Der goldene Vogel
Von Waltraud Müller
Es war einmal . . . ein Bauer, der mit seiner Frau auf einem kleinen
Bauernhof am Rande des Dorfes wohnte.
Sie hatten nicht viel, doch sie lebten sehr glücklich und bescheiden. Mit
Freude verkauften sie das selbstgebackene, duftende Brot am hiesigen Markt.
Mit dem Erlös konnten sie sich Kleidung und was sie sonst noch benötigten,
kaufen. Obst wuchs im Garten, sowie Gemüse und duftende Blumen.
Als die Bauersfrau ein Töchterchen gebar, tauften sie es Julia, denn es war
Juli und die Sonne lachte vom Himmel. Genügsam, fröhlich und liebevoll wuchs
es in gesunder Natur zu einem hübschen Mädchen heran.
Die meiste Zeit verbrachte Julia bei den Tieren, dem dicken Schwein und der
alten Ziege.
Eines Tages beschloss ihr Vater, sie dürfe allein zum Markt, um Brot zu
verkaufen und rote Wolle dafür nach Hause zu bringen.
Fröhlich packte Julia frisches Brot und ein paar Blumen auf den alten
Holzkarren und fuhr damit Richtung Marktplatz.
Auf dem Weg begegnete sie einem alten Mann, der sich fest an seinen Stock
klammerte und Julia um etwas Brot anflehte.
Das Bauernmädchen griff nach einem Laib und schenkte ihn dem Mann. Entzückt
bedankte sich dieser und bekam noch ein paar Blümchen als Draufgabe.
Am Dach der alten Kirche saß ein schwarzer Rabe, der diesen Vorgang
beobachtete und das Mädchen nicht aus den Augen ließ. Von hoch oben hatte er
die beste Aussicht über das ganze Treiben.
Das Mädchen geht fröhlich weiter seines Weges . . . da kommt ein kleiner Bub
auf sie zu und fragt: "Ich hätte gern ein Brot von dir, aber so viel Geld hab ich heute nicht
dabei, kann ich auch ein halbes haben?"
Julia reichte dem Jungen ein Brot und meinte, er könne es ja auch morgen
zahlen, worauf dieser froh hüpfend davon lief.
Bis Julia in der Mitte des Marktplatzes ankam, hatte sie nur noch ein Stück
übrig und kein Geld in der Tasche - denn auf ihrem Weg begegnete sie noch
hungrigen Gänsen, einer armen Familie ohne Geld und einem frechen Hund, der
ihr eines vom Karren stibitze.
Der Rabe flatterte zu Boden, doch als dieser mit den kleinen Füßen auf dem
Pflaster aufkam - nun, was sieht man da - eine gebückte, gebrechliche alte
Frau ist aus ihm geworden. Diese kam Julia entgegen und sprach sie an:
"Ich möchte dein Brot!"
"Ja gerne", freut sich das Bauernkind, "das macht zwei Taler!"
"Ich hab kein Geld, schenk es mir!", befahl darauf die Hexe - denn um diese
handelte es sich. Julia schüttelte den Kopf und meinte traurig: "Kann ich leider nicht, denn ich muss rote Wolle kaufen, meine Eltern warten
darauf und bis jetzt habe ich nichts verdient!"
Die alte Frau wird daraufhin so böse, dass sie rief: "Nur weil ich eine Hexe bin, brauchst Du nicht lügen! Ich habe gesehen, dass Du alles verschenktest, für mich hast Du nichts?"
Das Mädchen erschrak und entschuldigte sich, aber sie müsse Geld nehmen,
sonst kann auch sie nichts einkaufen! Die Hexe glaubte ihr nicht - sie
wollte auch das duftende Gebäck und zwar genauso umsonst, wie alle vor ihr!
"Für diese Worte der Lüge sollst du - gemeines Kind - als Vogel fliegen -
ganz in Gold - damit dich jeder will kriegen! Stumm sollst du sein - auf
meinen Hexenspruch ist Verlass - verhext sollst du sein - . . ."
Ein kleiner goldener Vogel flatterte über den Marktplatz, umkreiste den
Schubkarren, noch etwas unbeholfen bewegte er die Flügel, traurig hing das
Köpfchen.
Die böse Hexe aber schnappte sich das Brot und verschwand Richtung des
nahe liegenden Waldes.
Die Bauersleute waren bitter traurig, als Bürger den leeren Karren ohne ihre
Tochter zurückbrachten und darüber erzählten, was vorgefallen war, was sie
beobachtet hatten.
Das kleine Vögelchen, das ihre Tochter sein sollte, schlief stumm und
traurig auf einem weichen, schützenden Platz, bekam gute Körner und leckere
Häppchen. Viele Mitbürger, denen das Schicksal des Mädchens sehr am Herzen
lag, gingen in den Wald, um die Hexe zu suchen, ihr die Zauberformel
abzuverlangen. Doch diese ward nicht mehr gesehen!
