Ich hasse Karneval!
Von Anatufila
"Wie war zu Köln es doch vordem... für alle Menschen so angenehm", dachte
Annekatrin. "Ich hasse Karneval!", hatte sie immer und immer wieder gesagt.
Aber seit mehr als 2000 Jahren gab es Karneval am Rhein. Niemand glaubte ihr,
dass sie Karneval nicht ausstehen konnte. Kölner Kinder gingen zum Karneval,
wie jeden Tag zur Schule, wie jeden Sonntag zur Kirche, wie später, als
Erwachsene, in den Karnevalsverein. "Ich hasse Karneval!", hatte ihr gar nichts
genutzt. Mutter seufzte noch: "Na, ja. Wenn das Kind doch nicht will", aber Oma
meinte, sie regelt das schon. Am nächsten Morgen marschierte Oma schnurstracks
zu ihrer Freundin. Die war Verkäuferin im Kaufhaus am Markt. "Stell dir vor,
Hilde, die Annekatrin will nicht zum Karneval geh'n!" Oma und Hilde kamen
dann auf die Idee ihr ein supermegageiles Kostüm zu besorgen. Eben so eins, auf
das jedes Kölner Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren total abfahren würde. Oma
und Hilde stuckelten ihr eine Verkleidung zusammen, die ein Mittelding
zwischen Barbie und Königin der Nacht oder vielmehr die Kreuzung einer Kakerlake
mit einem Paradiesvogel darstellte. Die beiden Damen hatten sich wohl nicht
einigen können. - "Das zieh ich nicht an!", kreischte Annekatrin, rannte in ihr
Zimmer, knallte die Tür zu und schmiss sich aufs Bett. Als Oma weg war, kam
Mutter leise herein. "Du musst das auch nicht anziehen", meinte sie
fürsorglich, "Ich schneidere dir aus deinen alten Sachen ein Peter-Pan-Kostüm." - "Für
was für ein Baby hältst du mich denn?!", brüllte Annekatrin und musste nun
aus ihrem Zimmer auf die Wohnzimmercouch flüchten. - Papa, der gerade von der
Arbeit gekommen war und das erste alkoholfreie Bier zischen ließ,
schmunzelte: "Weiß'te ich besorg dir'n Fußballkostüm mit echten Fußballschuhen. Ich
meld' dich auch in der Mädchenmannschaft an. Das ist nicht so'n Pippifax."
Annekatrin hatte es die Sprache verschlagen. Schlimm genug, dass alle um sie
herum Jecken waren, aber dass man auch ihr den Blödsinn zumutete, war
einfach zu viel. Sie schwieg. Sie ließ Mama den Peter Pan schneidern. Sie ließ Oma
und Hilde vom Kakerlakenparadiesvogel träumen. Sie ließ Papa Fußballschuhe
holen. Sie ließ Freunde, Freundinnen, Lehrerin und Jugendheimsozialarbeiter im
Unklaren. Nur für sie selbst stand fest: "Ich hasse Karneval! Ich geh als
nix!"
Annekatrin wusste, dass die mittelalterlichen Häuser von Köln fast alle
zerstört und nur einige später wieder aufgebaut wurden. Was sie aber nicht
wusste, war, dass sie selber in einem der wenigen sehr alten und über die
Jahrhunderte hinweg erhalten gebliebenen Häuser des Mittelalters lebte. Sie liebte die
engen Stiegen. Sie liebte ihr kleines Zimmer mit der Schräge. Und niemals
hatte sie in dem niedrigen Keller unter seinen alten Gewölbebogen und in seinen
verborgenen Winkeln Angst gehabt. Sie war ein romantisches und
phantasiebegabtes Mädchen und sie fand es nur natürlich, in gerade diesem Haus zu leben.
