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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Des stillen Wassers Karneval

©  Andreas Witte

Seit ich mich erinnern kann, bin ich ein zurückhaltender, geradezu schüchterner Mensch gewesen. Während meiner Kindheit war es nicht leicht für mich, anderen Kindern oder Erwachsenen in die Augen zu sehen. Körperkontakt ist mir immer schwer gefallen.
Die Umarmungen meiner Mutter waren mir unangenehm; strich mir mein Vater über den Kopf, so sträubten sich meine Nackenhaare. Als schlimm empfand ich auch die Unsitte der Leute, sich zu jedem Anlass die Hände zu schütteln. Guten Tag, auf Wiedersehen, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, schöne Ferien, ich hätte kotzen können. Aber ich blieb ruhig und machte den Affentanz eben mit.
Nie hat mich jemand gefragt, ob ich diese Welt in Ordnung finde, so wie sie funktioniert. Ich ging in den Kindergarten, ich machte den Karnevals- und Sankt-Martins-Scheiß mit, ich bastelte und sang und malte. Nie begeistert, aber das war meinem jeweiligen Animations-Team, bestehend aus Erziehern, Eltern oder sonstigen Verwandten, recht egal. Ich ging zur Schule, ich war im Sportverein (zusammen mit weiteren Idioten, die freiwillig so lange ihren Körper vergewaltigen, bis sämtliche Schweißdrüsen explosionsartig ihren Inhalt durch die Haut vergießen), ich ließ kirchliche Veranstaltungen wie Kommunion und Firmung über mich ergehen. Klaglos. Dabei saß ich am liebsten zuhause in meinem spartanisch schmucklosen Zimmer. Allein. Und war froh, wenn man mich in Frieden ließ.
Als ich endlich genug Taschengeld bekam, wofür sich ein kleines verbales Scharmützel mit meinen Erzeugern tatsächlich mal gelohnt hatte, durchstreifte ich die Stadt auf der Suche nach Dingen, die mir etwas bedeuteten. Meine Kinderbücher habe ich gehasst und selten durchgeblättert. Nun fand ich Literatur, die mir etwas gab. Edgar Allan Poe. Ambrose Bierce. Zunächst auch Stephen King, den ich im Nachhinein jedoch zu kitschig fand. Er hat kein Gefühl für echte morbide Stimmung. Riesige Spinnenmonster sind Phantastereien, Ausgeburten eines kindlichen Albtraumes, überflüssig in einer Welt, deren wahre Plage der Mensch selbst ist. King erschien mir nicht glaubwürdig, nicht real genug. Poe war da anders, stimmungsvoller, gothischer.
Ebenso wie Bierce, dessen Halbwelt-Szenarien zwischen Leben und Tod mich gefangen nahmen. Ist nicht der Tod der große, ältere Bruder des Lebens? Vielleicht sogar sein eigentlicher Schöpfer? Unser kurzes irdisches Dasein als aufflackernde Unterbrechung der ewiglichen Stille? Das haben viele Menschen nie so verstanden, mir wurde es in die Wiege meines Denkens gelegt.
Vielleicht habe ich deshalb nie echte Freunde gehabt. Bekannte, ja. Aber Freunde? Wozu? Andere Kinder stellten sich meist als kreischende, herumalbernde Trottel heraus, die nie wussten, worum es im Leben eigentlich geht. Die nichts ernst nehmen konnten, die Verdammten. Und: Freunde fordern. Aber ich konnte und wollte nie etwas geben.
So musste ich mir denn später, als ich mir ein Fernsehgerät und einen DVD-Player erfochten hatte, wirklich gute Filme allein anschauen. Doch das machte nichts, schließlich sind meine Diskussionen mit mir selbst immer noch die fruchtbarsten. Meine Eltern wussten nicht, was ich schaute, es war ihnen gleichgültig.
Sie hatten genug mit der Organisation ihrer eigenen erbärmlichen Existenz zu tun und waren froh, sich nicht mehr um ihren schwierigen Sohn kümmern zu müssen. So schaute ich nächtelang Horror-, Psycho- und Anarcho-Thriller. Dachte darüber nach und stellte fest, dass meine Verweigerungshaltung mich im Leben auch nicht weit gebracht hatte. Ich hatte das Gefühl, dass etwas passieren müsste. Etwas, das meinem Leben mehr Sinn gab. Ja - ich suchte Erfüllung.
