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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sinnlich

©  Jenny Zombik

Ihr gegenüber: Männlich, Mitte fünfzig, die grau-weißen Haarstängel auf dem ansonsten kahlen Schädel wirkten erschreckend sortiert, die Zeitschrift wie einen Schützengraben über das Gesicht gezogen. Sie beobachtete ihn jetzt schon geschlagene 35 Minuten. Nicht, weil er mit den seidigen Händen eines Piano-Spielers alle dreieinhalb Minuten nach seinem Kaffeebecher griff und einen weiteren Zentiliter der braunen Brühe in sich hinein sog. Und ebenso wenig auf Grund der Tatsache, dass er von Zeit zu Zeit die grob karierten Hosenbeine bis zum verfetteten Knie hochzog um dem Juckreiz eines puterroten Mückenstiches nachzugeben. Nur zu gerne hätte sie ihre Mundwinkel nach unten gezogen und ihren Augen einen anderen Blickwinkel geboten. Doch Herrn Wabbel-wade's Aktivitäten zu verfolgen, war mit Sicherheit unter den Top 5 der interessantesten Anblicke dieses Raumes. Die Konkurrenz bestand aus einem braun weiß gestreiften Vorhang, der sich unter dem Wehen des Lüftungsschachtes bog, einem roten Schal, dessen verklebte und verknotete Fransen einen ungefähren Eindruck davon zuließen, wie lange er schon auf die Rückkehr seines Besitzers wartete und den eingerasteten Facetten-Augen einer riesigen Eintagsfliege, die ihren Eintag schon um Tage hinter sich zu haben schien und nun auf dem Fensterbrett, über dem Lüftungsschacht, unter den Gardinen, den Pianisten und seine Zeitung zur Rechten und in Sichtweite des roten Schales ihre letzte Ruhe gefunden hatte.
Vor allem aber wollte sie vermeiden, dass ihr Blick nach rechts entglitt, wo er sich schon einmal in den dunklen Locken des jungen Adonis verfangen hatte und auf der Flucht vor dessen krauser Pracht um ein Haar in die ewigen Tiefen seiner grünen Augen gerutscht wäre. Das Objekt selbst hatte von alledem nichts mitbekommen und war nach kurzer Unterbrechung durch kontrollierendes Bahnpersonal in das ewige Kopfnicken einer holprigen Zugfahrt zurück verfallen. Doch jetzt, nachdem sie ihn mit minutenlanger Nichtachtung gestraft hatte, schien seine Neugier geweckt. Sein Blick wanderte zu ihr hinüber. Ihr Moment war gekommen. Wenn sie ihn am Ende für sich gewinnen wollte, musste sie ihn fesseln. Ihm Einlass gewähren ohne sich ihm zu öffnen. Ihre linke Hand machte sich leise auf den Weg zum Mund, wo ihr Zeige-Finger durch abruptes Aufstellen der ohnehin schwachen Faust entkam und sich schließlich seicht über die halb geschlossenen Lippen legte. Der nun unfreiwillig befreite Daumen suchte seinen Halt unter ihrem runden Kinn. Beinahe automatisch zog sich ihre Stirn über den Brauen zusammen, gekonnt schoben sich die Wangenknochen eine Idee in Richtung ihrer Augen, die nun mit glasigem Blick einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierten. Die nachdenklich-ratlose Phase war nur von kurzer Dauer. Simpel. Ein Kinderspiel.
Dann: Die Erleuchtung. Sie hatte sich im Laufe ihres Werdegangs als Blickfang auf die Farbe grün spezialisiert. Jetzt galt es das Strahlen einer erfolgreichen Suche auf ihr Gesicht zu zaubern. Die Haftung an der hellgelben Abteilwand war stärker als vermutet und es kostete eine wertvolle Sekunde, bis ihr Blick sich bereit erklärt hatte mit ihrem Willen zu kooperieren und sich von der PVC Schicht zu lösen. Sie ließ ihn durch den Raum gleiten, bis er abrupt stehen blieb, einen winzigen Moment lang in der Luft zu hängen schien, dann wie mit einem Gummi-Band verknüpft zurückschnellte und unsanft auf einem der dunkelgrünen Knöpfe des Sitzbezuges aufschlug. Ihre Augen weiteten sich in diesem Augenblick der Zufriedenheit und ihre Miene klärte sich auf, wie eine beschlagene Windschutzscheibe unter Einwirkung einer Lüftungseinrichtung, wie ein Schaumbad dem die Blasen ausgehen oder wie die Silhouette eines Schattenspielers, wenn er sich der Trennwand nähert. Es war ein Leichtes, diesem Gefühl eine Mimik zuzuordnen. Ihre Oberlippe zog sich ein Stück weit in ihren Mund, während ihre Zunge sie mit neuer Energie benetzte. Die Hand, die sich gerade an den Platz am Kinn gewöhnt hatte, war während der gesamten Prozedur rastlos von Lippe zu Ohr, von Ohr zu Stirn, von Stirn zu Wange gewandert, um sich schließlich völlig umzuorientieren und dem warmen Schlupfloch zwischen den überschlagenen Knien eine Chance zu geben, sich als neues trautes Heim zu etablieren.
