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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zwischen den Welten

©  P.A. Sandor

Meine Bestimmung fing in einem Spiegel an. Der Spiegel war nicht mal etwas Besonderes. Nur eine ovale Scheibe, ohne Schnörkel, ohne Rahmen, ohne Charakter. Er hing hoch an einer Wand und ich musste auf einen Stuhl klettern, um an ihm zu gelangen.
Ich schaute mich in diesem Spiegel an, doch zurück blickte er, Merdian.
Zuerst sah ich nichts. Nicht einmal mein Gesicht spiegelte sich in ihm. Es war so, als stünde niemand vor dem Spiegel. Aber dann hörte ich ein leises Lachen und es schien direkt aus dem Glas zu kommen. Kalte Angst umfasste mein Herz und ich fing an zu zittern. Ich wollte gerade aus vollem Hals schreien, obwohl mich niemand hätte hören können, als eine samtige Stimme zu mir sprach: "Hab keine Angst, Amneris. Es geschieht dir nichts, denn ich bin dein Freund!"
Starr vor Angst, wimmerte ich leise vor mich hin.
"Benutze Deine Kraft, dann kannst du mich sehen!", sagte wieder die samtige Stimme.
"Was für eine Kraft?", stotterte ich.
"Oh, du weißt noch nichts davon! Gut, dann werden wir sie gemeinsam entdecken. Es wäre einfacher gewesen, wüsstest du um was es geht. Aber es lässt sich nicht mehr ändern und ich brauche dich, so dass wir keine Zeit zu verlieren haben."
Während die Stimme aus dem Spiegel sprach, wurde ich ruhiger. Von Neugier getrieben, berührte ich mit den Händen die Spiegeloberfläche und fühlte die Kälte des Glases an meinen Finger. Gleichzeitig aber füllte mich eine wohltuende Wärme aus, die mir das Gefühl gab, endlich zuhause zu sein. Ich schloss meine Augen und ließ mich streicheln. Es tat so gut.
"Amneris, öffne jetzt deine Augen. Du hast es ganz ohne meine Hilfe geschafft. Was bist du für ein wunderbares Geschöpf und was für eine Schülerin! Ich freue mich, durch dich leben zu können!"
Die Gefühle in mir waren so mächtig, dass ich mich weigerte, die Augen zu öffnen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diese Wärme und Geborgenheit in mich aufgesaugt habe. Aber auch nachdem ich die Augen geöffnet hatte, blieb es bestehen.
"Schaue dich im Spiegel an, Amneris!", drängte mich die Stimme sanft.
Mein Blick erfasste den Spiegel, aber ich sah mich nicht. Ich sah ein wunderschönes Gesicht, noch durchsichtig aber sehr ausdrucksfähig. Es schaute mich aus tiefblauen Augen an, voller Liebe, während die Konturen sich festigten. Es wurde ein Mann daraus. In meinen Augen der wunderschönste überhaupt, aber wie viel Erfahrung hatte ich denn schon? Lächelnd streckte er seine Hände aus und umarmte mich.
"Ich musste so lange warten, aber jetzt bin ich wieder da. Du hast mich befreit und du wirst mir helfen, meine Bestimmung zu erfüllen. Dafür helfe ich dir, die Deinige zu erreichen. Was für ein Gespann!"
Ich lag klein und verloren in seinen Armen und verstand kein Wort von alldem was er erzählte. Aber ich hatte keine Angst und das Ich-bin-zuhause-Gefühl wurde nur noch stärker.
"Ich bin Merdian. Ich bin so etwas wie eine Mischung zwischen einem gefallenen Engel und Vampir. Es gibt nur wenige Menschen, die mich sehen und noch weniger, die mich zurückholen können, so wie du es gemacht hast, Amneris. Ich muss sechs Mal wiedergeboren werden und Menschen wie dich durch das Leben begleiten, bis ich in die Ewigkeit übergehe. Ich bin dein Begleiter."
Ich schaute ihn mit großen Augen an und um mich spann sich goldenes Licht.
"Oh, ja! Genau das ist es", flüsterte Merdian und ließ mich los.
Meine Augen befanden sich in der gleichen Höhe wie die seinen, daher nahm ich an, ich stünde noch auf dem Stuhl. Dem war aber nicht so. Ich schwebte im Raum und fühlte nichts. Auge in Auge mit Merdian, leicht wie ein Hauch Wind, strahlte ich Licht aus und bewegte mich ohne den Boden zu berühren.