Erstaunlich, dass ausgerechnet ein schauspielender Schönling namens Brad Pitt für ein kurzzeitiges Highlight meines Daseins sorgte. In seinem interessantesten Film, betitelt "Fight Club", spielt er einen schizophrenen Typen, der seine armselige bürgerliche Existenz mit Faustkämpfen gegen verstrahlte Gleichgesinnte aufpeppt. Gegen Ende des Films bildet diese Boxer-Clique eine Art revolutionäre Kampftruppe, die mit anarchistischen Aktionen das Gleichgewicht unserer konsumverseuchten Gesellschaft heftig ins Wanken bringt. Der Film brachte mich erstmals dazu, aktiv in Kontakt mit gleichaltrigen Jugendlichen zu treten. Und vielleicht nahm mein Leben zu diesem Zeitpunkt eine Wendung, die es ohne dieses Leinwand-Spektakel nicht genommen hätte.
Ich wollte dieses Land und seine Bürger auch in den Arsch treten, sie auf das Wesentliche im Leben zurückreduzieren. Doch es gab nur wenige, die mich unterstützen wollten. Kevin und Marlon aus meiner Parallelklasse, auf die ich wirklich Hoffnungen gesetzt hatte, ließen mich hängen. Der eine kiffte zu viel, ihm war meine Vision nicht wichtig genug, dem anderen drohten die Eltern nach einem Säure-Attentat auf einen Computerhersteller mit dem Zudrehen des Geldhahns. Schon saß er wieder brav auf Muttis Schoß.
Meine Noten waren inzwischen so schlecht, dass mein Klassenlehrer mir endlose Vorträge über die drohende Nichtversetzung hielt. Eigentlich egal, aber das Krawatten-Schwein machte mich permanent vor der ganzen Klasse zur Sau.
Und ich saß Abend für Abend zuhause in meinem Zimmer und mir dröhnte der Schädel. Blitze und Farbkreisel flimmerten vor meinen Augen, Schwindelgefühle übermannten mich. Und mir war übel davon, dass eine unbedeutende Mikrobe im unendlichen All es wagte, über mich zu richten. Es war an der Zeit zu handeln, ich hätte so nicht weiter existieren können. Ich kaufte in einem großen Kaufhaus ein schlichtes, spitzes Küchenmesser und in einem anderen Geschäft ein Paar Handschuhe. Glauben Sie mir, ich plante nicht lange, ich hielt es für überflüssig. Als der Wesskamp abends mit seinem Köter noch eine Runde um den Block drehte, hockte ich im Gebüsch. Ich sprang heraus, entgegnete fest seinen verwirrten Blick und stach zu. Klar, ins Herz, oder dorthin, wo ich es vermutete. Er schrie nicht. Er schaute mich am Boden liegend nur erstaunt an. Röchelte. Ich stach nochmals zu, das reichte. Ich vergrub Messer und Handschuhe. Als ich wieder zuhause war, musste ich mich zwar wieder an mich gewöhnen, schließlich war ich nun ein Mörder.
Aber es dauerte nicht lange, bald schon vermochte ich meinem Spiegelbild wieder gegenüber zu treten. Auch die Untersuchungen zum "Feigen Mord an einem Gymnasiallehrer" (O-Ton der Boulevardpresse) überstand ich gut. Meine Eltern sagten aus, ich sei bestimmt zuhause gewesen. Zudem erläuterte ich der Polizei, dass ich doch keinen Menschen nur wegen einiger schwacher Noten töten könnte. Später kam heraus, dass seine Frau ihn schon seit Jahren mit ihrem Fitness-Trainer betrog, somit geriet dieser in Verdacht. Ich weiß gar nicht, wie heute der Stand der Ermittlungen ist.
Es war alles problemloser gelaufen, als ich jemals vermutet hätte.
Und ich fühlte mich gut. Frei. Sicher. Auch ein wenig großartig.
Und ich wusste nun, wie ein junger Mensch das Elend auf diesem Planeten in Schach halten kann. Meine Antwort auf die Sinnlosigkeit dieser Welt scheint gefunden. Es geht mir in der Tat von Monat zu Monat besser. Vor allem seitdem ich die kleine Blonde eliminiert habe. Die zu mir meinte, ich wäre schon immer merkwürdig gewesen und es wundere sie nicht, dass ich keinen hochgekriegt hätte. Alle haben gedacht, ihr Sturz vom Hausdach wäre ein Suizid gewesen. Gut, ich musste etwas dafür tun, dass alle daran glaubten. Aber mein in ihrem Namen geschriebener Abschiedsbrief (per Computer, logisch) kam allgemein gut an.
Nur Marlon macht mir Sorgen, er wusste von mir und ihr und klopft unbedachte Sprüche. Aber was soll's, für Marlon findet sich schon eine Lösung. Ebenso wie für all die anderen Karnevalisten, Händeschüttler, Erzieher und Besserwisser.
Kamelle! De Prinz kütt!


Eingereicht am 09. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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