Die Zunge glitt aus ihrer Höhle und gab damit die Oberlippe frei, die sich jetzt kühn und gut durchblutet ihre Position als Verführerin sicherte und sich scheinheilig-keusch auf der Unterlippe niederließ. Es war vollbracht.
Alles Gute, Schöne, Begehrenswerte hatte sie in diese letzen siebenundsechzig Sekunden gesteckt. Jetzt war es an der Zeit die Früchte ihrer Mühen zu ernten. Ihr Blick, begleitet von einem scheu-freundlichem Lächeln, wanderte nach rechts und ergoss sich spektakulär über den jungen Adonis ...
Er konnte das Essen riechen, das sich die Reisenden der ersten Klasse genüsslich den Rachen hinunter schoben. Sein Abteil lag direkt an der Grenze, die die Mittelklasse von der Oberschicht trennte und das Kartoffelmus vom Soufflé. Er hatte seit Stunden nichts gegessen und spürte, wie sein Magen unter tosendem Gebrüll in sich zusammenfiel. Doch der Regen, der lautstark gegen das geschlossene Fenster hämmerte, verschluckte das Grummeln des Hungers und wenn die Mitreisenden doch etwas vernommen hatten, so würde man das Rumoren auf ein herannahendes Gewitter schieben.
Schwere Schritte näherten sich dem Abteil, nur Sekunden später wurde die Schiebetür aufgezogen und eine raue Frauenstimme verlangte nach den Fahrkarten.
Plötzlich war der gesamte Raum erfüllt vom Rascheln, Knacken und Knistern der Handtaschen, Rucksackschnallen, Tüten und Säcke in denen die Fahrscheine mehr oder weniger sinnvoll untergebracht worden waren.
Zum dritten mal an diesem Morgen wühlte er in seiner Hosentasche, hatte etwas im Griff, zog es heraus und stellte entnervt fest, dass es dasselbe zerknüllte Kaugummipapier war, das er schon vor Stunden hatte aussortieren wollen, um eine Verwechslung mit dem Bahn-Ticket auszuschließen. Zu spät. Ein Papier nach dem anderen zog er aus der Tasche, bis er etwas Festes spürte und es gemeinsam mit weiteren Überresten seiner letzten Kau-Orgie an die Öffentlichkeit zerrte. Ein Papier fiel zu Boden … das zweite Papier fiel zu Boden und nun war plötzlich auch das pappene Ticket verschwunden. Er bückte sich, tastete mit einer Hand den Boden unter seinen Füßen ab, spürte wie sich kleine Steinchen in seine Fingerspitzen bohrten, wischte sich den aufgewühlten Staub in die Nase, fand wonach er suchte und streckte es der Bahnangestellten entgegen. Die nahm kaum Notiz - weder von seinem erleichterten Seufzer noch von den Schweißperlen auf seiner Stirn - nahm es ihm nur aus der Hand, um es ihm wenige Sekunden später wieder zu reichen. Er lehnte sich zurück und spürte die Röte, die Scham und Anspannung in sein Gesicht getrieben hatten, langsam aus seinen Wangen fließen. Als er sicher war, dass die Rückstände seiner Suchaktion verschwunden waren, drehte er seinen farblich regenerierten Kopf zur Seite … und da war er wieder: Der Duft, der ihm vor wenigen Stunden das erste Mal mit ihren Haaren ins Gesicht geweht worden war. Als er versucht hatte nach dem Einsteigen seine Tasche auf dem Gitter über dem Sitz abzustellen, hatte sie sich an ihm vorbeigedrängt und ihm dabei ihren Zopf an die Stirn geschleudert. Ihr Parfum erinnerte ihn an eine Höhle. Nicht an Fledermaus-Urin oder herausragende Felsspalten, sondern vielmehr an Dunkelheit und Tiefe. "Upps, 'tschuldigung" hatte sie gesagt und sich auf ihren Sitz fallen lassen. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Sicher nicht älter als er. Aber wie viel jünger? Sie war zwar klein, doch ihre Stimme hatte selbstsicher geklungen. Nicht arrogant, nur selbstsicher.
Lautes Gähnen durchbrach die Stille, gefolgt von einem unerträglichen Gestank aus den Tiefen einer überfüllten Magenhöhle. Sein männliches Gegenüber hatte sich zweifellos am Buffet des Speisewagens bedient. Wie gesagt: Kartoffelmus. Vermutlich mit Hacksoße. Und ein Käffchen zur Verdauung.
Er ließ die Wolke an sich vorbei ziehen und erwartete mit Ungeduld die Rückkehr des atemberaubenden Duftspieles ...
"Bitte aussteigen, dieser Zug endet hier", klang es plötzlich aus den Lautsprechern und er fuhr erschrocken zusammen. Es blieb keine Zeit mehr in die Höhle zurückzukehren. Hastig sprang er auf, hievte die Tasche von der Gepäckablage und über seine Schulter. Mit der rechten Hand tastete er die Wand ab und ergriff den langen weißen Stock, der die gesamte Fahrt geduldig auf ihn gewartet hatte.


Eingereicht am 03. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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