"Das wird sich mit der Zeit ändern." Merdians Stimmer durchdrang nur mühevoll zu mir. "Du wirst lernen, es unter Kontrolle zu halten. Und nicht nur das, sondern, alles was du kannst, denn es ist gefährlich so etwas zu können. Verstehst du mich, Amneris?"
"Ja.." hauchte ich, unfähig damit aufzuhören.
*****
"Amneris? Amneris, wo bist du denn?"
Die Stimme meiner Großmutter zwang mich zur Realität zurückzufinden.
Erschrocken mich vor dem Spiegel zu finden, stand sie mitten im Raum und fragte nervös: "Du hast doch nicht in den Spiegel geschaut, oder? Was tust du denn auf dem Stuhl?"
"Oh, ich wollte nur ein wenig Aufräumen und Staub wischen, um dir zu helfen. Aber bestimmte Stellen sind mir doch noch zu hoch, und so musste ich mir helfen. Da bin ich auf den da geklettert ...", sagte ich und zeigte auf den Stuhl. "Du bist mir doch nicht böse, oder?"
"Aber nein, Kind!", sagte meine Großmutter und eilte auf mich zu, um mich in den Arme zu nehmen. "Du solltest trotzdem aufpassen. Vor allem wenn du alleine hier bist!"
Glücklich bei ihr zu sein, erwiderte ich ihre Umarmung und versprach aufzupassen. Aber ihre Nervosität entging mir nicht, auch wenn ich nicht wusste, wie ich sie einordnen sollte. Voller Erwartung drehte ich mich um, hoffend Merdian wäre doch noch da. Denn ich wollte ihn meiner Großmutter zeigen. Ich wollte in die Welt hinaus schreien: "Ich habe endlich einen Freund gefunden, jemand der mich so mag, wie ich bin!" Aber der Raum war leer, der Spiegel hing zu hoch. Großmutter schaute mich an und nahm den suchenden Blick wahr. Ihr Gesicht wurde bleich.
"Hast du ihn gesehen? Amneris, was hast du denn getan?"
Ich strahlte. Wie schön, also wusste meine Großmutter auch, dass Merdian hier war.
"Ja, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Und er ist so gut und so freundlich! Großmutter, niemand, außer dir, hat mich so gerne wie Merdian. Er ist mein Freund und ich bin nicht mehr alleine!"
"Ach, Amneris! Ich wollte, es wäre dir erspart geblieben. Aber dem ist nicht so, also muss ich dir alles erzählen."
Die Stimme meiner Großmuter wurde leise und ihre Augen feucht. Ich war verwirrt. Warum ist sie denn so traurig? Ein Freund - es ist doch ein Grund zur Freude!
"Komm, Kind! Gehen wir in die Küche. Da lässt sich alles besser erzählen."
Hand in Hand verließen wir das Zimmer und gingen zusammen in den hellen Raum, der uns als Küche diente. Es war ein schöner Platz und ich habe mich dort immer gut gefühlt. Meine Großmutter schien zu merken, dass ich fröhlicher wurde, denn sie sagte voller Ernst zu mir: "Sieht du es? Fühlst du es? Es ist die Sonne ... Es ist das Licht ... es ist die Hälfte deines Selbst! Das alles ist in dir. Es macht dich fröhlich und gütig. Aber in dir ist auch die andere Hälfte. Die Dunkelheit ... Die Nacht ... Der Mond. Auch das bist du. Alle Menschen vereinen diese zwei Seiten in sich. Wenn das Gleichgewicht stimmt, ist alles gut. Aber sogar bei normalen Menschen stimmt es nicht immer. Du bist kein normaler Mensch, Amneris! Du bist eine Auserwählte ..."
Steif stand ich mitten im Raum und wartete. Meine Freude war wie weggeblasen und ich versuchte verzweifelt, den Worten meiner Großmutter zu folgen. In mir schrie die Angst, denn ich nahm nur wahr, dass ich anders war. Ich wollte nicht anders sein. Ich wollte keine Auserwählte sein. Was zum Teufel ist eine Auserwählte?! Ohne mich aus den Augen zu lassen, erzählte meine Großmutter weiter.
