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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der verborgene Wunsch
© Britta Dubber
"Hast du mit der Frau vom Jugendamt geredet?"
"Hm."
Birte lag mit dem Rücken auf der karierten Steppdecke und starrte in den fast wolkenlosen Himmel.
Mit der rechten Hand zupfte sie Grashalme aus der Wiese, wodurch sich schon etwas schwarze Erde unter ihre sorgfältig manikürten Fingernägel gesammelt hatte. Nina studierte aufmerksam das Gesicht ihrer Freundin. Die blauen Augen wirkten leer und glanzlos, der Teint war blass und ihre hellblonden Haare lagen wirr auf ihren Schultern. Wie sie so dalag, sah sie fast zehn Jahre älter aus.
"Was?" Birte hatte ruckartig den Kopf zu Nina gedreht und funkelte sie zornig an. Sie hatte es noch nie leiden können, wenn man sie anstarrte.
"Was hat diese Jugendamttusse gesagt?", wollte Nina wissen.
Birte setzte sich auf und blickte ihre Freundin für einen kurzen Moment an, dann schüttelte sie leicht den Kopf und starrte wieder in den Himmel.
"Sie meinte, ich sei sehr schwierig und meine Eltern hätten es ja nicht leicht mit mir."
"Und das gibt ihnen das Recht dich zu schlagen?", fragte Nina
"Davon war ja gar nicht die Rede." Birtes Stimme klang schleppend.
"Wie?"
"Verstehst du das nicht?" Birte drehte sich wieder zu ihrer Freundin.
"Ich habe zwei Anzeigen wegen Ladendiebstahl. Ich bin diejenige, die gegen das Recht verstößt. Zumindest für das Jugendamt."
Nina starrte ihre Freundin verständnislos an. Selbst jetzt noch war die lila Verfärbung unter Birtes rechtem Auge deutlich zu erkennen.
"Sie wollen nichts machen?"
Birte zuckte mit den Schultern.
"Meine Eltern weisen alle Schuld von sich. Es sollen jetzt ein paar Gespräche mit meinen Eltern, mir und einem Sozialarbeiter stattfinden, in deen wir uns alle aussprechen sollen und unsere Differenzen klären sollen." Der Zynismus in Birtes Stimme war nicht zu überhören und Nina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Mehr nicht?"
Birte zuckte wieder mit ihren Schultern, grinste ihre Freundin für einen Moment frech an und griff in den Rucksack, der neben ihr lag. Nina wusste war jetzt folgte.
Birte holte eine Sektflasche und eine Tüte Chips heraus. Die Chips schmiss sie Nina zu, dann begann sie vorsichtig die Flasche zu entkorken.
"Bei Aldi wollten sie dieses Mal meinen Ausweis sehen, also habe ich es an der Tankstelle versucht. Der Typ hat nicht mal richtig hingesehen, ich glaube der war selber breit."
Es machte "Plopp" und kurz darauf fluchte Birte, weil der Sekt überschäumte und ihre neue Jeans nass wurde.
Einige Sekunden starrte Birte auf den immer größer werden Fleck auf ihren Oberschenkeln.
"Wie mein Leben", murmelte sie.
Nina wollte gerade nachfragen, was sie damit meinte, als sich ihre Freundin grinsend zu ihr drehte und ihr die Sektflasche entgegenhielt.
"Prost, der erste Schluck gehört dir!"
Nina nahm einen kleinen Schluck und gab Birte dann die Flasche zurück, die diese sofort ansetzte, und als Nina schon befürchtete, sie wolle alles auf Ex trinken, hielt sie inne und stellte die Flasche ab.
"Du bist so schweigsam", sagte sie.
Nina zuckte die Schultern.
"Was ist los? Stress zu Hause?"
Nina seufzte und spielte mit dem einen Ende der Steppdecke in ihren Händen.
"Ich komme mir so schäbig vor, dir von meinen Problemen zu Hause zu erzählen. Im Grunde ist es nichts. Nichts im Vergleich zu deinen."
"Probleme sind relativ. Wenn sie dich belasten werden sie schlimm genug sein", meinte Birte und hielt Nina den Sekt hin.
