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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das eingeschneite Erbe

© Micheline Holweck


"...nach meinem Ableben, sollst du mein Haus in den Bergen erhalten, denn jeder Gegenstand, jeder Grasshalm und jede lauschige Ecke im Garten erinnert mich, auch nach so vielen Jahren, immer noch an dich." Satzfetzen schwirren unaufhaltsam in Eduards Kopf herum. Sie stammen aus dem Abschiedsbrief seiner ehemaligen Liebespartnerin, mit welcher er vor mehr als dreißig Jahren, vier unvergessliche Jahre geteilt hatte. "Ich habe nie wieder einen so sinnlichen, liebevollen und fantasievollen Mann kennen gelernt..." In einer starken Linkskurve gerät Eduards Wagen leicht ins Rutschen. Der Neuschnee liegt wie eine feine Wattendecke über der Landschaft, doch darunter ist die Strasse eisglatt. Eduards Haar ist in den vergangenen Jahren schütter geworden, seine Statur ist muskulös geblieben, nur der kleine Bauchansatz verrät, dass er gutem Essen nicht abgeneigt ist. "...mein offizielles Testament liegt im Haus, auf dem Stubentisch, vor dem Kamin, wo wir unvergessliche Stunden miteinander verbracht haben. Mein letzter Wunsch ist es, dass du das Testament persönlich dort holst." Eduard setzt sich die Sonnenbrille auf, die im Schnee reflektierende Morgensonne brennt ihm in den Augen. Behutsam parkiert er seinen Wagen auf dem Parkplatz in der Nähe des Bauernhofs, von wo aus er zu Fuß den Bergweg unter die Füße nehmen muss. Ein Sennenhund bellt ihn an und trottet um sein Auto herum. Eduard zieht eine Daunenjacke an und setzt sich eine wollige Mütze auf den Kopf. "Hallo, der Herr", ruft eine ältere Frau aus einem geöffneten Fenster des Bauernhauses. "Wenn sie Eduard sind, dann habe ich etwas für sie. Kommen sie einen Moment in meine Stube und wärmen sie sich auf." Eduard tut wie ihm geheißen und ist dankbar, für die Tasse heißen Kaffee. "Ich muss bis zur Anhöhe hinauf. Wissen sie, ob der Weg begehbar ist?", erkundigt sich Eduard.
"Der Schnee ist steinhart gefroren und seit etwa zwei Wochen ist niemand mehr zu Annas Haus hinaufgestiegen."
"Vielleicht sollte ich mir von ihnen einen Spaten auslehnen." "Unbedingt. Und haben sie Verpflegung für unterwegs dabei?", Eduard schüttelt den Kopf. Er muss seine Fehlkalkulation einsehen, denn der Aufstieg im tiefen Schnee würde Stunden dauern, und er würde nicht vor dem späten Nachmittag zurück sein.
"Ich packe ihnen etwas ein. Haben sie eigentlich ein gutes Herz? Keine gesundheitlichen Probleme?"
Eduard schüttelt den Kopf. Freundlichkeit und Fürsorge hin oder her, was geht denn eigentlich diese Bäuerin sein Herz an?
Eduard macht sich auf den Weg. Er kommt recht schnell voran, da auf diesem Wegabschnitt wohl erst vor ein paar Tagen der Schneepflug durchgefahren war. Der Schnee glitzert. Zusammen mit der Sonne und dem azurblauen Himmel, glaubt Eduard, sich in einem Märchenland verirrt zu haben. Bei der großen Eiche, wo er das erste Mal Anna geküsst hatte, beginnt der steile Weg in die Höhe. Alles ist zugeschneit, Eduard muss mit dem Spaten einen Weg frei schaufeln. "... und ich habe mich immer gefragt, wieso unser Kontakt abbrechen musste." Eduard stützt sich außer Atem auf den Spaten. "Ja, das frage ich mich auch. Liebe Anna, ich würde viel dafür geben, nochmals deine sarkastischen Sprüche zu hören. Obwohl, zugegeben, ich konnte diese Seite an dir nie ausstehen", spricht Eduard zu sich selber. Er schaufelt weiter.