"Wesen wie du kommen wie die Menschenkinder auf der Welt. Sie haben einen Vater und eine Mutter, besitzen ein Körper und habe eine Aufgabe zu erfüllen. Solche Wesen kommen selten zu uns und jedes Wesen hat eine andere Bestimmung."
Inzwischen konnte ich folgen. Sie redete nicht mehr von mir sondern von diesen Wesen. Es war wie ein Märchen. "Vielleicht bin doch nicht anders!", dachte ich im Stillen bei mir.
"Wesen wie du können sich nicht in dem Spiegel sehen", fuhr sie fort "Aber sie können durch den Spiegel Verbindung mit ihrer Welt aufnehmen. Und solche Wesen haben immer einen Begleiter. Der Deine ist Merdian. Ich wollte es dir ersparen, so schnell von deinem Schicksal überrollt zu werden. Deswegen habe ich alle Spiegel aus diesem Haus entfernt. Bis auf einen. Und den habe ich so hoch wie möglich aufgehängt. Was du für eine Bestimmung hast, Amneris, das weiß ich nicht", fuhr sie fort. "Ich hoffte nur, du wärst nicht stark genug um diese Gabe weiter zu tragen."
Traurig blickte sie mich an, ihr Gesicht war weich und voller Liebe.
"Ich wollte dich nicht verlieren. Vielleicht hätte ich es dir früher erzählen sollen und dich nicht unvorbereitet auf das Treffen mit Merdian lassen. Aber du bist erst sechs Jahre alt und ich wollte dich beschützen!"
Tränen rollten aus ihren Augen und ab und zu verfing sich so ein glitzernder Diamant in den tiefen Falten ihres Gesichts. Mein Herz zog sich zusammen.
Schüchtern nahm ich die Hand meiner Großmutter in meine und versuchte sie zu trösten. Es war ja gar nicht so schlimm. Na ja, ich war ja anders, aber wer wusste es schon! Ich musste nicht weg und liebte meine Großmutter über alles. Lächelnd zog ich an ihre Hand und versuchte mich mit ihr im Kreis zu drehen. Gleichzeitig sprach ich meine vorherigen Gedanken aus: "Es nicht schlimm, Großmutter. Ich bin nicht böse und habe dich ganz doll lieb. Wir bleiben zusammen und nichts wird uns trennen."
Durch die Tränen versuchte auch sie zurückzulächeln, die Traurigkeit wollte aber nicht aus ihrem Gesicht weichen. Ich sah es ihr an, sie wollte weiterreden. Also, setzte ich mich auf einem Stuhl und wartete geduldig, dass sie den Mut fand um weiter zu reden.
"Du bist nicht alleine geboren. Mit dir zusammen kam auch ein Junge auf die Welt, dein Bruder. Du bist ein Zwilling. Der Junge ist nicht wie du, sondern ein Menschenkind. Er lebt mit deinen Eltern zusammen in deinem Elternhaus. Dich wollten sie nicht haben, denn sie wussten es auch. Sie haben die Zeichen vor deiner Geburt gelesen und verstanden. So nahm ich dich bei mir auf und musste mit allen brechen, die Angst vor dir hatten ..."
"Ich habe einen Bruder ...", flüsterte ich zwischen Hoffnung und Zweifeln gefangen. "Warum kann ich ihn niemals sehen? Weiß er auch, dass er eine Schwester hat?"
"Amneris", versuchte meine Großmutter mich zu beruhigen, "glaube es mir, es ist besser so. Diese Leute wissen nicht viel und haben Angst. Wenn man Angst hat, ist man ungerecht und böse. Und sie töten das, was sie nicht verstehen ..."
Ohne ihr zu zuhören, frage ich ungehalten: "Wie heißt er denn? Großmutter, sag es mir!"
"Julien. Sein Name ist Julien."
Flehend schaute sie mich an und versuchte mich zur Vernunft zu bringen.
"Schau Amneris, ich habe versucht dich mit deiner Familie zusammenzubringen. Sie haben sich geweigert mit mir auch nur darüber zu reden! Du muss Geduld haben, Kind. Es wird auch, es dauert nur seine Zeit."
Meine Wut war verraucht und ich weinte inzwischen bitteren Tränen. Es tat weh, anders zu sein. Es tat auch weh, keine Freunde zu haben. Noch mehr tat es weh, eine Mutter zu haben, die mich nicht sehen wollte. Ein Vater, der mich nicht zur Kenntnis nahm und ein Bruder, dessen Name ich nicht mal kannte.
