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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Überarbeitet
© Simon Müller
Wieder saß Frau M. allein hinter ihrem gewaltigen Schreibtisch mit dem flackernden Monitor, dessen monotones Piepsen die sakrale Stille der Bibliothek störte. Sie hasste diesen Job! "Diese quälende Stille", dachte sie, denn Denken war leise. Selbst das Geraschel der Buchseiten, ein unterdrücktes Husten hier und da, ja sogar das Flüstern ihrer Kolleginnen, die sich über den Inhalt der "Neuen Post" unterhielten, all dies bedeutete Abwechslung für sie. Wirklich alles konnte sie besser ertragen
als diese furchtbare Stille. Sie dachte an ihre Kinder, wie sie spielten, wie sie lachten. Gleich würde ihr Mann sie vom Kindergarten abholen ... Nur zu gern würde sie aus dieser dumpfen Stille hinaus ins Leben flüchten, sich dem Lärm der Stadt aussetzen und vor sich hin singend die Freiheit genießen. Stattdessen hatte sie eine Liste mit etwa 300 Buchtiteln vor sich liegen, die sie, wie ihr Chef sagte, "schnellstmöglich" in den Computer einzugeben hatte - natürlich leise!!!
Sie hatte sich gerade an die Arbeit gemacht, als sie das hysterische Schreien ihrer Kollegin Schmidtbauer hörte. Sie blickte auf und traute ihren Augen nicht: Ein halbnackter, mit einer Klobürste bewaffneter Liliputaner rannte von einer Seite des Raumes zur anderen, riss hier und da ein paar Bücher aus den Regalen, gab dabei grunzende Laute von sich und schlug mit seinem borstig-weißen Zepter auf alles ein, was sich zu bewegen wagte. Nachdem er schließlich seine Notdurft über einer Konsalik-Gesamtausgabe verrichtet
hatte, blickte er zornig in Frau M.'s Richtung. Als der Zwerg auf sie zu rannte, begann auch sie in das hysterische Schreien ihrer Kollegin mit einzustimmen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran mit einem gewaltigen Satz auf ihren Schoss zu springen und ihr, in der linken Hand noch immer die Klobürste schwingend, mit der flachen Rechten kräftige Hiebe ins Gesicht zu versetzen. Wieder und wieder klatschte die kalte, feuchte Hand auf sie ein. Während der aggressive, kleine Mann auf diese Art und Weise ihre Wangen
bearbeitete, rief er lauthals ihren Namen: "Frau Meier, Frau Meier, Frau Meier..." Erst wurde es ihr schwarz vor den Augen, dann erkannte sie mit einem Schlag, was wirklich los war: Ihrer Kehle entronnen noch immer krächzende Laute als sie bemerkte, dass ein untersetzter, kleiner Mann mit besorgtem Gesichtsausdruck ihr Gesicht tätschelte. "Frau M., was ist denn? Sollen wir einen Arzt rufen?" - Es war die Stimme ihres Chefs. Sie hörte auf zu schreien, blickte in die Gesichter ihrer Kolleginnen
und fing an zu weinen.
Das alles war vor gut einem Jahr. Mittlerweile hat Frau Meier sich von ihrem Nervenzusammenbruch erholt und preist nun als Verkäuferin auf dem, alles andere als stillen, Wochenmarkt, mit kräftiger Stimme, die saftigsten Gemüsesorten der Saison an.
Eingereicht am 05. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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