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Ranunkel und Knöterich
Ein Märchen von Torsten Houben
Es war einmal - so fangen alle Märchen an und aus diesem Grunde soll auch dieses so beginnen.
Also - es war einmal eine wunderschöne Fee. Sie hieß Ranunkel, hatte goldenes Haar, freundliche, blaue Augen und trug stets glitzernde Kleider. Ihr wuchsen große, schimmernde Flügel auf dem Rücken, mit denen sie wie ein großer Schmetterling über die Blumenwiese schweben konnte, an deren Rand sie ein kleines Häuschen bewohnte. Am anderen Ende der Wiese, ganz in der Nähe eines kleinen Wäldchens lebte der Zauberer Knöterich. Er hatte eine lange, spitze Nase mit einer großen Warze, listige, grüne Augen und trug einen
alten, zerrissenen Umhang. Auch der uralte Schlapphut, den er auf dem Kopf trug, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Auf dem Lagerfeuer vor Knöterichs Bretterbude, in der er hauste, brodelte ständig irgend ein Gebräu in einem schwarzen Eisenkessel.
Nun war es so, dass Ranunkel und Knöterich schon seit Jahrhunderten erbitterte Feinde waren, denn Gut und Böse vertragen sich nicht. Oft schon hatte die schöne Fee versucht den alten Zauberer zu bekehren und umgekehrt wollte Knöterich die Fee auf seine Seite ziehen, doch ohne Erfolg. Ihre Zauberkräfte waren gleich stark, so dass keiner den anderen besiegen konnte.
An einem Sommertag läutete die kleine silberne Glocke an Ranunkels Tür. Die Fee öffnete und war überrascht einen kleinen Jungen in dieser einsamen Gegend zu sehen.
"Guten Tag. Ich habe mich beim Spielen verlaufen. Kannst du mir den Weg zurück in mein Dorf zeigen?"
"Natürlich kann ich das, aber komm doch zuerst einmal herein. Du siehst müde und hungrig aus. Ich bin die Fee Ranunkel."
"Ich heiße Peter. Bist du eine echte Fee? So eine die Wünsche erfüllen kann?"
"Ja, das bin ich." Ranunkel machte eine sanfte Bewegung mit dem Zauberstab, auf dessen Spitze ein glitzernder Stern thronte und der Tisch vor dem sie stand deckte sich mit den leckersten Speisen.
"Setz dich und greif zu."
Das ließ sich das Kind nicht zweimal sagen. Peter aß bis er satt war und mit einem weiteren Schwung des Zauberstabes verschwanden die Reste des Mahles.
Die Fee setzte sich in einen großen Lehnstuhl und bat den Jungen zu sich.
"Peter, du bist ein lieber Junge. Vielleicht kannst du mir helfen, denn ich habe großen Kummer." Die Fee seufzte traurig. Peter bat sie, mehr davon zu erzählen.
"Sei froh Peter,", begann sie, "dass du an meiner Tür geläutet hast. Drüben am Waldrand lebt ein böser, grausamer Zauberer. Er macht mir das Leben schwer. Alle Menschen und Tiere fürchten ihn. Der Gestank den er mit seinen giftigen Zaubertränken verbreitet, verpestet die Luft und immer wieder versucht er mir zu schaden."
"Das ist schlimm, aber wie kann ich dir da helfen?"
Ranunkel griff in die Luft und ein kurzer Dolch mit einer grün schimmernden Klinge erschien in ihrer Hand.
"Damit kannst du Knöterich besiegen. Es genügt, wenn du ihn leicht verletzt, denn das Gift in dieser Klinge ist stark."
"Ich soll ihn töten?"
"Das ist meine einzige Rettung. Wenn du es nicht tust, dann gibt es keine Hoffnung mehr für mich. Knöterichs Macht wird bald stärker werden und dann kann ich das Land nicht mehr vor ihm beschützen, wie ich das bisher getan habe."
Peter streckte seine Hand nach dem Dolch aus.
"Also gut. Ich tue es für dich, liebe Fee."
Peter steckte das vergiftete Messer in seinen Gürtel und schritt mutig über die große Wiese in Richtung Wald. Schon bald stieg ihm der Geruch von duftenden Blüten in die Nase. Die Luft war klar und sauber und je näher er der Hütte des Zauberers kam, desto wohlriechender und besser wurde sie.
Knöterich stand am seinem großen Kessel und rührte darin mit einer Holzkelle.
"Besuch? Wie schön. Es muss mehr als ein halbes Jahrhundert her sein, dass jemand zu mir kam. Nur diese grässliche Ranunkel kommt ab und zu, um mich zu beschimpfen."
"Zu Recht!", sagte Peter. "Du bist böse und gemein. Du verpestest die Luft und alle haben Angst vor dir."
Der Zauberer klopfte gegen den Kessel und eine nach Vanille duftende, zartlila Wolke stieg daraus empor, die sich auflöste und viele Dutzend bunte Vögel zurückließ, die zwitschernd davonflogen.
"Das war schön.", wunderte sich Peter. "Du willst mich mit deiner Zauberei einlullen, damit ich dir nichts tue."
"Du mir was antun? Du Knirps? Fürchtest du mich nicht?"
"Nein. Die Fee Ranunkel passt schon auf mich auf."
"Das glaube ich kaum. Sieh mal hinüber zu ihrem Haus."