Starr sitzend auf meinem Stuhl weinte ich und mein Herz weinte mit. Das Licht in der Küche veränderte sich und ich merkte, dass die Veränderung von mir ausging. Es war ein trübes Licht, immer noch golden aber irgendwie schmutzig. Gleichzeitig glaubte ich, mein Herz wird zerreißen vor Schmerz.
Und Durst quälte mich. Vage nahm ich einen Schrei wahr und zusätzliche Geräusche kamen mir ins Ohr.
"Hier, trink!", sagte eine Stimme und jemand hielt einen Glas vor meinem Mund bereit. Mit beiden Händen fasste ich das Glas und trank es aus einem Zug leer. Das Getränk hatte einen metallischen Geschmack und mir schauderte.
Durch das Trinken wurde mein Blick klarer, da ich mit dem Weinen aufhören musste um richtig schlucken zu können. Durch den Tränenschleier sah ich Merdian, der meine Großmutter böse anfunkte. Aus seinem Handgelenk sicherte Blut und seine Gestalt verlor wieder an Konturen.
"Ich bin nicht stark genug, um ihr helfen zu können", fauchte er meine Großmutter an. "Warum hast du ihr alles erzählt? Es hätte Zeit gehabt und ..."
Ich hörte nicht mehr zu. Mein Blick streifte meine Hände und das Glas, das ich immer noch hielt. Aus meinem Mundwinkel rollte ein Tropfen Flüssigkeit, den ich abfing und genauer anschaute. Es war Blut. Merdians Blut. Hysterisch fing ich an zu lachen und das Licht in dem Raum veränderte sich mit. Stumm betrachteten mich meine zwei Gefährten und wir alle wussten: mein Weg hatte angefangen.
"Oh nein! Das Licht und die Dunkelheit! Der Tag und die Nacht! Das Gute und das Böse! Merdian, lass es nicht zu! Sie ist noch so jung ...."
Meine Großmutter weinte und rang sich die Hände. Ich schaute sie an, unfähig zu fühlen und fragte mich, was sie wohl hatte. Alles in mir war kalt und versteinert. Inzwischen schrie meine Großmutter Merdian anklagend an.
"Du hast ihr die Gabe der Dunkelheit gegeben. Warum so früh???"
"Warum?", fauchte Merdian zurück. "Weil sonst ihr Herz zu schlagen aufgehört hätte. Weil du ihr alles erzählt hast und weil sie nur gut war. Sie könnte gar nicht anders, als sterben! Nur, ich kann sie nicht verlieren! Weiß du, wie lange ich auf sie gewartet habe? Es ist an der Zeit, dass sie es lernt. Das Gute und das Böse ... Es ist ihr Leben und ihre Bestimmung, Frau! Mische dich da nicht ein!"
Merdians Blut war inzwischen voll in meinem aufgegangen. Meine Augen schossen Blitze und die Gefühle in mir waren tot. Ich spürte nur noch mehr Durst und ich wollte mir holen was ich brauchte. Merdian fing mein Blick auf und drehte sich mir zu: "Nein, Amneris! Noch mehr Blut bekommst du nicht! Du brauchst es nicht ... besser gesagt, nicht mehr! Das, was du bekommen hast, reicht aus, um dich zu das zu machen, was du wirklich bist. Ab jetzt brauchst du eine andere Form von Essen. Lebenskraft. Ich nehme auch Lebenskraft zu mir um mich zu ernähren - in Form von Blut. Du aber brauchst um zu überleben Lebensenergie, Kraft und Seelen von Menschen."
Ein spitzer Schrei entriss sich meiner Großmutters Kehle und sie fiel ohnmächtig auf dem Boden. Ein Sonnenstrahl streifte sie und berührte meine Stirn. Erst da sah ich was ich tat. Ich zapfte in meinem Hunger den Menschen an, der mir am meisten bedeutete. Voller Entsetzen schaute ich Merdian an, hoffend er würde mir helfen. Ruhig und gelassen stand er da und bewegte sich nicht. Ich glaubte zu wissen, was Hass ist und kämpfte verzweifelt gegen meinem Hunger und Durst an. Aber irgendetwas stimmte nicht! Ich wurde nicht satt und meine Großmutter erholte sich zusehend.
