Die Statue des Orange-Rangers
Von Roman Pokorny
Hoch über der Stadt Orange-City befand sich auf einer Steinsäule das Standbild des Orange-Rangers, Behüter der Ehre und Beschützer der Erde gegen unbarmherzige Kämpfer der dunklen Seite. Sein Körper war ganz mit Gold überzogen, sein Helm war auf der linken und rechten Seite mit zwei funkelnden, blauen Saphiren geschmückt, und auf seinem Schwertknauf, das er am Rücken trug, saß ein glänzender roter Rubin.
Eines Abends kam ein Falkenweibchen in die Stadt geflogen. Der Winter nahte, und die Falkin war auf dem Weg nach wärmeren Gebieten.
Als die Falkin die goldene Statue des Orange-Rangers hoch oben auf der Säule sah, ließ sie sich nieder, um sich ein wenig auszuruhen. Aber als sie sich hinkuschelte und ihre Flügel faltete, fiel auf einmal ein großer Wassertropfen neben sie. "Sollte das Regen sein?", wunderte sich die Falkin.
Ein zweiter Tropfen fiel, und ein dritter. Die Falkin schüttelte das Wasser von ihrem Gefieder. "Da nützt mir die Statue wenig, wenn sie nicht einmal Schutz vor dem Regen bietet", ärgerte sie sich. Dann aber blickte sie zum Orange-Ranger auf und sah zur ihrer Verwunderung, dass es keine Regentropfen waren, die da fielen, sondern Tränen, die den Helm des Orange-Rangers hinabrollten.
"Wer bist du", flüsterte die Falkin.
"Ich bin der Orange-Ranger", kam die Antwort.
"Warum weinst du denn", fragte die Falkin neugierig.
"Weil ich soviel Hass und Schmerz sehe", antwortete das Standbild. "Als ich noch lebendig war und ein richtiges Menschenherz hatte, kannte ich keine Tränen, da ich immer von glücklichen Menschen und dem Friede umgeben war. Als Dank für meine guten Taten, stellten mich die Bürger dieser Stadt hier auf diese Säule und nun muss ich auf all dies Böse und Elend der Stadt hinabblicken. Das betrübt mich so sehr, dass ich weinen muss, obwohl mein Herz aus Blei ist!"
Wieder kullerten Tränen über den Helm des Orange-Rangers. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. "In einem armseligen, hässlichen Viertel sitzt jeden Tag eine arme Frau am Fenster. Sie näht von frühmorgens bis spät in die Nacht. Ihr Gesicht ist ganz eingefallen vor Hunger, Müdigkeit und Kummer. Denn im Bett in der Ecke liegt ihr kleiner Sohn. Er hat hohes Fieber und möchte so gern Apfelsinen haben, um seinen Durst zu stillen. Aber sie ist so arm, dass sie ihm nur Wasser geben kann. Bitte,
liebe Falkin, hilf mir. Nimm den Rubin von meinem Schwertknauf an meinem Rücken und bring ihn der Frau."
"Aber ich bin unterwegs, in wärmere Gebiete", antwortete die Falkin, "ich kann nicht hierbleiben, ich muss gleich weiterfliegen. Meine Freunde warten auf mich und es wird bald schneien."
"Nur eine Nacht", bat der Orange-Ranger, "wenn du mir heute hilfst und mein Bote sein kannst! Der kleine Junge hat solchen Durst, und seine Mutter grämt sich so sehr."
Da pickte die Falkin den Rubin vom Schwertknauf des Orange-Rangers und flog damit über die Dächer zum Häuschen der Näherin.
Die arme Frau war so müde, dass sie über ihrer Arbeit eingeschlafen war. Sie merkte gar nicht, wie die Falkin durch das offene Fenster hüpfte und den Edelstein neben ihren Fingerhut legte. Dann flog die Falkin wieder zurück.
"Wie merkwürdig", sagte sie, "mir ist auf einmal ganz warm, obwohl es eigentlich kalt ist."
"Das kommt von der guten Tat, die du heute vollbracht hast", lächelte der Orange-Ranger.