So gab es für sie nichts naheliegenderes, als in diesem Keller endlich Ruhe zu
finden. Um es besonders heimelig zu machen, zündete sie eine Kerze an, die
sie auf einem vorspringenden Stein befestigte. Dann löschte sie das
elektrische Licht und weil ihr sonst niemand zuhörte, murmelte sie die alten Wände an:
"Ich hasse Karneval! - Ich will nicht verkleidet über die Straße gehen! - Ich
will sein, wie und was ich bin!"
Die alten Wände störten sich nicht im mindesten an dem Geschwätz eines
12jährigen Menschenkindes. Sie hatten schon so vieles vernommen und so viel
Aufregung erlebt und blieben doch immer dieselben. Aber andere waren da, die kaum
ihren Augen und Ohren trauten. Da löschte doch jemand tatsächlich das bequeme
elektrische Licht. Da schloss sich jemand von all den törichten Menschen aus.
Da murmelte jemand im Keller vor sich hin, wo Menschen doch nur sprachen,
damit andere sie hörten und bewunderten. Die Heinzelmännchen, denn um niemanden
anderes handelte es sich, sahen sich nur kurz an, riefen sehr leise
"Hurra!", und schon kamen einige von ihnen als Stellvertreter ihrer Volkes durch die
Ritzen und Spalten des Gewölbes.
Annekatrin war viel zu empört über die Zumutungen ihrer Familie, als dass
sie sich über die Winzlinge hätte wundern können. - "Gnädiges Fräulein!",
begann der Anführer der Heinzelmännchen, "Wir würden sehr gern mit Ihnen in
Verhandlung treten, so Sie in Ihrer Güte es uns gestatten." - "Ich gestatte!",
maulte Annekatrin "Aber fangt ihr nicht auch noch von Kostümen an!" - Die
Heinzelmännchen schreckten unmerklich zurück. Nachdem sie einen Moment die Köpfe
zusammengesteckt und miteinander getuschelt hatten, nickten sie sich zu. Dann
trat ihr Sprecher wieder hervor. Er räusperte sich und begann mit belegter
Stimme: "Nun, ehm, ja, - um Kostüme geht es uns schon..." Annekatrin hob nur die
linke Augenbraue, hörte aber doch den höflichen Wichteln geduldig zu. -
"Schauen Sie, Fräulein, man hat uns vor vielen, vielen Jahrhunderten verschreckt.
Die Geschichte ist Ihnen bekannt. Auch leben Sie ja in selbigem Hause und
sind eine Nachfahrin jener unglückseligen, überneugierigen Frau Schneiderin, von
der Herr Kopisch berichtet hat. Seit jener Nacht, die in die Lesebücher
eines jeden Kölner Kindes eingegangen ist, sind wir gezwungen, in Schatten und
Dunkelheit zu leben. Das ging eine Weile gut. Doch nun ist es fast überall zu
hell. Wir wissen nicht mehr, wie wir unsere Besorgungen machen und wann wir
unsere Verwandten besuchen können. Überall leuchtet Licht. Notbeleuchtungen,
Reklamen, Ampeln und Straßenlaternen stellen für unsereins große Gefahren dar.
Jeder in Köln weiß, wer wir sind, wir sind bekannt. Und als tüchtige,
fleißige Handwerker sind wir sehr gefragt. Man würde uns fangen, wir müssten
Sklavenarbeiten tun. Unser Volk fürchtet sich zurecht und traut sich nicht heraus."
- "Aber was kann ich denn für euch tun?", fragte Annekatrin, die bei diesen
überraschenden Neuigkeiten ihren Kummer ganz und gar vergessen hatte. -
"Schauen Sie mal,", sagte das Heinzelmännchen, "Sie beklagen, dass sie zu viele
Kostüme haben, wo Sie doch gar keines wollen. Wir aber haben kein einziges
Kostüm, obwohl wir sehnlichst solche wünschen." - Und dann erzählten sie
Annekatrin wie es den Heinzelmännchen nicht möglich ist, irgendetwas zu schneidern,
was dem, der es tragen soll, nicht passt. Für Annekatrin konnten sie nur
Annekatrinsachen machen, für kleine Hunde nur Kleinehundemäntel und für
Heinzelmännchen eben nur Heinzelmännchentrachten. Klar würde jeder sie daran erkennen,
einfangen und für sich arbeiten lassen. Welch grausames Schicksal wäre das.