"Siehst du", sagte Merdian, "Kräfte und Seelen von kranken Menschen kannst du nicht verwerten. Du brauchst reine, gesunde Energiequellen. Aber du musstest deine Lektion lernen. Das Anzapfen ist nicht so einfach und kostet dich Kraft. Vor allem kannst und darfst du niemand dabei umbringen ....."
Merdian fuhr fort, mir die ersten Schritte in meinem neuen Leben zu erklären, ich hörte aber nicht mehr zu. Ein Satz hing in meinem Kopf - krank.
Großmutter war krank. Hunger und Durst waren vergessen und mein Licht kehrte zurück. Ich kniete neben ihr und berührte sie sanft.
"Ist es wahr, Großmutter? Bist du krank? Was hast du denn?"
Lächelnd blickte sie Merdian an und sagte: "Sie ist immer noch voller Licht und Güte! Merdian, du kannst sie mir nicht entreißen!"
Dann drehte sie ihr Gesicht mir zu und ihre Hand streichelte mich.
"Ja, Kind! Ich bin krank und habe nicht mehr lang zu leben! Habe keine Angst! Bevor es so weit ist, wirst du bei deiner Familie sein! Das verspreche ich dir! Da kann auch Merdian nichts tun, denn er muss dir immer folgen ..."
Schluchzend druckte ich ihre Hand.
"Ich will nicht, dass du stirbst! Bitte Großmutter, sterbe nicht! Merdian, du musst ihr helfen. Sie muss leben ..."
Merdian schüttelte den Kopf und sagte traurig: "Ich bin nicht Gott, viele Sachen können wir nicht tun! Und eine davon ist, den Menschen das Leben zurück zu geben. Ja, wir können heilen. Aber nur solange ihre Seelen fest an dem Körper verbunden sind. Wenn sich das Band auflöst, dann müssen sie gehen. Und wenn du jemand so zurückholst, dann ...."
"Heilen? Wir können heilen? Ich kann heilen!!! Dann kann ich Großmutter helfen ..."
"Amneris!" Merdians Stimme hatte an Schärfe zugelegt. "Du hörst nicht zu! Bei ihr ist es schon zu spät."
Aber meine Hände waren schon unterwegs und tasteten unbeholfen die Umrisse ihres Körpers.
*****
Der Körper meiner Großmutter war dünn und ausgemergelt. Sie war einmal eine sehr schöne Frau, zart und wunderbar gebaut. Sie hatte lange Haare, die ins Licht blauschwarz schimmerten und blaue Augen. Jetzt war sie nur noch zart und zerbrechlich, ihre Haare weiß und die Augen stumpf vor Schmerz. Als ich Ihr Gesicht streichelte, strahlten meine Hände Wärme aus. Eine Wärme, die aus den Handballen strömte und sich in Tausende Lichtblitze verteilte. Das Gesicht vor mir verschwand und ich blicke anstelle dessen in ein Gemisch aus Fleisch, Muskel, Knochen und Gehirnmasse hinein. Die vielen kleinen Lichtblitze streichelten diese Masse und umfassten jede Windung des Gehirns mit einer Geschwindigkeit, die mich staunen ließ. Ich hatte keine Angst, war nicht mal neugierig. Obwohl ich noch nie in meinem Leben solche Sachen gesehen hatte, war es selbstverständlich, dass sie so sind wie ich sie wahrnahm.
Aus der Ferne hörte ich Merdian sagen: "Du kannst es sehen, Amneris. Und nicht nur sehen. Wenn die Frau nicht todkrank wäre, könnten die Lichtblitze alles reinigen, gesund machen. All die Gewebe, die krank wären, wie ein scharfes Messer ausschneiden. Heilen. Ja, mein Kind du kannst heilen. Doch das hat sein Preis. Du musst immer Gut und Böse in Waage halten. Wenn du heilst ist das Gute stark vertreten. Um zu überleben musst du Böses tun. Du musst dich ernähren. Die Menschen, die gesund und dir nahe sind während du heilst, sind deine Nahrung. Aussaugen, Energien trinken, das ist ab sofort dein Essen. Du kannst dich nicht mehr an einem Apfel erfreuen, auch der Geschmack der Himbeere bleibt dir ab sofort verschlossen. Nichts von all dem was du kennst, wird dich noch begleiten. Gleichzeitig darfst du nicht zeigen was du bist, und so tun als würdest du nach menschlichem Maßstab leben. Das ist nicht immer einfach. Gerde in den Momenten, wo du Nahrung zu dir nimmst, bist du schwach ... Ich werde dir zur Seite stehen, dir helfen den Weg zu gehen, der dir bestimmt ist ..."
