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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Hauch von Unschuld

©  Andreas Zangar

Eine kühle, jedoch noch schwache Herbstbrise strich durch die Landschaft, liebkoste sie mit ihrer zarten, aber dennoch zupackenden Hand und läutete damit die neue, etwas kühlere Jahreszeit ein, die ein würdiger Nachfolger der trüben und nicht wirklich warmen Sommerzeit sein würde. Die Medien kündigten Sturmwarnungen für den morgigen Nachmittag an, aber die Menschen des kleinen Dorfes besaßen weder Radio noch Fernseher, und so sollten sie völlig unvorbereitet auf dieses Ereignis treffen. Denn Dörfler konnten sich Schnickschnack wie das Fernsehen nicht leisten - und wozu auch, sie hatten all die Jahre ihres kleinen, bescheidenen Lebens auch ohne diese Geräte zugebracht und würden es auch in Zukunft tun. Doch dieser Sturm war nicht einer der gewöhnlichen Stürme, die beinahe jeden Tag auftraten; dieser hier war anders, wirklich gefährlich und mit einem enorm gewaltigen Zerstörungspotenzial. Niemand hatte es kommen sehen, bis auf ihn, den kleinen schwarzen Vogel. Man hätte denken können, der Vogel säße einfach nur unbekümmert auf der Wäscheleine, nichts ahnend und sich um nichts kümmernd, aber dem war nicht so, im Gegenteil: er war aufmerksamer als jeder andere. Diejenigen, die von sich behaupteten, aufmerksam oder gar sensibel zu sein, waren es in Wirklichkeit gar nicht; sie waren nichts wissende kleine Angeber, die sich nur hervortaten, weil sie sonst niemand zur Kenntnis genommen hätte. Der kleine schwarze Vogel wollte keine Aufmerksamkeit. Alles was er wollte war, es den anderen zu sagen. Doch die Menschen hörten ihm nicht zu und wendeten den Blick von ihm ab. Als der Vogel über das kleine gelbe Haus hinweg flog, dessen leuchtendes Strahlen mit der Zeit allmählich verblasst und - wie jeder einzelne Mensch der hier lebte - zu einem nichtigen Unterton seiner selbst geworden war, sah er sie dort unten stehen, nickend, so als hätte sie es verstanden. Wenn man sich in ihrer Nähe aufhielt, hatte man beinahe das Gefühl, als ob man die schier unendliche, fast unvorstellbare Traurigkeit, die sich in ihren golden leuchtenden Augen zu spiegeln schien, spüren konnte, zwar immer nur für einen kurzen Augenblick, aber so stark, so überwältigend intensiv, dass man beinahe versucht war zu weinen und alles dafür zu tun, ihr diese Last von den Schultern zu nehmen zu können, denn sie war noch fast ein Kind, so rein und unschuldig, und Kinder sollten nicht eine solche enorme Last tragen müssen, niemand sollte das. Ihr Lebensweg lag undeutlich vor ihr, dabei hätte sie alles werden können, was sie nur gewollt hätte - sie war klug - aber die Schmerzen die sie in sich trug, waren so erdrückend, dass es sie fast umbrachte. Sie wollte ihr Leben nicht in diesem Dorf verschwenden, auch die Stadt konnte, so dachte sie, ihr nicht das geben, was sie so sehr gewollt hätte. Deshalb hatte das Mädchen nur ein Ziel vor Augen, sah nur eine Möglichkeit, ihrem Leben einen Sinn zu geben und sie das spüren zu lassen, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatte: die Straße ins Nirgendwo. Und weiß Gott, sie hätte alles Glück dieser Welt verdient, das wäre nur das Mindeste. Obwohl sie Tag für Tag diese Bürde zu tragen hatte, weinte sie nicht, kein einziges Mal. Sie zeigte ihre Traurigkeit nicht und wirkte stets fröhlich. Die Anderen hätten es merken müssen, aber sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, so sehr in sich selbst verliebt, dass sie blind waren vor Eitelkeit. Aber das war in schon Ordnung so, dachte sie, denn sie wollte nicht bemitleidet werden; sie war stark genug, um es alleine zu schaffen. Und sie würde es schaffen, das war sicher. Denn die Alternative wäre undenkbar. Seit dem Tod ihrer Eltern gab es niemanden mehr, der sie liebte. Die Menschen aus dem Dorf liebten niemanden, und auch wenn sie es dachten, ihre Augen sagten etwas anderes. Denn sie konnten nicht lieben. Doch ein kleiner, schüchterner Blondschopf, der in dem tristen roten Haus gegenüber wohnte, empfand Liebe für sie. Nicht die Liebe, die Menschen anderen gegenüber beteuerten, damit sie sich selbst bestätigt fühlten, sondern echte, aufrichtige und selbstlose Liebe, die Liebe eines kleinen Jungen, der noch gar nicht wusste, was Liebe bedeutete. Und sie mochte ihn auch, mehr als sie es hätte zugeben wollen. Er war intelligenter als es vielleicht den Anschein hatte; mit ihm hatte sie immer reden können, wenn ihre Schmerzen fast unerträglich geworden waren. Und er verstand sie, besser als jeder andere, denn obwohl er eine Familie hatte, fühlte er sich doch alleine, genauso wie sie. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er kaum noch mit seinen Eltern redete. Sie hatte ihn gefragt, ob sie sich gestritten hätten, aber er verneinte; sie hätten sich einfach nichts mehr zu sagen, erklärte er in einem gelassenen Ton. Und obwohl das nun so war, liebte er sie noch immer sehr. Sie erzählte ihm auch, dass sie der Schule und den ständigen Schmerzen überdrüssig sei und dass sie fortgehen wolle aus dem Dorf. Anfangs verstand der Junge nicht ganz, denn er kannte nur sein Dorf und die Stadt; etwas anderes gab es für ihn bisher nicht, aber später erklärte sie ihm, dass es noch etwas anderes geben müsse, am Ende der Straße ins Nirgendwo. Als der Junge seine Eltern fragte, was es mit der Straße auf sich hätte, sagten ihm diese, niemand wisse was sich dahinter läge, denn alle die sich auf den Weg gemacht hätten, wären bis zum heutigen Tage nicht zurückgekehrt. Auch die Lehrer aus der Stadt wussten es nicht, sie glaubten auch nicht daran, dass es noch etwas gäbe, irgendwo außerhalb ihrer Welt. Denn ihre kleine, selbst geschaffene heile Welt war perfekt; derartige Dinge passten nicht zu den von ihnen schön zurecht gelegten Tatsachen, die, auch wenn manche nicht wirkliche Tatsachen waren, als einzige Wahrheit anerkannt wurden; alles andere war keiner Überlegung wert. Der kleine Blondschopf aber dachte über diese Dinge nach und ließ sich seine Meinung nicht von seinen Eltern oder Lehrern bilden. Trotzdem hörte er sich an, was sie zu sagen hatten, denn auch wenn sie nicht derselben Meinung waren wie er, hieß das nicht, dass er von ihrem Denken nicht vielleicht etwas Wertvolles hätte lernen könnte. "Man sollte immer zuhören", hatte sie ihm einmal gesagt. Von ihr hatte er sehr viel gelernt, auch über sich selbst, als er zurückdachte, wie er, bevor er sie kennen gelernt hatte, die Meinung anderer Menschen nicht nur nicht toleriert, sondern ihre Ansichten von vornherein für falsch erklärt hatte. Aber über die Straße wusste er noch immer nichts, anscheinend beschäftigte sich niemand damit, herauszufinden, warum sie so hieß und ob sie wirklich nirgendwohin führte. "Weißt du", sagte sie, "diese Straße ist ein großes Geheimnis, auf das niemand eine Antwort zu kennen scheint, und gerade das macht sie so interessant. Wenn ich die Antwort kennen würde, hätte sie doch jeglichen Reiz verloren, oder? Ich habe mir schon oft vorgestellt, an was für einem Ort sie enden könnte und wie die Menschen dort leben, möglicherweise ganz anders als wir es uns vorstellen mögen. Natürlich könnte es auch sein, dass die Straße wirklich kein Ende hat. Und siehst du? Du müsstest dir gar nicht vorstellen wie es wäre, wenn du schon wüsstest, wie es dahinter aussähe; deine Fantasie wäre somit nutzlos, und wieso hättest du sie dann überhaupt? Wozu bräuchte dann noch jemand Fantasie und Vorstellungskraft? Es ist wichtig, sich Dinge vorzustellen und sich zu fragen, wie etwas sein könnte, auch wenn es möglicherweise niemals sein wird oder sein kann, denn manchmal ist man auch schon glücklich, wenn man sich etwas nur vorstellt. Pass auf, ich kann es dir an einem ganz einfachen Beispiel erklären: Nehmen wir mal an, du stellt dir vor wie glücklich du sein könntest, wenn du mit einem Mädchen zusammen wärst, das du von ganzem Herzen liebst und das auch dich liebt. Wenn du dir vorstellst wie es wäre mit ihr zusammen zu sein, ihre Hand zu halten, sie zu küssen oder wie schön es wäre, einfach nur neben ihr zu sitzen, ist das doch ein Zustand, den du gerne erreichen willst, um für dich selbst glücklich zu sein. Hättest du nicht darüber nachgedacht und dich nicht gefragt, "was wäre, wenn...", dann wüsstest du doch gar nicht, was du eigentlich noch erreichen willst, du hättest kein Ziel, keinen Grund zu existieren. Und ein Mensch, der nicht nachdenkt, der kein Ziel hat und nur vor sich hin vegetiert... lebt letztendlich doch gar nicht". So, wie sie es ihm erklärt hatte, verstand er es und sah es für sich selbst als richtig an, unabhängig davon, ob es andere vielleicht für falsch hielten. Er fragte sie einmal, warum sie fortgehen wolle, wo das Dorf doch so schön sei und es in der Stadt alles gäbe, was der Mensch bräuchte. "Ich habe das Gefühl, dass es mehr gibt, einfach mehr geben muss. Findest du das Leben hier nicht auch furchtbar eintönig? Du stehst morgens auf, gehst zur Schule, kommst wieder