Nina zögerte einen Moment, dann nahm sie einen gossen Schluck.
"Also los, erzähl schon", forderte Birte sie auf.
"Ach, meine Mutter hat in meinem Zimmer zwei Joints gefunden. Sie hat ein riesen Theater veranstaltet, weil sie glaubt, dass ich drogensüchtig bin."
Nina nahm noch einen Schluck, bevor sie weiter sprach.
"Sie will mit meinem Vater reden und mich dann zu einer Beratungsstelle schicken. Außerdem weiß sie jetzt, dass ich mehrmals in diesem Halbjahr die Schule geschwänzt habe und meine Versetzung gefährdet ist."
"Pass bloß auf, dass du nicht sitzen bleibst. Was soll ich denn ohne dich in der Klasse", sagte Birte und lächelte Nina an. Das erste Lächeln an diesem Tag, das nicht aufgesetzt wirkte, bemerkte Nina und lächelte zurück.
"Ich habe einfach kein Bock mehr auf Schule. Mich kotzt alles an. In Bio versteh ich nur Bahnhof und Geschichte finde ich mega langweilig. Zum Einschlafen", meinte Nina und verdrehte demonstrativ die Augen.
"Sag so was nicht", sagte Birte und sah Nina mit einem Blick an, den diese nicht zu deuten wusste. Hatte sie ihre beste Freundin verärgert?
"Was soll ich nicht sagen?"
"Das dich alles ankotzt."
Nina war verunsichert, aber sie fragte nicht nach. Irgendetwas schien mit Birte nicht zu stimmen.
Sie sprach zwar öfter in Rätsel, aber nicht auf eine solch melancholische Art, wie an diesem Nachmittag.
Um die dunklen Gedanken abzuschütteln, öffnete sie die Chipstüte und dämpfte das Hungergefühl in ihrem Magen, das sie schon den ganzen Tag über verspürte.
Birte hatte sich auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen. Ihr Atem ging langsam und gleichmäßig. Sie war eingeschlafen.
Nina stopfte sich unablässig Chips in den Mund. Zum Teufel mit ihrer angefangenen Diät.
Sie war einfach nicht diszipliniert genug.
Einfach nicht klug genug, schoss es ihr durch den Kopf.
Birte hatte mindestens genauso viele Fehlstunden wie sie in der Schule und trotzdem war sie einer der besten Schüler.
"Ich weiß wo meine Grenzen sind", hatte sie Nina einmal erklärt, als diese sich über ihre unterschiedlichen Schulleistungen gewundert hatte.
"Du versucht immer alle mit allem zu vergleichen, aber jeder ist individuell."
"Das weiß ich auch!", hatte Nina sie angefaucht und war sich im nächsten Moment schäbig vorgekommen, weil sie so etwas wie Neid ihrer besten Freundin gegenüber verspürt hatte.
Als Nina wieder in die Chipstüte griff, stellte sie fest, dass sie leer war. Ungläubig starrte sie die bunte Verpackung in ihren Händen an. Sie hatte die ganzen Chips alleine aufgegessen.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war kurz nach achtzehn Uhr. Sie hätte schon längst zu Hause sein sollen.
"Ich muss los", rief sie und rüttelte Birte unsanft an der Schulter.
Diese kam nur langsam wieder zu sich. Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie sich aufrichtete.
"Was, jetzt schon?"
"Es ist nach sechs. Ich bin eh schon spät dran. Seit meine Mutter die Joints gefunden hat, darf ich abends nicht mehr weg."
"Ich komme mit, warte."
Birte stand auf und legte die Decke zusammen, während Nina den Abfall zum Müllbehälter brachte.
Kurze Zeit später brachen sie auf und durchquerten zu Fuß den Park, der um diese Zeit fast menschenleer war.
Nina warf einen letzten Blick auf das kleine geheime Plätzchen, in der Birte und sie so viele gemeinsame Nachmittage verbracht haben.
Der kleine Rasenfleck war von dem Wanderweg nicht zu sehen, hohe Fichten und Kiefern versperrten die Sicht.
Nina hatte den Platz durch Zufall entdeckt, als ihr Hund sich von der Leine gerissen und dort versteckt hatte.