"Merdian", sagte ich, meine Hände immer noch in der Geschwulst von Knochen und Sehnen, "lass bitte das Sprechen und helfe mir. Ich sehe hier ein Etwas, was nicht hingehört. Etwas was in den vorderen Bereich des ... Hypothalamus ... ... hm ..... Merdian, was ist ein Hypothalamus?" Ich blickte auf ein Gewirr von Windungen von denen ich nichts verstand, und wusste gleichzeitig, dass das pulsierende, schwarze Etwas nicht dahin gehörte. Ich wollte es entfernen, doch meine Kräfte reichten nicht aus. Dunkel erinnerte ich mich an Merdians Worte ... "Wenn das Lebensband abgerissen ist, können auch wir nichts mehr tun. Wir können den Tod nicht aufhalten." Langsam verließen meine Hände das Gehirn, das Licht erblasste und ich sah wieder das liebliche Gesicht meiner Großmutter vor mir. Ein Lächeln umspielte ihren Mund und die Augen blickten sanft herum.
"Amneris, tot zu sein ist nicht schlimm. Hab keine Angst um mich. Wir werden uns wiedersehen, denn in deinem Leben wird nichts unmöglich sein. Mit Merdian an deiner Seite erreichst du deine Bestimmung vor der geplanten Zeit. Und du wirst mächtig, so mächtig, dass du dich zwischen den Welten bewegen kannst. Ich warte auf dich, mein Kind."
Doch das beruhigte ein sechsjähriges Kind nicht unbedingt. Ich wollte meine Großmutter nicht verlieren, auch Merdian nicht, doch meine Kräfte waren noch zu schwach. Mit einem letzten Kraftschub erhob sich meine Großmutter wieder.
"Du hast mir nicht viel Kraft geraubt Kind, mach dir keine Sorgen. Und wir haben noch ein wenig Zeit vor uns, bevor ich sterbe."
Und sie hatte Recht, es war nur ein wenig Zeit, die uns blieb. Sie starb zwei Nächte später, leise wie sie gelebt hatte. Merdian war auf die Jagd.
Das machte er jeden Tag um seine Kräfte zu stärken. Inzwischen schaffte er den Weg durch den Spiegel von alleine, ohne meine Hilfe. Seine und meine Kräfte vereinten sich durch die regelmäßige Nahrung. Auch ich wurde stärker.
In Gestalt des Kindes lebte jetzt ein Wesen, das nicht mit normalen Maßstäben zu messen war. Und das war erst der Anfang.
Als meine Großmutter tot auf ihrem Bett lag, übernahm ich die Verantwortung für mein und Merdians Überleben. Gleichzeitig stellte ich die Verbindung zwischen den Welten her. Leben und Tod.
Diese Verbindung herzustellen und aufrecht zu erhalten, DAS war meine Bestimmung.
*****
Grau und neblig. Die Brücke zwischen den Welten stellte sich als sehr zerbrechlich heraus. Die Welt der Lebenden konnte ich noch sehen, und für einen Moment war die Versuchung zurückzukehren sehr groß. Die Welt der Toten war noch nicht sichtbar ... Hand in Hand mit der Seele meiner Großmutter ging ich den Weg in die Ewigkeit. Die Brücke war schmal und lang ... Jeder Schritt gehörte überlegt und die Kraft, die ich aufbrachte, um den nächsten Schritt zu machen, war immens. Die Seele an meiner Hand kämpfte verzweifelt ... Das Loslassen fiel ihr schwer ... Sie sehnte sich nach dem gerade abgelegten Fleisch und könnte mit ihrer Schwerelosigkeit noch nichts anfangen. Ab und zu blieben wir stehen und blickten zurück. Die Welt der Lebenden erstrahlte in wunderschönsten Farben, obwohl es Nacht war ... Die Seele weinte und litt. Dann sammelte sie wieder Mut und Kraft und ging mit mir weiter. Ich streichelte sanft die ätherische Hülle der Seele, spendete Trost ... Doch der Schmerz der Seele bohrte sich tief in meinen Körper und ich fühlte alles mit. Ich fühlte die zarten Bänder, welche die Seele an den Körper festgehalten haben ... Zerrissen und blutend lagen sie da. Den Körper, atemlos und voller Schmerz, fühlte ich auch. Ich badete in Schmerz und Verlustgefühlen. Ich bestand aus tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und war dazu da, um all den Schmerz in mir aufzunehmen. Ich war der Übergang. Schwer atmend und von Gram gebeugt, ging ich weiter. Ein kleines Kind und eine alte, weise Seele. Der Schmerz meiner Großmutter machte mich traurig. Ich wusste nicht, dass das Sterben so ist. Niemand wusste es. Wer könnte es sich vorstellen. Kein Toter ist je zurückgekommen, um uns über das Sterben zu berichten. Aus der tiefen Schlucht unter der Brücke vernahm ich Merdian Stimme.