heim, isst, schläfst und wartest nur auf den nächsten Tag, von dem du weißt, dass er das genaue Abbild des gestrigen Tages sein wird. Das Leben kann nicht nur ein sich ständig wiederholender Prozess sein! Natürlich, Menschen die nicht darüber nachdenken, können in so einem Gefängnis glücklich werden, aber ich will mehr, ich will etwas sinnvolles tun, etwas sinnvolles gestalten, etwas verändern, selbstständig denken und handeln und nach meinen eigenen Vorstellungen leben. Ich weiß nicht, ob dieser Weg der richtige ist, aber mein Herz sagt mir, dass ich es einfach tun muss". Der Blondschopf hatte sie gefragt, woher sie den Mut nehmen wolle, diesen Schritt zu wagen, wo sie doch in dem Dorf eine gewisse Sicherheit umgäbe, die dann nicht mehr vorhanden wäre. "Das hat nichts mit Mut zu tun; ich habe mich dazu entschieden, weil ich erkannt habe, dass all das hier nicht richtig sein kann. Der Mensch sollte frei sein in allem was er tut, aber diese Freiheit wird einem hier nicht gewährt, stattdessen wird man hier gezwungen, sich einem vordefinierten Denkschema anzupassen und alle anderen Denkweisen zu ignorieren, sogar zu vergessen, wer man selbst ist und zu dem zu werden, für den man gehalten wird. Ist das der Sinn des Lebens? Ist das das angestrebte oberste Ziel? Die eigene Meinung ist nicht wirklich die eigene, sie wird einem von den Mitmenschen und den Lehrern gebildet, und das sind genau die Menschen, die von dir verlangen, selbstständig zu denken. Erkennst du die Ironie? Ich kann nicht länger hier bleiben, verstehst du? Wenn ich mir vorstelle was mich am Ende der Straße erwarten könne, erscheint es mir völlig unmöglich, noch länger in diesem Käfig, bestehend aus Arroganz, Machtgier, Widersprüchlichkeit, Intoleranz, und aufgezwungener Willenlosigkeit eingesperrt zu bleiben. Es wäre doch möglich, dass die Menschen dort ganz anders leben als hier und vielleicht auch ganz anders denken, möglicherweise so wie ich. Und es wäre doch möglich, dass die Menschen dort völlig frei in ihrem Denken und Handeln sind, denn ich weiß, es kann funktionieren. Ich möchte an einem Ort leben, an dem ich mich selbst entfalten kann, um alleine herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Jeder Mensch ist einzigartig und solange sie ihre Einzigartigkeit nicht erkennen, können sie niemals frei sein. Die Gesellschaft verallgemeinert immer alles, redet von der "Masse", dabei kann es gar keine Masse geben, weil kein Mensch dem anderen gleicht. Wir sind auch keine anonymen Punkte in einer x-beliebigen Statistik, wir haben einen Namen und eine eigene individuelle Persönlichkeit, man kann nicht von einem "Durchschnittsmenschen" reden, denn den gibt es nicht. Keiner sollte das Recht haben, das natürliche Leben eines Menschen mit dem Leben eines anderen gleichzusetzen, denn damit würde er dem Leben an sich die angeborene Einzigartigkeit absprechen. Ich werde aus einer Gesellschaft fliehen, die versucht, etwas aus mir zu machen, was ich nicht bin und nicht sein will. Denke gut nach und überlege dir, was du willst und tue alles dafür, um das Leben, das du für dich anstrebst, eines Tages wirklich leben zu können. Und lasse dir deine Vorstellungen und Träume von niemandem nehmen, denn sie sind dein. Hüte sie wie einen Schatz, denn sie sind der Schlüssel zu deinem eigenen Glück und zu allem, was du jemals erreichen willst!".
Der nächste Tag sollte alles verändern. Das Mädchen verließ in aller Frühe bei Sonnenaufgang das Dorf und lief auf der Straße ins Nirgendwo einem ungewissen Schicksal entgegen. Sie sollte niemals wiederkehren. Der kleine Vogel kreiste am Abend, als die Sonne schon beinahe untergegangen war, über den Trümmern der Stadt. Der Sturm hatte alles niedergerissen und der Vogel konnte keine Anzeichen von Leben mehr entdecken. Doch neben den Trümmern eines roten Hauses stand ein kleiner blonder Junge, der hoffnungsvoll an eine bessere Zukunft dachte, an eine Zukunft, in der jeder Mensch genug Weisheit besitzt, das richtige Maß zu erkennen, in dem er glücklich und zufrieden leben kann, nicht dem Glück anderer im Wege steht und sein eigenes Glück nicht über das eines anderen stellt, und somit letztendlich ein Leben führt, das man wirklich "Leben" nennen kann.
Als die Sonne untergegangen war, wurde das Dorf in eine stille Dunkelheit getaucht. Doch am nächsten Tag würde sich die Sonne wieder erheben, wie ein Phönix aus der Asche.


Eingereicht am 30. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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