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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsselreiz

©  Svea

Wie so oft im Leben war es der Zufall, der mir dieses Abenteuer bescherte. Es war an einem Montagmorgen vor einigen Wochen, als ich nichts ahnend die Treppe meines Wohnhauses hinunterging. Ich war noch nicht ganz wach und auch nicht gerade von Freude auf die neue Bürowoche erfüllt. Ich hing meinen sonntäglichen einsamen Träumen nach - in einer Mischung aus vager Hoffnung, dass sich wenigstens der eine oder andere davon am kommenden Wochenende erfüllen möge, und stiller Resignation. Aber bis dahin lagen noch fünf langweilige Tage vor mir.
Allerdings wurde ich schlagartig wach, als ich auf halber Treppe sah, wie jemand die Wohnung unter der meinen verließ. Eine Frau, rothaarig, nicht mehr die Jüngste, aber recht hübsch. Sie schloss die Tür ab und stiefelte vor mir abwärts, offenbar ebenso in Gedanken versunken wie ich es eben noch gewesen war. Ihr beschwingter Gang allerdings ließ darauf schließen, dass sie weder von vager Hoffnung noch von stiller Resignation erfüllt war. Ich hatte sie schon an manchen Wochenenden hier gesehen - vor allem aber hatte ich sie gehört, was zu meinen Träumen einiges beigetragen hatte. Zu meiner Resignation auch. Sie gehörte zu dem Typ, der in der Wohnung unter mir lebte, und der beschäftigte meine Fantasie schon seit längerem. Er war ebenfalls nicht mehr der Jüngste, und wenn man ihm auf der Strasse begegnete, wäre man nie auf die Idee gekommen, was für ein phänomenales Liebesleben er hatte. Nun, recht ansehnlich war er ja, mit schönen weißen Haaren, auf attraktive Weise zerfurchtem Gesicht und einer betont intellektuell wirkenden Brille auf der Nase. Und aus seiner Wohnung kamen allwöchenentlich Lustgeräusche. Lustgeräusche vom Feinsten, kann ich Ihnen sagen. Manchmal habe ich die Hellhörigkeit des Hauses deshalb schon verflucht - aus meiner Wohnung drangen niemals Lustgeräusche.
Ich empfand einen deutlichen Anflug von Neid, als ich hinter der Frau hinab stieg. Der Anflug gipfelte in einem Stich - genau in die Stelle, wo ich am empfindlichsten bin und wo ich in der letzten Zeit am meisten gedarbt hatte - als sie den Schlüssel in den Briefkasten warf. Dann öffnete sie mit Schwung die Haustür und war draußen.
Nichts wäre passiert, wenn ich nicht wegen des Stichs einen Moment stehen geblieben wäre. Aber ich bin stehen geblieben, weil ich wieder zu Atem kommen musste. Und wie ferngesteuert hielt ich danach auf den Briefkasten des Typs zu und schaute erstaunt meine Hand an, die sich selbständig gemacht hatte und auf den Einwurfschlitz zu kroch. Dann schlüpfte sie ins Innere des Briefkastens und ich dankte allen Teufeln der Hölle dafür, dass ich schmale Handgelenke habe. Meine Hand glitt ziemlich mühelos hinein bis auf den Grund und fischte erfolgreich nach dem Schlüssel. Und sie kam ebenso mühelos wieder heraus, wie sie hinein gerutscht war. Mit dem Schlüssel.
Dem Schlüssel zu was? Ich stand still, während die Gedanken in meinem Kopf rasten und ich spürte, wie sich mein Mund zu einem diabolischen Grinsen verzog. Ich beschloss, im Büro zu spät zu kommen und mich erst einmal ein wenig auf verbotenem Terrain zu tummeln. Ich stieg also die Treppe wieder hinauf und ließ vor der Tür des Typs den Schlüssel fallen. Er war schweißnass, das heißt meine Hand war schweißnass vor Aufregung. Wenn mich jemand sah, wie ich in eine fremde Wohnung eindrang ... Augenblicklich beruhigte ich mich: Wer einen Schlüssel in der Hand hat, dringt nicht ein. Er geht hinein. Also hob ich das Corpus delicti auf und tat genau das.