Beträchtliche Zeit ist vergangen, noch ist das Haus nicht in Sichtweite. Er säubert einen Baumstrunk vom Schnee, setzt sich hin und macht sich heißhungrig über das Esspaket der Bäuerin her: zwischen zwei Lagen Brot, klemmt ein saftiges Stück Kalbsfleisch und eine Menge gebratene Pilze. Herrlich schmeckt dieser Imbiss. Dazu trinkt Eduard Tee. Sein Gesicht verzieht er zu einer bizarren Grimasse, denn der Geschmack ist etwas ungewohnt, leicht bitter. "Mit welchem Kraut hat sie diesen Tee wohl gebraut?", fragt sich Eduard. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen, es droht beinahe den Brustkorb zu zerschlagen. Lange verweilt er nicht, denn im Winter wird es sehr schnell dunkel, und er hat noch einen weiten Weg vor sich.
Eduard überkommt eine euphorische Stimmung, er schreit laut "Anna!" und wirft sich in den Schnee, rollt ein Stück den Berg hinunter und lacht lauthals. Erneut klettert er den Weg hoch und schaufelt weiter. Er spürt Schwindelgefühle, sein Körper scheint zu schweben. In der Ebene unten sieht er einen schwarzen Hengst über das Schneefeld galoppieren, die Mähne weht im Wind. Die Reiterin darauf trägt einen schwarzen Mantel und sowohl die Mütze, wie auch Schal sind feuerrot. Einen kleinen Moment lang, schaut die Reiterin zu Eduard hoch und winkt ihm zu. Obwohl die Distanz zwischen ihm und ihr groß ist, er kann ihr Gesicht ganz deutlich erkennen, fast als stehe sie direkt vor ihm. "Anna", flüstert Eduard. Sehnsüchtig denkt er an seine Freundin, sie war eine leidenschaftliche Reiterin gewesen. Er sticht immer und immer wieder mit dem Spaten in den Schnee und säubert sich einen Weg frei. Musik! Eduard hält inne und horcht. Verwundert stellt er fest, dass die Musik von überall her kommt. Er summt mit, es ist der Schneewalzer. Zwischen den Bäumen des Winterwaldes zu seiner Rechten, sieht er fünf Tänzerinnen, in weiten, farbigen Kleidern. Mit ihren zarten, nackten Füssen berühren sie kaum die Schneedecke, sie scheinen zu schweben. "Gibt es wirklich Elfen?", fragt sich Eduard ganz mitgenommen von der schönen Musik. Er erhascht den Blick einer dieser zauberhaften Gestalten. Anna! Ihr Gesichtchen ist bleich, die blonden Haare mit einem hellblauen Band zusammengebunden. "Ich hätte zurückkommen sollen. Sie war meine einzige große Liebe in meinem Leben. Zu spät!", denkt Eduard betrübt.
Nach einer guten Viertelstunde hört er eine ihm bekannte Stimme: "Kannst du nicht schneller schaufeln?" Er schaut sich um, nichts. Eduard merkt gar nicht mehr, dass er den Schnee auf die Seite schichtet. Wie ein Roboter arbeitet er sich vorwärts. "... erinnerst du dich, wie du wütend wurdest, ab meinen Streichen, die ich dir gespielt habe?" Ja, Anna kannte keine Grenzen und nichts ging ihr über eine gelungene Überraschung, auf Kosten anderer natürlich. Langsam beginnt es schon einzudunkeln und er ist noch nicht an seinem Ziel angelangt. Vor sich, in der Dämmerung erblickt er in weniger Entfernung Annas Haus. Stolz steht es auf dem Hügel, wie ein Schloss, das über die Ebene und die Weite regiert. Die Fensterläden sind nicht geschlossen, alles ist dunkel. Er schaufelt schneller.