Am nächsten Morgen flog die Falkin durch die Stadt und bewunderte die vielen Sehenswürdigkeiten. Aber sie flog auch durch das Armenviertel, und als sie am Haus der Näherin vorbeikam, sah sie Mutter und Sohn am Fenster stehen. Der Junge hatte kein Fieber mehr und seine Mutter hielt einen Korb mit Apfelsinen in der Hand. Ein glückliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
Bei Einbruch der Dunkelheit flog die Falkin zum Orange-Ranger zurück. "Ich bin gekommen, um dir Auf Wiedersehen zu sagen", zwitscherte sie.
"Kannst du nicht noch eine Nacht bleiben, liebe Falkin", fragte der Orange-Ranger.
"Wie könnte ich? Meine Freunde warten auf mich, und der Winter kommt immer näher. Ich muss fort", antwortete die Falkin.
"In einer Dachkammer drüben im Armenviertel sitzt ein junger Mann an seinem Schreibtisch. Er möchte schreiben, aber hat kein Geld, um Kohlen für seinen Ofen zu kaufen. Seine Hände sind so kalt, dass er die Feder nicht halten kann. Du musst einen Saphir aus meinem Helm picken und dem jungen Mann den Edelstein bringen", sagte der Orange-Ranger traurig.
"Nein, mein Ranger", erwiderte die Falkin entsetzt, "das kann ich nicht." Und sie fing an zu weinen.
"Fälkchen, liebes Fälkchen! Tu, was ich dir sage", gurrte der Orange-Ranger.
Da pickte die Falkin den Saphir aus dem Helm des Orange-Rangers und flog zu dem jungen Schriftsteller. Dieser saß ganz verzweifelt da und hatte seinen Kopf in den Händen vergraben, so dass er die Falkin gar nicht bemerkte, als sie zu ihm in die Kammer flog. Die Falkin legte den Stein vor ihn auf den Tisch und flog ganz leise wieder davon.
Der junge Mann zitterte vor Kälte. Plötzlich fiel sein Blick auf den kostbaren Saphir. Er wollte seinen Augen nicht trauen. "Oh, ein Geschenk des Himmels! Nun kann ich endlich Kohlen kaufen und meine Geschichte zu Ende schreiben. Es gibt doch einen Gott", rief er überglücklich.
Als der Mond aufging, flog die Falkin zum Orange-Ranger und sagte: "Ich möchte mich von dir verabschieden."
"Fälkchen, liebes Fälkchen, bleib noch eine Nacht", bat der Orange-Ranger wieder.
"Aber es wird immer kälter! Es schneit bestimmt bald! Wenn ich jetzt nicht in eine warme Gegend fliege, muss ich elendiglich zugrunde gehen."
Der Orange-Ranger schwieg eine Weile. Dann sagte er: "Unten auf dem Platz steht ein kleines Mädchen, das Streichhölzer verkauft. Aber den ganzen Tag lang hat ihr niemand etwas abgekauft, und wenn sie jetzt nach Hause kommt, wird ihr Vater sie dafür schlagen. Sie hat weder Strümpfe noch Schuhe und auch keine warme Mütze. Bring ihr meinen zweiten Saphir vom Helm!"
"Wenn du willst, bleibe ich heute Nacht noch bei dir", sagte die Falkin. "Aber ich kann dir nicht noch den letzten Saphir auspicken. Das würde auffallen und du kämest in den Schmelztiegel!"
"Fälkchen, liebes Fälkchen, tu, was ich dir sage!"
Da pickte die Falkin den zweiten Saphir aus dem Helm des Orange-Rangers aus und flog zu dem kleinen Mädchen hinunter. Als sie ihm den Edelstein in die Hand fallen ließ, lachte es laut auf vor Freude: "Oh, was für ein schönes, buntes Stück Glas", und lief nach Hause.
Der Falkin wurde es ganz warm ums Herz. Sie flog zum Orange-Ranger zurück und sagte: "Jetzt hast du keinen Edelstein mehr. Aber ich werde bei dir bleiben und dir helfen."
"Nein, kleines Fälkchen", entgegnete der Orange-Ranger, "flieg ruhig davon in wärmere Gebiete."