Wäre es aber Annekatrins sehnlicher Wunsch als Kölner Kind die Heinzelmännchen
zum Kölner Karneval einzuladen, so könnten sie sich zu diesem Fest alles
mögliche an Verkleidungen fertigen. Endlich könnten sie einmal unerkannt unter
Menschen gehen. Sie könnten ihre Verwandten nach langer Zeit wieder besuchen.
Sie könnten die vielen kleinen Dinge besorgen, die sie in ihren Haushalten
brauchten und frische Luft, Licht und Freude genießen. Das alles wäre möglich
allein durch Annekatrins Wunsch. - "Aber sicher wünsch ich mir das,", rief
Annekatrin "wenn ich euch damit eine so große Freude machen kann! Da hat doch der
Karneval endlich mal einen Sinn!" Sie wollte gleich alle Kostüme holen, die
sie dieses Jahr tragen sollte und die sie in den vergangenen Jahren getragen
hatte und auch die alten Kostüme von Oma und Papas und Mamas dazu. -
"Hauptsache ich muss nicht selber verkleidet gehen", seufzte sie und fiel wieder in
ihre grüblerische Stimmung. - "Aber als was willst du denn dann gehen?",
fragten die Heinzelmännchen "Es ist doch Karneval!" - "Ach,", brummte sie "am
liebsten wäre ich unsichtbar! Den ganzen Karneval über sollte mich gar keiner
sehen! Ich will nun mal nichts sein, was ich nicht bin!" - "Hmm!", sagte da
ein alter Heinzelmann, der sich wegen einer Schwäche in den Beinen auf einen
Stein gesetzt hatte. "Ich glaube, ich hab da was, das dir helfen kann."
So hatten sich die Heinzelmännchen mit Annekatrin darauf geeinigt, dass sie
etwa sechs neue und alte Karnevalskostüme als Muster und Stoff für ihre
Schneidereien erhielten. - In unbeobachteten Momenten griff Annekatrin heimlich in
Schränke und Kisten und konnte bald sechs geeignete Kostüme in den Keller
schaffen. Sie hoffte, dass ihrer Mutter das bei den vielen Sachen, die ihre
Familie besaß, gar nicht auffalle. - Zum Dank für ihre Großzügigkeit zerrte der
uralte Heinzelmann seinerseits mit Mühen und Ächzen ein Geschenk für
Annekatrin herbei. Sie konnte nicht richtig erkennen, was es war, sah nur manchmal
etwas wie silberne Fäden glitzern. "Geh behutsam damit um,", sagte das
Heinzelmännchen "wenn es zerreißt, ist der Zauber vorbei!" - "Aber was ist das
denn?", wollte sie wissen. "Geh damit in dein Zimmer und setz es auf", empfahl er.
- Inzwischen hatten die jüngeren, kräftigen Wichtel die sechs
Karnevalskostüme, Federn und Schleier davongetragen. Das alte Männchen ging zuletzt.
