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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Wiedersehen
© Elisabeth Gräfin Yorck von Wartenburg
Er bahnt sich einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Er hat sie in der Nähe der Anzeigetafel gesehen. Er läuft schneller. Nur noch wenige Meter trennen ihn von ihr. Wie oft hatte er doch an sie gedacht!?
Endlich hat auch sie ihn entdeckt. Sie lächelt und kommt auf ihn zu.
Wenige Sekunden später findet sie sich in seinen Armen wieder. Er drückt sie fest an sich und würde sie am liebsten nicht mehr loslassen.
Seine Gefühle schwappen wie eine Welle über ihn, als er sie küsst. Wie lange hat er doch darauf warten müssen!
Er merkt vor Glückseeligkeit gar nicht, wie die Zeit vergeht. Schließlich drückt sie ihn von sich und ergreift seine Reisetasche. Er jedoch schüttelt den Kopf und nimmt den Koffer wieder an sich. Sie verlassen den Bahnsteig und laufen an den vielen Menschen vorbei zum Parkplatz. Dort steht ihr Auto.
Sie erzählt ihm, dass sie gerade noch einen Parkplatz erwischt habe und meint, dass es zu dieser Zeit sehr voll am Bahnhof sei, weil in nur wenigen Tagen das Stadtfest beginne.
Sie steigen ins Auto. Er schaut sie ununterbrochen an. "Wie lange musste ich mich doch nur mit ihrem Photo zufrieden geben", fragt er sich und betrachtet verträumt ihr langes, blondes Haar.
Sie kommen nur langsam voran. Die Straßen sind völlig überfüllt.
Sie fragt ihn, wie seine Zugfahrt gewesen sei. Er antwortet: "Gut", ohne seinen Blick von ihren vollen Lippen zu lösen.
Sie lassen das Gedränge hinter sich, als sie in eine Seitenstraße einbiegen.
Schließlich macht sie das Radio an, um die unangenehme Stille zu verdrängen.
Sie spürt seine Blicke.
Sie wird nervös. Es fällt ihr schwer, auf den Verkehr zu achten. Ihre Blicke wandern zum Handschuhfach. "Soll ich es wagen?", fragt sie sich und wirft ihm einen raschen Blick zu. Er schaut sie noch immer verträumt an.
Sie atmet tief ein und öffnet dann das Handschuhfach mit der Rechten. Heraus nimmt sie eine Zigarettenschachtel. Geschickt nimmt sie eine Zigarette mit nur der einen Hand hinaus und schiebt sie sich zwischen die Lippen, um sie gleich daraufhin anzuzünden. Sie schaut ihn nicht an und dennoch weiß sie, dass er missbilligend die Stirn runzelt.
Aber sie weiß auch, dass er nichts sagen wird.
Wenig später erreichen sie ihre Wohnung.
Nachdem sie ihm das Gästezimmer gezeigt hat, bereitet sie das Abendessen vor. Er dahingegen packt seinen Koffer aus.
"Sie hat sich verändert", denkt er. "Zuerst die Musik. Sie hat vorher nie Musik im Auto gemocht. Und das Rauchen."
Sie weiß doch ganz genau, dass er das nicht leiden kann. Und vor allem, das sie ihm beim Tragen helfen wollte, ist für ihn etwas ganz Neues. Das ist nicht mehr die Frau, die er vor zwei Monaten kennen gelernt hat. Damals sind auch ihre Küsse nicht so zurückhaltend gewesen wie der auf dem Bahnsteig.
"Es wird schon nichts passiert sein", versucht er, sich zu beruhigen. "Ich spreche sie besser nicht darauf an."
Dass sie im Auto so nervös und schweigsam war, ist ihm nicht aufgefallen.
Viel miteinander geredet, hatten sie auch vorher nicht.
Er geht in die Küche und setzt sich an den Tisch. Sie ist gerade fertig mit dem Essen geworden und häuft Reis auf seinen Teller.
Wieder runzelt er die Stirn. Sie hat Reis vor zwei Monaten noch nicht gemocht. Daran erinnert er sich ganz genau, da er einmal für sie gekocht und sie den Reis liegen gelassen hatte.
Doch auch jetzt sagt er nichts dazu. "Zwei Monate sind lang, da kann sich viel verändern", denkt er. Doch seine Liebe ist dieselbe geblieben. Und ihre?
Sie lächelt ihm zu. Aber es ist kein echtes Lächeln, das merkt er jetzt. Es ist genauso gezwungen wie die Situation. "Du musst sie jetzt auf ihre Veränderung ansprechen", mahnt er sich, doch gerade, als er zu sprechen ansetzt, klingelt die Haustür. "Ich mach auf", sagt sie und steht auf. Er schaut ihr hinterher, wie sie die Küche verlässt und durch den Flur zur Haustür geht. Er beugt sich wieder über seinen Teller und stochert in seinem Essen herum.
Er hört, wie sie die Tür öffnet und kurz darauf eine Männerstimme ruft: "Überraschung!"
Eingereicht am 09. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.