Peter blickte in die angezeigt Richtung und sah, dass dichte, dunkle Rauchwolken aus dem Kamin des Feenhauses stiegen.
"Was macht sie denn da?"
"Sie kocht ihr Feengebräu. Seit Jahren kämpfe ich mit meinen Tränken und Zaubereien gegen die böse Macht der Fee an, aber ich schaffe es nicht sie zu besiegen."
"Das selbe erzählte Ranunkel mir auch. Sie sagt du bist der Böse."
Knöterich öffnete die Tür zu seiner Behausung.
"Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen."
Der Junge betrat die Hütte und staunte. In unzähligen Käfigen saßen verschiedene Tiere des Waldes und der Wiese. Da waren Vögel, Hasen, Hamster, Frösche und viele andere Arten. Alle sahen krank und unglücklich aus. Viele Vögel hatten gebrochene Flügel und einige der Hasen hatten rot entzündete Augen.
"All diese armen Geschöpfe pflege ich gesund. Ranunkels böse Flüche haben sie krank gemacht."
"Aber das kann nicht sein. Die Fee ist gut! Sie ist so wunderschön und liebevoll."
"Lasse dich nicht von dem trügerischen Äußeren blenden Peter. Achte darauf, was dein Herz dir sagt. Es kommt nicht auf die äußere Erscheinung an, sondern auf die Seele."
Der Junge dachte darüber nach. Wenn er es sich genau überlegte....
Ranunkel hatte ihm etwas zu essen gegeben und ihm Hilfe versprochen. Sie hatte ihn mit schönen Reden überzeugt und ihre Schönheit hatte ihn geblendet.
Knöterich erschuf schöne Dinge in seinem Zauberkessel, half den kranken Tieren und Peter mochte ihn, trotz seiner abstoßenden Erscheinung.
"Ich glaube du hast Recht.", sagte der Junge.
"Die wahre Schönheit verbirgt sich im Inneren. Sieh den Menschen ins Herz und nicht ins Gesicht, um sie kennen zu lernen." Der Zauberer legte dem Jungen die Hand auf die Schulter.
"Ich wünsche dir alles Gute und dass du die richtige Entscheidung triffst."
Peter verabschiedete sich von Knöterich und ging zurück zum Haus der Fee.
Ranunkel stand schon am Fenster und wartete auf ihn. Als sie das Kind erblickte, lief sie ihm entgegen.
"Hast du es geschafft? Ist dieser widerliche Zauberer tot?"
"Wenn hier jemand den Tod verdient, dann bist du das!", rief Peter und drohte ihr mit dem grünen Dolch, den er aus dem Gürtel zog.
"Du hast mich betrogen! Sicher hat Knöterich dir Lügen über mich erzählt."
"Das brauchte er nicht. Ich habe gesehen, wie rührend er sich um die von dir zerstörte Natur kümmert. Wenn er nicht wäre, würden hier schon lange keine Blumen mehr blühen und es würde kein Leben mehr im Wald und auf der Wiese geben."
Die Fee erstarrte. Der Zauberstab zitterte in ihrer Hand und entglitt ihr. Rasch bückte sich Peter und nahm ihn an sich.
"So Ranunkel! Wie mächtig bist du ohne deinen Zauberstab?" Er packte den Stab mit beiden Händen und bog ihn, als wolle er ihn zerbrechen.
"Nein! Tu das nicht!", flehte die Fee. "Ich erfülle dir jeden Wunsch!"
"Jeden? Wirklich jeden Wunsch?"
"Drei! Ich erfülle dir drei Wünsche! Bei meinen Flügeln schwöre ich es dir!"
"Also gut." Peter gab ihr den Zauberstab zurück. "Wunsch Nummer eins: Ich wünsche mir, dass du ein gutes Herz hast!"
Widerwillig richtete Ranunkel die Spitze des Stabes auf sich selbst. Der Schwur einer Fee, auch der einer bösen Fee, durfte nicht gebrochen werden. Ihre grimmige Miene verschwand und sie lächelte Peter an.
"Wie leicht ich mich auf einmal fühle, als sei eine große Last von mir abgefallen."
"Ein warmes Herz ist leichter als ein kaltes, eisiges, glaube ich.", erwiderte der Junge.
"Als zweites wünsche ich mir, dass Knöterich und du Freunde werdet."
Schon stand der Zauberer bei ihnen und strahlte vor Glück.
"Bevor ich den dritten Wunsch ausspreche, muss ich mich von euch verabschieden."
Peter umarmte den Zauberer und sagte: "Sorge gut für die kranken Tiere und zeige Ranunkel wie man ein gutes Leben führt."
"Das werde ich. Leb wohl."
Die Fee Ranunkel breitete ihre Flügel aus und überstrahlte den Jungen mit ihrem Feenglanz, der fast noch mehr leuchtete als zuvor.
"Leb wohl Peter. Ich danke dir, dass du mir ein neues Leben geschenkt hast."
Der Junge winkte den beiden noch einmal zu und sprach den dritten Wunsch aus: "Ich wünsche mir, dass ich wieder zu Hause bin."
Und schon war das Kind verschwunden.
Ranunkel und Knöterich aber zauberten sich ein großes Haus, in dem beide gemeinsam leben konnten. Sie kümmerten sich um Tiere und Menschen und es gab niemanden im ganzen Land, dessen Seele besser und reiner war, als die der Fee Ranunkel und des Zauberers Knöterich.
So lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr
E N D E
Eingereicht am 30. Januar 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.