, flossen immer wieder ineinander und wurden zu Isabellas traurig-sanften Augen, die ihn mehr und mehr nervös machten. Er begann in den Schubladen seines Schreibtisches zu kramen, nur um den Kopf senken und diesen Augen entgehen zu können. Doch irgendwie hatten sie sich auch in der Schublade versteckt. Und während er umherkramte, suchte und sich redlich mühte, den Fangarmen seines Gewissens zu entkommen, hielt er auf einmal einen Zettel in der Hand. Vier Worte standen darauf: "Ich schenke dir Zeit." Er wollte ihn eben in den Papierkorb werfen, als ganz andere Augen ihn ansahen. Die großen Augen seines Vaters. Jeffrey hielt inne, und allmählich kehrte seine Erinnerung zu ihm zurück. Anfangs leise, als sei sie noch unerwünscht, dann explosionsartig in all den herrlich bunten Farben seiner Kindheit.
Es war zu Weihnachten 1970. Zehn Jahre war er alt gewesen.
Er wohnte in einer Kleinstadt. Dort war es den Bürgern nur wichtig, Wohlstand und Seelenfrieden zu erreichen. Kritiken, peinliche Fragen und neue Ideen waren ebenso unerwünscht wie Arbeitslosigkeit. Und gerade in dieser Zeit verlor Vater Hubertus Lind seine Stellung. Zunächst nahm Jeffrey diese veränderte Lebenssituation kaum wahr. Seine Eltern taten ihr Bestes um den Familienalltag ebenso lebensfroh und unbeschwert zu gestalten wie bisher. Doch dann kam der heilige Weihnachtsabend. Der Tannenbaum war sehr klein, krumm und schief gewachsen. "Der war billig", erklärte Jeffreys Vater mit einem ebenso schiefen und traurigen Lächeln.
"Das macht doch nichts", erwiderte Jeffrey großzügig im sanften Alter von zehn Jahren. "Wo sind denn die Geschenke?", fragte er und sah sich suchend um.
Bis zu jenem Heiligabend hatte Jeffrey zu den Kindern gehört, die mit Geschenken überhäuft wurden. Darum konnte er es nicht fassen, als ihm sein Vater nur ein winziges Päckchen, so flach wie ein Briefumschlag, in die Hand drückte. "Hoffentlich freust du dich", sagte er leise, und seine großen Augen waren so traurig wie die von Isabella Jahrzehnte später. "Es ist alles, was ich dir heute geben kann."
Jeffrey riss das Geschenkpapier auf. Es war tatsächlich ein Briefumschlag. Oh, Geld, jubelte er innerlich. Geld! Noch nie hatte er eigenes Geld besessen. Sehr andächtig öffnete er den Umschlag, als wollte er den kostbaren Moment des Glücks noch ein wenig hinauszögern und hielt dann einen Zettel in der Hand. "Ich schenke dir Zeit", stand darauf. Wäre er älter gewesen, hätte er vielleicht die Angst, die Unsicherheit, die schlimme Trauer in den Augen seines Vaters zu deuten gewusst. So aber knüllte er den Zettel nur zusammen, warf ihm seinem Vater vor die Füße, stürmte in sein Zimmer und sperrte die Tür hinter sich zu. Was würden die anderen Jungs in der Schule sagen? Jawohl, auslachen würden sie ihn, mit den Fingern auf ihn zeigen, ihn verspotten, während sie selbst mit ihren kostbaren Geschenken prahlten.
Noch schlimmer aber war, dass Jeffrey jede Achtung vor seinem Vater verloren hatte. Er hörte jetzt die Nachbarn tuscheln. Er sah die seltsamen Blicke, die wohl heißen sollten: Seht mal den faulen Kerl an, schläft den ganzen Tag, während wir uns abrackern, damit es unseren Kindern gut geht. Und irgendwie gab Jeffrey diesen Leuten in solchen Momenten sogar Recht.
In den kommenden Wochen fühlte sich Jeffrey sehr allein. Er hatte seine Freunde und seinen Vater verloren, zumindest den Vater, den er verehrt und geschätzt hatte - weil ihn alle anderen auch hoch geachtet hatten, bis er arbeitslos geworden war.
Doch eines Tages ließ Jeffrey es mehr aus Langeweile zu, dass sein Vater mit ihm Fußball spielte. Der Ball war uralt, gehörte längst auf den Müll, aber er brachte es immerhin fertig, dass Jeffrey wieder mit seinem Vater sprach.
"Tor!", schrie er und "Faul!" und "Elfmeter!" Jeffrey holte mit dem Fuß aus, traf aber nicht den Ball, sondern das Schienbein seines Vaters. Er boxte, zwickte, schlug zu. Und das alles im Namen des Fußballs, und doch war es nichts als die Rache an dem, was sein Vater ihm mit seiner Arbeitslosigkeit angetan hatte. Irgendwann lagen sie im Gras. Jeffrey bearbeitete seinen Vater noch immer mit den Fäusten, sein Vater hielt still.
Aber als Jeffrey zu weinen begann, nahm er ihn in seine starken Arme. Bisher waren sie alles gewesen: Vater und Sohn, Lehrer und Schüler. Aber an diesem Sommertag wurden sie Freunde. Die Monate gingen vorbei und Hubertus Lind fand wieder eine Arbeit.
Der Weihnachtsbaum war groß und strahlend wie eh und je, und darunter lagen die Geschenke, die sich Jeffrey so sehnlichst gewünscht hatte: ein Fahrrad, eine Modelleisenbahn und einen Lederfußball. Doch er war nicht glücklich darüber, sondern fühlte sich plötzlich unendlich traurig. Denn das schönste Geschenk, das er jemals bekommen hatte, eines dessen Wert er erst nach und nach schätzen gelernt hatte, war nicht dabei. Das schönste Jahr seiner Kindheit war vorbei und die Zeit für ihn wieder zu dem geworden, was sie für viele andere von Menschen war: zu Geld!
Jeffrey griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. "Frau Flugemann, entschuldigen Sie die späte Störung. Sagen Sie bitte gleich morgen früh Felix und Gerd Lehmann ab. Bestellen Sie einen Tisch für Zwei. Und - ach ja, ich habe ein Geschenk für meine Frau. Nicht mehr nötig, dass Sie eins besorgen." Er legte auf und betrachtete den Zettel in seiner Hand. "Ich schenke dir Zeit". Vier einfache Worte nur, und doch waren sie kostbarer als alle Schätze dieser Erde. Es war das einzige und richtige Geschenk für eine Frau, die man über alles liebte und die den Mut gehabt hatte, einen Mann wie ihn zu heiraten.


Eingereicht am 14. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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