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Die Jahre vergingen und der Bauer wurde krank - so schwer, dass er sein
eigenes Feld nicht mehr bestellen und sich die teure Medizin nicht leisten
konnte. Julia, der kleine traurige Vogel, saß bei ihrem leidenden Vater, als
zwei Reiter auf den Hof kamen und sich mit der Bäuerin unterhielten.
"Wir haben gehört, Ihr besitzt einen goldenen Vogel. Unser König möchte ihn
Euch gerne abkaufen!"
Die Bauersfrau erschrak und schluckte schnell vor lauter Angst, ihr
Töchterchen zu verlieren.
"Das geht nicht, dem Vöglein geht es gut bei uns, es gehört zu uns! Mein
Mann ist sehr krank, Sie können ihm den kleinen Schatz nicht wegnehmen!"
Doch abgewiesen zu werden, das sind die königlichen Reiter nicht gewöhnt,
sie begannen zu verhandeln: "Ihr werdet fürstlich belohnt und Euer Mann bekommt die beste Medizin die es gibt!"
Julia vernahm diese Worte und flog auf die Schulter des Mannes.
Die Mutter verstand, was das Vögelchen damit sagen wollte. Es ging um ihren
Vater, der durch ihre Hilfe wieder gesund werden könnte.
"Aber wird es ihr - ich meine, wird es dem Vogerl - auch wirklich gut
gehen?", fragte die Bauersfrau.
"Er wird einen goldenen Käfig bekommen, einen goldenen Spiegel, ein goldenes
Bettchen und den goldenen Schlüssel dazu wird der König immer am Herzen
tragen!"
Da Julia sich für den König entschied, bekam die Bäuerin Gold und die
Medizin, die den Bauern schnell wieder gesund machte. Der kleine goldene
Vogel wurde, wie versprochen, in einen goldenen Käfig gesteckt und mit bestem
Quellwasser und den besten Körnern verwöhnt.
Jeden Tag kam der König zu Julia und erzählte ihr eine Geschichte,
streichelte ihr Köpfchen und meinte traurig: "Ach du hübscher Vogel, was würde ich geben, damit du singen könntest!"
Eines Tages ließ der König den Käfig in sein Schlafgemach stellen, da er
sich in der Nähe des Vogels besonders wohl fühlte.
Abends legte er sich ins Bett und begann zu weinen. Er erzählte dem Vöglein,
dass er heiraten müsse und er die Richtige nicht finden könnt, doch morgen
muss er sich entscheiden!
Der kleine Vogel begann im Käfig aufgeregt hin und her zu flattern, worauf
der König aufstand, zum Käfig ging, das Schlüsselchen auf seiner Halskette
in die Hand nahm und das Käfigtürchen öffnete. Er griff hinein - spürte die
kleinen Füßchen auf seinem Finger, das zarte Gefieder auf seiner Haut.
"Was hast du denn, kleiner Vogel? Ach könntest du reden, so lieb ich dich
gewonnen, wie selten wen, ich wünscht, du wärst ein Mädchen, lieben würde
ich dich bis ans Lebensende!"
Eine Träne kullerte aus seinem rechten Auge, genau in Julias goldiges Fell.
Ein Moment - eine Sekunde - ein Atemzug - der Bann war gebrochen - der
Zauber verflogen - das Vöglein verschwunden - ein bezauberndes Mädchen -
eine wunderhübsche junge Frau - der König erschrak - staunte - erfreute sich
an dem Anblick der sich ihm bot! Ja - diese oder keine - genau ein solches
Antlitz hatte er gesucht - blondes langes Haar, das sich ringelte, das
liebliche Gesichtchen, das ihn anlächelte, die wunderschönen blauen Augen,
der geschwungene Mund, die offenen Lippen, die ersten Worte die sie
hervorbrachte waren: "DANKE!"
Julia erzählte ihre Geschichte dem König, der daraufhin sofort seine Reiter
ausschickte, um diese böse Hexe zu suchen und am Scheiterhaufen zu
verbrennen!
Ein großes Fest wurde gefeiert, Hochzeit im großen Rahmen, der Bauer und
seine Frau durften im Schloss einziehen und brauchten nicht mehr zu
arbeiten. Sie waren sehr froh, dass sie ihr Kind in die Arme schließen
konnten.
Julia lebte glücklich mit ihrem König und gebar ihm nach zwei hübschen
Prinzen, eine Prinzessin mit goldenem Haar und blauen Augen, die sie Julchen
nannten.
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Der goldene Käfig ziert noch heute das Schlafzimmer im Schloss, die
Geschichte von dem verzauberten goldenen Vögelchen, wird immer wieder
erzählt und weiter ausgeschmückt.
Schau doch mal aus dem Fenster - vielleicht ist so ein verzaubertes Vogerl
auch bei Dir zu Gast?
Eingereicht am 19. April 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.