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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Weg

©  Elisabeth von Yorck

Du setzt einen Fuß vor den anderen. Deine Schritte sind gleichmäßig. Du wirst nicht schneller, aber auch nicht langsamer. Du hast bis jetzt deine Augen geschlossen gehalten. Denn du weißt, was dich erwartet, wenn du sie öffnest. Das gleiche Bild.
Das gleiche Bild, welches du vor einigen Stunden schon gesehen hast. Als du noch nicht deine Augen zu hattest. Es wird sich kaum etwas verändert haben, das weißt du. Weil du nichts siehst, nehmen deine anderen Sinnesorgane die Umgebung deutlicher wahr.
Du hörst das Meer rauschen, du fühlst, wie der Wind an deinen Haaren und Kleidern zerrt, du riechst den Meergeruch und schmeckst Salz auf deinen spröden Lippen. Du hast schon lange nichts mehr getrunken und auch nichts gegessen. Du hast seit einer Ewigkeit nichts anderes getan, als einen Fuß vor den anderen gesetzt.
Dir ist heiß und du schwitzt. Die Sonne brennt auf deinen nackten Schultern.
Auch fühlst du dich nicht wohl, du hast hämmernde Kopfschmerzen.
Du versuchst, nicht an den Schmerz zu denken. Du konzentrierst dich auf das Kitzeln des Sandes an deinen Füßen. Und tatsächlich, es klappt! Du empfindest das Pochen an deinen Schläfen nur noch als unangenehmes Kribbeln.
Zum ersten Mal an diesem Tag spürst du, wie das Meerwasser um deine Füße spült.
Die Flut. Du gehst trotzdem geradeaus weiter. Es kümmert dich nicht, dass das Wasser immer höher steigt, denn endlich hat sich die Umgebung ein wenig geändert.
Nun öffnest du die Augen. Du siehst kilometerweiten Strand. Und Wasser.
Es hat sich wirklich kaum etwas verändert.
Du läufst nun etwas schneller. Das Wasser plätschert jedes Mal, wenn du einen deiner Füße anhebst. Eine alte Plastikflasche, nicht weit von dir entfernt, wird von den Wellen an Land gespült. Dort wird sie liegen bleiben, bis sie von jemandem aufgesammelt wird. Du wendest deinen Blick von der Flasche ab und blickst über deine Schulter.
Es sieht so aus, als wärst du nicht vom Fleck gekommen, denn die Landschaft sieht noch immer gleich aus. Auch an deiner Spur im Sand kannst du nicht ablesen, wie weit du nun schon gelaufen bist. Die Flut hat sie unter sich begraben.
Auch dein Schatten ist derselbe geblieben. Er folgt dir, ohne auch nur für eine Sekunde von dir abzulassen. Du kannst dich drehen und wenden wie du willst, aber los wirst du ihn trotzdem nicht. Er hängt an dir wie eine Klette. Bald gibst du deine Versuche auf, ihn abzuschütteln und akzeptierst seine fortwährende Anwesenheit.
Langsam wird es kühler und es beginnt zu dämmern. Du freust dich schon auf das Abendrot. In deinen Beinen sticht es wie Messerstiche. Du bist erschöpft, läufst aber trotzdem weiter.
Plötzlich ändert sich die Gegend. Der weiße Sandstrand läuft in einen felsigen Küstenstrich aus.
Es wird nun immer schwieriger, voranzukommen. Die Steine türmen sich immer höher auf. Du wunderst dich. Vorhin, als du noch am Strand entlanggelaufen bist, hast du die vor dir liegende Veränderung der Landschaft gar nicht bemerkt. Und nun bist du schon mitten in ihr. Der Weg wird immer beschwerlicher. Deine Füße bluten und deine Beine zittern vor Anstrengung.
Trotz allem kletterst du weiter. Du blickst dich nicht um. Du willst nicht wissen, wie tief du fallen würdest, wenn du den Halt verlörest. Auch willst du das schöne Abendrot erst dann bewundern, wenn du den höchsten Felsen erreicht hast.
Du siehst das als eine Art Belohnung deiner Anstrengungen. Denn du freust dich ja schließlich schon lange auf den Sonnenuntergang.
Die Wellen brechen sich mit voller Wucht an den Felsen. Das Rauschen ist sehr laut. Die Gischt spritzt fast bis zu dir hinauf.
Die gewaltige Kraft des Wassers macht dir Angst. Du beschließt, dich nun doch umzublicken.
Das Erste, worauf du achtest, sind die hohen Wellen. Du atmest erleichtert auf. Sie würden dich hier oben nicht erreichen, um dich mit ins Meer zu reißen, da bist du dir jetzt sicher.
Nun willst du dir auch einen Blick auf das Abendrot gönnen, obwohl du ja entschlossen hattest, es erst zu betrachten, wenn du sicher oben angekommen bist.
Du denkst aber, dass du schon genug Strapazen auf dich genommen hast, dass du es dir leisten kannst, deinem Wunsch nachzugeben.
Doch bevor du deinen Blick von den Wellen lösen kannst, gibt plötzlich ein Stein unter dir nach und stürzt in die Tiefe. Er zieht dich mitsamt einer Steinlawine hinter sich her.
Du bist so überrascht, dass du nicht schreien kannst. Du wolltest doch nur den wunderschönen Sonnenuntergang sehen! Doch bevor du deinen Traum noch erfüllen kannst, prallt ein herabstürzender Stein genau auf dein Genick.
Dein lebloser Körper stürzt ins Meer und wird von den Fluten verschlungen.
Am Strand hat sich nichts verändert. Noch immer gibt es Ebbe und Flut.
Noch immer liegt dort die Plastikflasche.
Noch immer brechen sich die Wellen an den Felsen. Doch die Jahrtausend alten Steine zeigen eine Veränderung vor. Eine winzig kleine - aber sie ist da.
An einem Felsen kann man erkennen, dass dort einmal eine Steinlawine hinuntergestürzt ist.


Eingereicht am 14. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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