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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Meine Insel, mein Schlüsselerlebnis
© Heidi Görgen
Die Tür vom Flughafen auf Santa Maria öffnete sich und mein erster Gedanke war: das muss das Paradies sein.
Zum ersten Mal auf den Azoren, wurde ich nach meiner Landung von jener deutschen Familie abgeholt, die mir ihr Ferienhaus vermietet hat. Thomas, der Vater, dessen Restfamilie in Deutschland lebt, mit einem etwas klein geratenen Spitz-Chow-Chow-Schäferhund; Mohrle, ein sehr großer schwarzer Kater; Tanja, eine polnische Steppenpferd-Schimmelstute; Flora, eine braune Isländerstute und Rosa, einem Hängebauchschwein, zog es vor, mit seiner Frau Maria und seiner Tochter Jenni dem konsumterrororientierten Festland den
Rücken zu kehren, um die Freiheit des Insellebens zu genießen.
Von Hortensien, Azaleen und Drachenbäumen umsäumte Straßen lassen die Fahrt durch das Inselinnere zu einem Genuss werden. Die Entdeckung der Inselvegetation begeistert mich mehr und mehr. Meine Tage und auch Nächte waren fortan vom Eintauchen in die Natur und der Musik des Schweigens geprägt. Ja, hier könnte ich leben, war mein ständiger Gedanke und mein ernster Entschluss, alles dafür zu tun.
In der fruchtbaren Vulkanerde wächst und gedeiht alles in einer sinnesbetäubenden Vielfalt von Farben und Düften und lässt mich an verwunschene Prinzessinnen und längst vergangene Königreiche denken. Der dramatische Wechsel von Natur und Meer, die lebendigen Aquarelle, deren Grün- und Blautöne vorherrschen und die spiegelartigen Reflexe auf der Wasseroberfläche lassen mich glauben, ich sei Alice im Wunderland.
Die Fotos von jenem Ferienhaus versprachen eine traumhafte Lage mit einer überwältigenden Aussicht auf das Meer. Das Meer ist überall, denn ich kann die idyllische Landschaft der Insel umrunden, mich dabei am Rhythmus des ländlichen Lebens erfreuen. Eins sein mit der Natur, sie zu riechen, zu sehen, alles in ihr aufsaugen zu können, wie ein Schwamm das Wasser, wandern zwischen den schachbrettartigen grünen Mustern der Weinranken und den schwarzen Steinmauern aus Lava, lassen mich irdisches Glück empfinden. Voll
gesogen mit diesem Lebensglück versinke ich in den tiefen Buchten, die die Küsten prägen. Stelle mich der Herausforderung der wilden Gischt des Atlantiks und tanze in Gedanken meinen eigenen Boogie in der Schwerelosigkeit der immer wieder neu auf mich zukommenden Wellen.
Wir erreichen unser Ziel unweit der Bucht von Maja. Eingebettet in üppiges Grün öffnet mir das Ferienhaus uneingeschränkte Blicke auf das Meer und endlos viele Silhouetten von Bergen, Tälern, Feldern und Wäldern, die sich vor dem Blau des Himmels abzeichnen. Es erinnert mich an ein Puppenstübchenhaus. Der landestypische Stil dieses renovierten Bauernhauses lässt spüren und fühlen, wie die Menschen früher hier gelebt haben müssen. Jede Wand, jedes Zimmer, jedes Detail atmet und erzählt Geschichten aus längst vergangener
Zeit, bevor die Azoreaner aufgrund großer Armut ihre Häuser verließen, um nach Kanada zu gehen. Egal, wohin ich schaue, ich sehe stets den Atlantik, die Natur, schaue in diese endlose Weite, die mir das Gefühl gibt, unendlich frei zu sein.
Diese Insel ist meine Impression, der Schlüssel zum Glück, den es galt zu finden, bis ich entdeckte, dass er hier auf Santa Maria steckt.
Eingereicht am 26. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.