"Sei nicht traurig, Amneris. Du darfst den Seelen den Übergang nicht noch schwerer machen. Du hattest großes Glück als Erstes deine Großmutter zu begleiten. Nicht alle Seelen sind gleich, daher ist auch der Schmerz, den du anstelle ihrer empfindest, unterschiedlich. Deine Großmutter ist eine edle Seele und dein Schmerz erträglich."
"Merdian", flüsterte ich, "komm und hilf mir dabei. Ich weiß nicht was ich machen soll!"
"Ich kann nicht helfen, Amneris. Das hier ist dein Weg. Auf die Brücke können nur die Seelen und Wesen wie du gehen. Für jede Seele eine Brücke! Schau dich mal um!"
Ich folgte seiner Bitte und schaute mich um. Inzwischen war die Welt der Lebenden nicht mehr sichtbar. Dafür vernahm ich eine schöne Musik jenseits des Nebels, der die Welt der Toten verschleierte. Links und rechts sah ich andere Brücken. Genauso schmal und lang wie die unsere. Seelen und deren Überbringer waren unterwegs. Einige davon lachten. Es waren die, die sich sehr nahe an der Welt der Toten befanden. Andere Seelen weinten und klagten.
Die Überbringer waren gebeugt vor Schmerz und jeder Schritt war eine Qual.
"Merdian, bist du noch da?"
"Ja Amneris! Ich bin hier, Teil der Ewigkeit. Ich bin nicht allein. Die Überbringer sind Wesen wie du. Auch sie haben solche Begleiter wie ich einer bin. Wir sind eine Gemeinschaft. Bald führe ich dich in die Gemeinschaft ein. Hier, das ist für dich. Ab sofort ist das ein Teil von dir."
Ich verspürte eine zarte Berührung um meinen Hals. Aus meiner Mitte strahlte Wärme und meine Kräfte nahmen zu. Der Schmerz wurde erträglich, mein Blick klarer. Mein Sehvermögen nahm zu und ich sah Dinge, die kein Sterblicher jemals sehen wird. Die Seele an meiner Seite erstrahlte in vollkommener Schönheit. Weißes Licht umgab sie und viele anderen Seelen auch. Vollkommenheit. Je näher an der Welt der Toten, desto vollkommener, strahlender waren sie. Doch es gab auch Dunkelheit und ein paar der Überbringer kämpften um die Rettung der ihnen anvertrauten Seele.
"Merdian, können wir nicht alle Seelen heil hinüber bringen?", fragte ich und fasste instinktiv an meinen Hals. Die Zartheit der Berührung von vorhin spürte ich noch immer heiß auf meiner Haut. Meine Finger schlossen sich um eine Kette. Merdian hatte sie um meinen Hals gelegt. Es war eine lange, silberne, solide Kette, die mir bis zu dem Bauchnabel reichte. An ihr hing eine Fledermaus. Zwei Augen aus Rubin strahlten hell. Die Kette verband mich mit Merdian, mit seiner Kraft. Mein Begleiter.