In der Wohnung empfing mich ein zarter und erotisierender Duft nach Räucherstäbchen und irgendetwas Anderes, Kräftigeres und sehr Körperliches. Ein neuer Schreck durchfuhr mich: Was, wenn der Typ zu Hause war? Aber das konnte nicht sein, denn dann hätte die Frau nicht den Schlüssel gehabt. Der Typ war seinerseits im Büro; ich erinnerte mich, dass ich ihn immer früh weggehen hörte, wenn ich mich noch an einer Tasse schwarzen Kaffees festhielt.
Im Flur war es dämmrig und die Tür zum nächsten Zimmer stand halb offen. Die Wohnung war genauso geschnitten wie meine. Ich schlich langsam in Richtung Zimmer, obwohl es für Schleichen eigentlich gar keinen Anlass gab. Dann blieb ich überrascht stehen und schnappte nach Luft. Das Wohnzimmer war kein Wohnzimmer, sondern ein Tempel der Erotik. Einen Moment lang wähnte ich mich auf einem anderen Planeten - einem Planeten der Sinnenlust. Die Wände waren in einem zarten Apricot gestrichen und an der Wand lag eine breite Matratze auf dem Boden. Bezogen mit einem orangefarbenen Laken und bedeckt mit Leoparden gemusterten Kissen. Alles war ordentlich, nicht zerwühlt. Die Rothaarige hatte offenbar aufgeräumt, bevor sie die Wohnung verlassen hatte. Aber die Schwingung einer heißen Liebesnacht hing unverkennbar im Raum und veranlasste die Härchen in meinem Nacken dazu, sich kribbelnd aufzustellen.
Über dem Lustlager hing die Fotografie einer weiblichen Brust. So ähnlich wie meine, dachte ich, klein und fest. Aber diese Brust hier wurde angeschaut und als Anregung für die Sinne gewürdigt, ganz im Gegensatz zu meinem eigenen vernachlässigten Busen.
Ansonsten enthielt das Zimmer nicht viel, abgesehen von der Ebenholzstatue eines afrikanischen Gottes mit erigiertem Phallus und einigen weiteren erotischen Bildern, was aber ganz ungemein zu seinem Reiz beitrug: ein Raum, der schönste und größte der Wohnung, nur für die Lust.
Da ich meine Frustration hier drinnen nicht länger aushielt, beschloss ich, ins Büro zu gehen und vorher den Schlüssel in den Kasten zu werfen. Ersteres tat ich, letzteres nicht, was ich aber erst mittags bemerkte, als ich zufällig in meiner Jackentasche nach einem Aspirin fahndete. Mittlerweile hatte ich nämlich die wahrscheinlich übelsten Kopfschmerzen des einundzwanzigsten Jahrhunderts und beschloss, mich krank zu melden. Mein Chef hatte vollstes Verständnis dafür. Ich sähe wirklich sehr nach beginnender Grippe aus, meinte er, und ich solle mich umgehend ins Bett legen.
Der Schlüssel! In dem Moment, wo meine Fingerspitzen ihn ertasteten, waren meine Kopfschmerzen wie weggezaubert. Nach Hause ging ich trotzdem, oder deswegen, um ehrlich zu sein. Genauer gesagt, ich ging nicht eigentlich nach Hause, sondern in die Wohnung unter meiner. So früh kam der Typ bestimmt nicht zurück.
Ich weiß wirklich nicht mehr, welcher Teufel mich geritten hat, denn ich zog mich aus, legte meine Sachen auf einen ordentlichen Stapel unter der Flurgarderobe und ging unter die Dusche. Das heiße Wasser machte mich vollends wach, und ich genoss das Prickeln auf meiner Haut. Dann trocknete ich mich mit einem der Handtücher des Typs ab, das von seiner Morgendusche noch feucht war - und stellte dabei fest, dass er geradezu unglaublich gut riechen musste. Wenn sogar etwas davon am Handtuch hängen blieb ...