"Wenn ich einmal sterbe, dann hier." Birtes Stimme riss Nina aus ihren Gedanken.
Sie erschrak als sie sah, wo Birte sich befand.
"Komm da runter! Du weißt, dass ich so was nicht sehen kann!"
Birte lächelte süffisant, breitete ihre Arme aus und balancierte auf dem Brückengeländer entlang.
Nina wandte den Blick ab. Sie hatte panische Angst vor Höhen. Die Brücke war zwar nicht sehr hoch, aber darunter floss nur ein spärlicher Bach, in dem viele spitze Steine lagen.
Ein Sturz konnte durchaus gefährliche Folgen haben.
"Meinst du, wenn ich kopfüber springe, dass ich mir dann das Genick breche? Soll ein schneller Tod sein, habe ich gehört." Birte hörte sich merkwürdig fröhlich an.
"Komm da runter, bitte. Was redest du denn da?"
Nina blickte zu Boden, nur ab und zu riskierte sie einen Blick zu ihrer Freundin, die mittlerweile mit einem Bein auf dem Geländer balancierte und ihre Hände über dem Kopf zusammenhielt, so als ob sie an einer Ballettaufführung teilnahm.
Nina drehte sich fast der Magen um. Ihre Knie wurden weich und ihre Handflächen ganz feucht.
"Birte, bitte!", flehte sie, den Tränen nahe.
"Warum? Wenn ich du wäre, dann wüsste ich was ich machen würde. Aber ich, ich habe keine Möglichkeiten. Nicht bei meinen Eltern. Nicht in meinem Leben."
"Was redest du da? Birte?!"
Nina macht einen Schritt auf ihre Freundin zu, deren Blick leer war. Sie sah aus, als ob sie durch Nina hindurch blickte.
"Birte?", fragte Nina ängstlich und streckte die Hand aus, doch in dem Moment, als sie nach ihrer Freundin greifen wollte, fiel diese rückwärts von dem Geländer herunter. Sie hatte sich einfach nach hinten gelehnt und sich ins Freie fallen lassen.
Ninas Fingerspitzen hatten gerade soeben den Jeansstoff ihrer Jacke gestreift.
Es war still. Kein Schrei. Nur das Gezwitscher einzelner Vögel, deren Gesang wie ein Donnergrollen in der Stille wirkte.
Zwei Wochen später stand Nina vor dem Gebäude, in dem die Beratungsstelle war.
Sie hatte Zettel und Stift in der Hand und notierte sich die Öffnungszeiten. Sie war durch Zufall hier vorbeigekommen, auf dem Rückweg vom Krankenhaus, in dem Birte immer noch um ihr Leben kämpfte.
"Wenn ich du wäre, dann wüsste ich was ich machen würde", hatte Brite kurz vor ihrem "Sturz" gesagt. Nina hatte lange darüber nachgedacht, aber erst letzte Nacht, als sie wieder und wieder im Geiste die Szene bei der Brücke durchgegangen war, wusste sie was ihre Freundin gemeint hatte.
Nina steckte den Zettel in ihre Jackentasche und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.
Sie würde endlich das tun, was sie seit Jahren vorgehabt und immer wieder aufgeschoben hatte. Sie wollte sich wieder zum Geigenunterricht anmelden. Damals, als Neunjährige hatte man ihr eine glänzende Zukunft vorausgesagt, sie war in der Zeitung als Wundekind betitelt worden.
Nun, ein Wunderkind war sie nicht mehr. Sie war älter geworden. Ein Teenager. Und sie würde sicher härter als zuvor an sich arbeiten müssen, um wieder annähernd an die Erfolge anzuknüpfen, die sie hatte. Aber sie hatte Talent. Das wusste sie. Und den Wunsch. Ein Wunsch, der so tief in ihr verborgen gewesen und von all ihren Ängsten verschüttet war, aber Birte hatte ihn wieder freigelegt.
Lächelnd blickte Nina zurück, in die Richtung, in der das Krankenhaus lag.
Mit den Lippen formte sie die Worte "Ich habe es verstanden. Danke."
Eingereicht am 29. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.