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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Tschüß ich geh jetzt

©  Kornelia Jäger

Zehn Jahre lag es nun zurück, als mein Vater sich zum ersten Mal der Diagnose Lungenkrebs stellen musste. Eine Operation mit anschließender Chemotherapie sowie sein ungebrochener Optimismus aus jeder Lebenssituation das Beste zu machen, hatten ihm und uns das Glück beschert, diesen Kampf erfolgreich zu gewinnen. Doch nun war es zu einem erneuten Ausbruch der Krankheit gekommen. Dieses Mal handelte es sich um einen schnell wachsenden Tumor. Die Zeit drängte zum Handeln, bevor es definitiv zu spät gewesen wäre und man ihn zum qualvollen Sterben einfach nach Hause geschickt hätte. Erschwerend kam hinzu, dass sein Herz mittlerweile zu schwach war die Lungenoperation zu überstehen, so dass zusätzlich zwei Beipässe gelegt werden müssten. Nun berieten die medizinischen Kapazitäten, ob eine solch große Operation mit einem enorm hohen Risiko noch lohnend wäre. Mein Vater stieß in diesen Tagen an die Grenzen seiner emotionalen Belastung. Er wünschte sich diese eine Chance und wenn es denn sein sollte, wollte er lieber bei diesem Eingriff sterben, als in dem Bewusstsein nach Hause zu gehen, wie werde ich es hinter mich bringen müssen.
Und wir? Wie sollten meine Mutter und ich diesem geliebten Menschen Trost und Zuversicht geben? Zu unser aller Erleichterung entschieden die Ärzte dann doch den Eingriff zu wagen. Am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr hatte mein Vater noch einmal mit uns telefoniert, und während des Gespräches wurde er für den Operationssaal abgeholt. Das Martyrium zwischen Hoffen und Bangen hatte begonnen.
Nach zwölf nicht enden wollenden Stunden erreichte uns der erlösende Anruf aus der Klinik: "Der Patient hat es den Umständen entsprechend gut überstanden ...". Der vermutlich längste Tag meines Lebens lag hinter mir. Stärke, Ruhe, Vernunft, Geduld, all dieses hatte ich versucht auszustrahlen. Nur nicht nach außen zeigen, welche sorgenvolle Unruhe auch in mir brodelte, um der enormen Sorge meiner verzweifelten Mutter keine weitere Nahrung zu geben. Und jetzt nach diesem Anruf entlud sich mit einem Male die gesamte angestaute Anspannung in Form von endlosen Tränen der ersten Erleichterung.
Die folgenden zwei Wochen verbrachten meine Mutter und ich täglich an seinem Krankenbett. Angeschlossen an etliche Geräte der modernen Medizin und unter permanenter automatischer Verabreichung stärkster Medikamente war es ihm nicht möglich uns wahrzunehmen, geschweige denn zu erkennen. Es gab Tage, an denen er völlig regungslos in seinem Bett lag, und dann wiederum Tage, an denen er wie wild um sich schlug und wir kaum in der Lage waren ihn zu beruhigen. An einem Spätnachmittag begann meine Mutter auf der Heimfahrt im Auto bitterlich zu weinen. Sie flehte gen Himmel: "Lass mich noch einmal, nur ein einziges mal mit ihm reden, bitte ... bitte …" Als wir uns am nächsten Tag, mit ängstlichem Herzklopfen was uns wohl heute erwarten würde, seinem Bett näherten, wagten wir kaum zu glauben was wir sahen. Mein Vater saß aufrecht, lachte uns an und sagte: "Wo bleibt ihr denn, ich habe schon auf euch gewartet." Es war als hätten die letzten beiden Wochen überhaupt nicht existiert. Er war wie er immer war. Er lachte, erzählte, machte Späße. Meine Mutter strahlte vor Glück. Sie redeten und redeten, und ich genoss diesen Anblick der Freude. Kurz vor Ende der Besuchszeit erklärte uns ein Arzt, dass mein Vater Morgen auf die zwischenintensiv verlegt würde und das Training beginne wieder ganz langsam zu Kräften zu kommen. Nach dieser Aussage stand endgültig für meine Mutter und mich fest er wird es schaffen, ab heute geht es mit seiner Genesung aufwärts.
Beim Abendbrot an diesem Sonntag sprachen wir immer und immer wieder über diesen herrlichen Tag. Was er sagte, wie er lachte. Plötzlich hörten wir aus dem Nebenzimmer seine Stimme. "Tschüß ihr Lieben ich gehe jetzt!" Verwirrt schauten wir uns an." Papa, Gerd...?", riefen wir. Für einen Moment vermuteten wir tatsächlich, er wäre im Raum nebenan. Ich stand auf, schaute um die Ecke. Niemand. Irritierend war, dass wir beide es im gleichen Moment klar und deutlich gehört hatten, schüttelten dann aber ungläubig den Kopf und dachten auch nicht weiter darüber nach.
Am Montagmorgen klingelte schon früh das Telefon. Ein Arzt aus der Klinik teilte uns in einem sachlichen Medizinerdeutsch mit, dass mein Vater abends zuvor ins Koma gefallen war, sie ihn an die Herz-Lungenmaschine anschließen mussten und er zusätzlich an der Dialyse lag, da auch die Nieren drohten zu versagen. Niemals zuvor hatten meine Mutter und ich die Klinik so schnell erreicht. Wir waren gerade 5 Minuten an seinem Bett, als er verstarb. Nun mussten wir das Zimmer verlassen, da Schwestern und Ärzte ihn von allen Apparaturen befreien wollten, damit wir anschließend in Ruhe Abschied nehmen konnten. Als wir das Zimmer wieder betreten durften, verließen Ärzte und Schwestern das Zimmer. Wir waren unter uns. Eben noch war er an diese entsetzliche Maschine angeschlossen gewesen, nun hatten sie den Tubus gezogen und doch, glaube es mir, er lächelte. Ein unbeschreibliches Gefühl von Frieden lag im Raum. Ich hatte Tränen in den Augen und sah meine Eltern vor mir an dem glücklichen Tag als meiner Mutter ihr Flehen erfüllt wurde, noch ein einziges Mal mit meinem Vater reden zu können. Und ich hörte noch einmal seine Stimme vom vorherigen Abend und erkannte, dass dies der Zeitpunkt des Komas gewesen war. Ich nahm ein letztes Mal seine Hand, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und flüsterte "Tschüß Papa" in sein Ohr. Ein allerletzter Blick auf sein Lächeln ließ mich spüren, dass sein Körper bereit gewesen war zu gehen und sein Geist uns für diesen Abschied Trost schickte. Die Liebe, die uns als Tochter und Vater und als Frau und Mann bis zuletzt verband, würde für immer bleiben. So ließ der schlimmste Schmerz etwas nach, nicht aber der Kummer, dass wir diesen Menschen so sehr vermissen.


Eingereicht am 05. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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