Wahrscheinlich war es der Duft, der mich bewog, mutig weiter auf Abenteuerpfaden zu wandeln. Ich nahm meinen Kleiderhaufen und versteckte ihn in einem Schrank im Arbeitszimmer, wobei ich wieder das diabolische Grinsen auf meinem Gesicht bemerkte. Und dann - schlüpfte ich ins Bett. Der Duft hüllte mich ein, und in mir wurden Lustempfindungen wach, die ich schon fast vergessen geglaubt hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen und die Wellen der Erregung genossen habe, die mich durchpulsten. Jedenfalls schreckte ich hoch, als ich plötzlich einen Schlüssel im Schloss hörte. Keine Chance mehr zum Fliehen! Das Grinsen auf meinem Gesicht wollte allerdings auch gar nicht, dass ich floh. Im Gegenteil. Also zog ich die Leopardendecke über mich und machte mich unsichtbar. Aber nicht aus Gründen des Versteckens, meinte das Grinsen. Und das Zittern, das sich meiner bemächtigte, war auch nicht auf Angst begründet. Ich wartete und lauschte, hörte, wie der Typ in die Küche ging und den Kühlschrank öffnete. Ich hörte ihn umhergehen und dann vernahm ich, wie die Badtür ins Schloss fiel. Hoffentlich geht er jetzt nicht unter die Dusche und wäscht den ganzen Duft ab, dachte etwas neu Erwachtes und zugleich Uraltes, Gieriges in mir. Ich will mich daran berauschen, wenn er mich hier findet!
Und gefunden zu werden war ja wohl unausweichlich, indem ich meine letzte Fluchtchance bewusst verspielte, meine Kleider zu holen und zu verschwinden, solange er im Bad war.
Er duschte wirklich nicht. Er kam bald wieder heraus, und an dem weichen Geräusch seiner Schritte bemerkte ich, dass er barfuss war. Er hob die Bettdecke - und ich blickte ihm voll ins Gesicht. Er war so erstaunt, dass ihm buchstäblich der Mund offen stand. Und er war nackt. Dann schloss sich sein Mund wieder teilweise. Teilweise deshalb, weil er lachte. Er lachte lauthals und ließ sich dabei neben mich fallen. "Ich glaube, ich muss mal öfter mein Bett aufräumen", keuchte er und rang nach Luft. "Wenn ich da so etwas Nettes drin finde ..." Dann redete er aber nicht mehr viel, sondern küsste mich, und dann streichelte er mich und ich ertrank in Wellen von Duft und Lust. Dann folgten der heißeste Abend und die heißeste Nacht meines bisherigen Lebens. Das Einzige, was ich bedauerte, war die Tatsache, dass ich am Dienstagmorgen so früh aufstehen musste. Den Schlüssel wollte der Typ mir nämlich nicht überlassen. "Der ist für Seva", meinte er. "Ich habe gestern gar nicht bemerkt, dass er nicht im Kasten lag."
Dabei lächelte er so verschwörerisch, dass ich ihn nicht missverstehen konnte: Der Sonntag und der Schlüssel gehören Seva. Montagsmorgens wirft sie ihn in den Kasten. Ich bin dann aber schon weg, weil ich an diesem Tag jetzt viel früher ins Büro gehe als sonst. Dann bin ich nämlich nachmittags zeitiger fertig. Ich komme vor dem Typ nach Hause, fische den Schlüssel heraus, gehe unter seine Dusche, trockne mich mit seinem Handtuch ab und verstecke mich unter der Leopardendecke. Und der Typ findet jedes Mal, dass es sich lohnt, montags sein Bett aufzuräumen.


Eingereicht am 27. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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