"Nein, ich werde dich nicht verlassen", sagte die Falkin und kauerte sich zu Füssen des Rangers nieder.
Als der Morgen kam, flog sie davon und sah viele reiche Leute, die in ihren prächtigen Häusern saßen und köstliche Gerichte aßen. Dann flog sie hinüber ans andere Ende der Stadt und sah in die Stuben der Armen, wo sich hungernde Kinder um den Kamin drängten.
Der Orange-Ranger hörte sich an, was die Falkin zu berichten hatte und sagte: "Wie du siehst, bin ich von Kopf bis Fuß mit Gold bedeckt. Du musst mir das Gold mit deinem Schnabel vom Körper picken und es den armen Leuten bringen."
Die Falkin tat, wir ihr geheißen und brachte den armen Leuten der Stadt kleine Blätter aus Gold. Als sie die Gesichter der Kinder sah, die sich beim Anblick des Goldes freuten und die Mütter, die davoneilten, um Brot und Kohlen zu kaufen, wurde es der Falkin wieder ganz warm ums Herz.
Eines Tages fing es schließlich an zu schneien. Der Schnee bedeckte die Straßen und Dächer und schien alles in einen warmen, weißen Mantel zu hüllen. Aber in Wirklichkeit war es kalt und die Falkin zitterte unter ihrem dünnen Gefieder. Sie wusste, dass sie vor Kälte sterben würde, aber sie konnte es nicht übers Herz bringen, den Orange-Ranger zu verlassen, denn sie liebte ihn.
Bald hatte sie nur noch soviel Kraft, um ein letztes Mal auf die Schulter des Rangers zu fliegen.
"Ziehst du nun endlich in eine wärmere Heimat, liebes Fälkchen? Du bist schon viel zu lange hier in der Kälte geblieben. Küss mich zum Abschied, denn ich liebe dich", flüsterte der Ranger.
"Ich werde die wärmeren Orte nie wiedersehen, mein Ranger", sagte die Falkin mit letzter Kraft, "denn ich fühle, dass ich sterben muss."
Sie küsste den Orange-Ranger auf die Lippen und fiel dann tot zu Boden.
Am nächsten Morgen schlenderten zwei Ratsherren über den Platz und sahen zur Statue hinauf. "Ach du liebe Zeit", sagte der eine, "wie sieht denn bloß unser Behüter der Orange-Ranger aus? Der Rubin steckt nicht mehr in seinem Schwert, seine zwei Saphire am Helm fehlen und das ganze Gold ist abgeblättert. Das könnte ja die Statue eines Rangers sein, der 10 Runden gegen Mohammed Ali hinter sich hatte. Und was macht der tote Vogel hier? Oh, schaut her, es ist ein Falke. Armes Tier. Dürfte wegen der
verfluchten Kälte umgekommen sein. Was wollte sie überhaupt hier, in der Stadt?"
"Das ist doch völlig egal. Die Vogelleiche schmeißen wir auf den Müll, dort wo sie hingehört, denn sonst demonstrieren die Bürger noch wegen Umweltverschmutzung", meinte der andere.
Der Rat der Stadt beschloss, das Standbild des Orange-Rangers einzuschmelzen und daraus eine neue Statue - die des Bürgermeisters - zu machen.
Als die Arbeiter den Schmelzofen säuberten, sahen sie, dass das bleierne Herz des Orange-Rangers nicht geschmolzen war. "Das ist aber merkwürdig", murmelte der Vorarbeiter, nahm das Herz und warf es auf den Müll, neben den toten Vogel.
Oben im Himmel aber sagte der liebe Gott zu einem seiner Engel: "Bring mir die beiden kostbarsten Dinge, die du in der Stadt finden kannst."
Der Engel flog davon und kehrt mit dem bleiernen Herz des Orange-Rangers und der toten Falkin zurück.
"Du hast eine weise Wahl getroffen", sagte der liebe Gott. "In meinem Garten Eden wird dieser Vogel für seine Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber für ewig leben und der Orange-Ranger wird in meiner goldenen Stadt für immer glücklich sein."
Eingereicht am 24. August 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.