Annekatrin nahm vorsichtig das silberne Gespinst an sich und verließ mit der
Kerze den Keller. Zielstrebig stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Sie schloss die Tür, lauschte noch einmal, dass auch wirklich keiner heraufkam
und erst dann legte sie sich das Netz auf ihr Haar. Als sie sich im Spiegel
betrachten wollte, war da nichts. - "Hurra! Ich bin unsichtbar! Ich hab eine
Tarnkappe bekommen!" Annekatrin klopfte das Herz bis zum Hals. "So was gibt
es doch nicht!". - Aber schließlich gab es auch keine Heinzelmännchen, die
Karnevalskostüme brauchen. - Sie musste die Sache ausprobieren. Leise öffnete
sie die Zimmertür, langsam glitt sie die Treppe hinunter. Auf Zehenspitzen
schlich sie in die Küche. Oma und Mutter waren beim Muzemandelbacken. Als beide
auf den Tisch guckten nahm Annekatrin vor ihren Augen drei Muzemandeln auf
einmal. "Also guck dir das an!", keifte Oma "Jetzt hüpfen einem schon die Muzeln
vom Tisch!" Annekatrin sprang zur Seite, als Oma die Muzemandeln wieder
einfangen wollte. - "Die sehen mich ja wirklich nicht!", juchzte Annekatrin, als
sie wieder in ihrem Zimmer war und schob sich die Muzemandeln in den Mund.
Oma hätte ihr was anderes erzählt, hätte sie gewusst, wer sie stibitzt.
Annekatrin schaffte es, sich unauffällig und ungesehen beim Karneval zu
amüsieren. Am Karnevalsdienstag war der Kölner Stadtanzeiger zwar nur sehr dünn,
aber es waren verschiedene Berichte über kleine Männchen in seltsamen
Kostümen zu lesen. Ein Kaufhausdetektiv behauptete sogar, eine Truppe von Winzlingen
in Japaner- und Pfifferlingskostümen hätten eine ganze, große Waschmaschine
davongetragen. Einigen Jecken wurde von kleinen Leuten das Bier ausgetrunken
und in manchen Kneipen hatte man komplette Zwergenfamilien nach der Musik auf
den Tischen tanzen sehen. - Am Aschermittwoch war der Zauber dann vorbei.
Man vermutete, wie immer hätten einige Kölner zu tief ins Glas geguckt. Das
Verschwinden der Waschmaschine wurde niemals aufgeklärt.
Der Alltag hatte Annekatrin wieder. Eine schwierige Mathematikprüfung stand
bevor. Annekatrin nutzte die Gelegenheit mit ihrem Gespinst ungesehen in die
Wohnung der Lehrerin zu gelangen. Natürlich konnte die Lehrerin niemanden
sehen, als sie auf das Klingeln hin die Türe öffnete. Annekatrin huschte
unsichtbar ins Haus und wollte sich gerade in das Arbeitszimmer der Lehrerin
schleichen, als Wellensittich Peterle herangedüst kam. Er landete genau auf ihrem
Kopf. Peterle liebte es auf Köpfen zu sitzen, vor allem, wenn sie so wuschelige
rote Haare hatten. Klar, dass Peterle sich von Zauberei nicht betören ließ.
Aber unglücklicherweise entdeckte er sofort wieder etwas Neues und flog, so
schnell wie er gekommen war, wieder davon. Dabei hatte sich das Netz in seinen
Krallen verfangen. Nun stand die arme Annekatrin in voller Größe da. -
"Ach, Annekatrin! Du bist es! Ich hab gar nicht gesehen, wie du hereingekommen
bist?", wunderte sich die Lehrerin. Annekatrin musste sich schnell etwas
einfallen lassen. Und da die Wahrheit immer das beste ist, sagte sie: "Ehm, ja,
Frau Mengelin, weil ich doch so schlecht in Mathe bin, und weil ich doch nicht
schon wieder eine Fünf schreiben kann... also ich wollte wissen, ob ich etwas
besonderes für morgen üben kann?" - Die Lehrerin sah sie mit tiefen,
merkwürdigen Blicken an. Dann bat sie Annekatrin in die Küche, kochte ihr einen
Kakao und während sie beide zusammensaßen, fragte sie, ob Annekatrin schon ihre
Textaufgaben gemacht hat.
Annekatrin war überglücklich. Sie war so gut über Karneval und die dumme
Situation bei Frau Mengelin hinweggekommen. - Ob Peterle das Gespinst zu den
Heinzelmännchen zurückbrachte? - Ich glaube schon.
Eingereicht am 22./28. Februar 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.