"Nein, Amneris, nicht alle Seelen sind für die Ewigkeit bestimmt. Auch deswegen sind solchen Wesen wie du wichtig. Ihr kämpft für die Seelen und deren Frieden. Und ihr könnt sie verlieren. Dann müssen diese Seelen unerträgliche Schmerzen erleiden und so lange warten bis ihr, die Überbringer, ein neues Leben für sie erkämpft. Es gibt gute und schlechte Menschen ... Erinnerst du dich? Tag und Nacht? Sonne und Mond? Mann und Frau? All das ist in euch vereint. Nur das Gleichgewicht muss stimmen. Doch das stimmt meistens nicht! Deswegen bist du ein Wesen zwischen den Welten ... Du musst Mensch genug sein, um die menschliche Seite zu kennen und ein Geist, um die Geister und Engel zu besänftigen. Und das bist du, mein Kind. Und jetzt bring die Seele deiner Großmutter zu ihrem Bestimmungsort. Dieser Aufgabe bist du gewachsen, denn deine Großmutter fand das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Ihre Seele ist rein. Außerdem musst du rechtzeitig zurückkommen. Du musst auch ihre sterbliche Hülle begraben, denn sie hatte nur dich!"
Die Seele an meiner Seite wartete geduldig und mit jeder Sekunde wurde sie ruhiger und schöner. Von dem anfänglichen Schmerz war nichts mehr zu spüren.
Auch mir ging es gut. Erst dachte ich, es ist die Kraft von Median, die mir die Schmerzen wegnahm ... Doch nicht nur die zunehmende Kraft half mir die Schmerzen zu beseitigen. Auch die Entwicklung der Seele hatte einen Einfluss darauf. Umso schneller sich der Abschied von dem Fleisch vollzog, desto weniger Schmerzen empfand die Seele und indirekt auch ich. Die Hand der Seele, die Form ihres ehemaligen Körpers veränderten sich auch. Mit jedem Schritt wurde sie leichter, ging nicht mehr, sondern schwebte. Es gab keine Hände, keine Konturen mehr. Nur noch Licht. Wie eine Kugel umfasste dieses Licht das zarte Etwas, was die Seele ausmachte. Sie begann mit mir zu sprechen. Es war kein Sprechen, wie ich es kannte. Es fand in meinem Kopf stand und am Anfang wusste ich nicht, ob ich laut antworten soll.
"Du kannst antworten, wie es dir beliebt ist, Amneris. Wir können dich verstehen."
"Wir? Du bist doch alleine Großmutter."
"Nein, das bin ich nicht mehr. Und auch nicht mehr deine Großmutter. Ich bin ein Teil des Ganzen. Ich gehöre der Ewigkeit. Du hast deine Aufgabe gut gemacht, Amneris. Der Abschied ist mir diesmal nicht so schwer gefallen. Ich werde ein Auge auf dich halten. Denn die Erinnerung deiner Großmutter trage ich jetzt in mir. Und damit auch ihre Liebe zu dir."
"Du sagtest, der Abschied ist dir diesmal nicht so schwer gefallen. Was bedeutet das?"
"Das, mein Kind bedeutet, dass ich viele menschliche Leben gelebt habe. Eins davon war das Leben deiner Großmutter. Ich bin Antheea. Das ist mein Seelennamen."
"Antheea. Das klingt wunderschön. Doch schau, die Brücke geht jetzt zu Ende. O mein Gott, das ist unbeschreiblich!"
Die Welt der Toten hatte ihre nebligen Schleier geworfen und präsentierte sich uns in übermenschlicher Schönheit. Ich war sprachlos. Ich konnte das, was ich sah, nicht verstehen. Kein logischer Gedanke, keine wortreiche Beschreibung war hier möglich. Nur das Gefühl, das Herz konnte so etwas in sich aufnehmen und erfühlen. Antheea schaute mich voller Liebe an und ging ihren Weg alleine weiter. Am Ende der Brücke blieb sie noch einmal stehen, winkte mir zu und schwebte voller Freude ihrer Welt entgegen.
Ich blieb alleine auf der Brücke. Erstarrt in meiner Bewunderung. Ich hoffte mehr zu sehen und wollte weitergehen. Doch meine Füße blieben wie angewurzelt am Boden haften und ich konnte mich nicht bewegen. Gleichzeitig zog wieder der Nebel um die Welt der Toten herum und hüllte sie geheimnisvoll ein.
Lächelnd drehte ich mich um, und ging zufrieden den Weg Richtung Leben zurück. Leicht und leise schritt ich, an meiner Seite Merdian, zwischen den Welten.


Eingereicht am 25. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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