Henriette war seit jeher stolz auf ihre gute Haltung. Schon in ihrer Jugend hatte der Vater sehr auf einen aufrechten Gang geachtet. Er hatte sie den Spazierstock oder einen Regenschirm ins Kreuz legen lassen, wenn sie gemeinsam im Tiergarten spazieren gingen. Natürlich waren sie nicht nur zur Belustigung im Park herumflaniert. Der Vater hatte sie lateinische und griechische Sprüche aufsagen lassen. Er war der Ansicht, dass frische Luft und ziemliche Bewegung auch dem Gedächtnis eines Mädchens nur förderlich sein könnten. Henriettes Vater war Lehrer für alte Sprachen und Geschichte am Lyzeum. An die Mutter kann sie sich nicht mehr gut erinnern. Freilich hätte der Vater lieber einen Sohn gehabt. Das hatte er oft zu Henriette gesagt. Den hätte er dann Herrmann genannt und, je nach Begabung, zum Studieren oder zum Militär geschickt.

Henriette paukte die lateinischen und griechischen Sprüche, wie man es von ihr verlangte. Sie besuchte die Haushaltungsschule und lernte wie man als künftige Gastgeberin den Esstisch hübsch für eine Gesellschaft herrichtet, wie man beim Braten eine anständige Sauce bekommt und auch im Übrigen eine gute Ehefrau ist. Sie hielt sich bei alledem außerordentlich gerade. Und sie wartete.

Der aufrechte Gang ist das Einzige, was Henriette von damals geblieben ist. Ihre Haare sind ergraut und dünn geworden. Trotzdem trägt sie noch immer einen Dutt, auch wenn die schönen Perlmuttkämmchen seit ein paar Jahren nicht mehr richtig darin halten wollen. Seitdem ihr Mann Leopold gestorben ist, hat sie ihre Garderobe völlig auf Schwarz umgestellt. Gelegentlich lässt sie eines der knielangen Kleider ändern, je nachdem ob sie etwas dicker oder dünner geworden ist.

Henriette hat nie viele Freundinnen gehabt. Die, die sie hatte, sind tot. Nach der Beerdigung der letzten Freundin, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof nämlich, hat sie sich den Pudel gekauft. Den Pudel hat sie nach ihrem verstorbenen Mann Leopold genannt. Das ist hilfreich, denn sie bringt Namen schnell durcheinander. Es stört sie auch nicht, dass Leopold eigentlich ein Mädchen ist.

Mit dem Pudel geht sie dreimal am Tage um den Block. Jeden Tag führt sie ihr Weg dreimal am Charlottenburger Rathaus, am Stadtbad und an der Deutschen Oper vorbei. Jedes Mal zieht Leopold sie auf Höhe des Stadtbades an eine bestimmte Hausecke, schnüffelt und hebt das Bein, denn auch Leopold selbst hat bereits vergessen, dass er eigentlich ein Mädchen ist. Und immer wenn Leopold das tut, zerrt Henriette ungeduldig an seiner Leine und stößt so wüste Beschimpfungen und Todesdrohungen zwischen ihren dünnen Lippen hervor, dass vorbeieilende Passanten verblüfft stehen bleiben und das Schauspiel, das die alte Dame da mit dem weißen Hund spielt, mit offenem Munde verfolgen. Manche Frau, die das miterlebt, fürchtet sich plötzlich vor dem Altwerden und ist am Abend besonders nett zu Mann und Kind.