Das starke Herzpochen hat etwas nachgelassen. "Wieso musstest du genau im Winter sterben?", spricht Eduard mürrisch. "Du hast es wohl sogar extra gemacht, und schaust nun vom Himmel herab und amüsierst dich, wie ich mich hier abrackere. Was soll ich denn eigentlich mit deinem Haus?" Mit jedem Schritt steigert sich nun Eduards Wut. "Dieser Streich geht nun wirklich zu weit. Schließlich bin ich nicht mehr zwanzig Jahre alt!"
Endlich erreicht er die Haustüre. Einen Schüssel hat er nicht, doch er weiß, dass hier in den Bergen oben niemand sein Haus abschließt. Langsam drückt er die Klinke nieder, stoßt die Pforte auf und tritt ein, in den kleinen Windfang, wo er sich von dem, ihm anhaftenden Schnee säubert. Tief atmet er durch, bevor er die Türe zur Stube öffnet und hineingeht. Eine wohlige Wärme hüllt ihn ein. Jemand muss vergessen haben die Heizung abzustellen. "... du musst mir versprechen, das Haus nie zu verkaufen." Eduard hat dieses Haus immer gemocht. Aber ohne Anna, nein, das war nicht dasselbe. Er knipst das Licht an, ausschließlich eine kleine Lampe erhellt ein wenig den Raum und lässt die Möbel und Gegenstände nur schattenhaft erkennen. "... das Testament enthält eine Überraschung für dich." Seit dem Erhalt des Briefes vor drei Wochen, hat er ihn immer und immer wieder gelesen. Den Inhalt kennt er auswendig. Er konnte sich nicht satt sehen, an Annas schwungvoller Schrift. Jeder Buchstabe widerspiegelt einen Körperteil, einen Charakterzug oder eine Bewegung von ihr. Eduard setzt sich an den kleinen Stubentisch. Auf dem dunklen Holztisch liegt ein weißer Umschlag, worauf sein Name steht. "Eduard". Keinen Nachnamen, nichts. Daneben steht eine kleine Büchse. Die Wanduhr tickt. "Wie hat sie wohl ausgesehen, nach so vielen Jahren?", denkt Eduard. "Älter eben, wie wir alle, die Zeit verschont niemanden. Die langen, blonden Haare ergraut. Ihr sportlicher, schlanker Körper hat vielleicht ein paar Rundungen erhalten und die feine Haut hat wohl an Straffheit verloren, wie auch ihre runden, weichen Brüste." Nach Anna hatte es nie wieder eine Frau geschafft, Eduards Sinne so gefangen zu nehmen. Vor seinem geistigen Auge, ziehen alle die fröhlichen Stunden mit seiner Freundin vorbei. Aus der Hosentasche zieht er ein schön gefaltetes Taschentuch heraus und tupft seine Tränen auf, die ihm über die Wangen kullern. Zitternd streckt er die Hand nach dem Testament aus. Auf der Rückseite des Briefumschlags steht etwas geschrieben. Eduard liest: "Bevor du meinen letzten Willen lesen darfst, musst du alles aufessen, was in der Büchse ist. Ich weiß, dass du es magst." Er verzieht seinen Mund zu einem Lächeln. Nie ging sie den einfachsten Weg und überließ nichts dem Zufall. Er öffnet die Büchse, ein herrlich süßer Duft strömt ihm entgegen. Schokolade, seine große Leidenschaft, seine ungebändigte Sucht! Behutsam nimmt er eine Praline heraus. Urplötzlich strömt eine tiefe Wärme von seinem Herzen aus in jede Zelle seines Körpers. Eduard ist gerührt. "Sie ist erst gestorben, nachdem sie mir diese köstlichen Pralinen gemacht hatte." Langsam legt er eine dieser zarten Kugeln auf die Zunge und lässt die Schokolade in seinem Mund zergehen. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die offene Büchse liegt auf seinen aneinander gedrückten Oberschenkeln. "... erinnerst du dich noch, wie wir fest daran geglaubt hatten, füreinander geboren zu sein?" Eduard weint bitterlich. Draußen hat es wieder zu schneien begonnen, es ist dunkle Nacht und hier oben auf dem Berg herrscht eine absolute Stille. Mit Zeigefinger und Daumen entnimmt er der Büchse eine weitere Schokoladenkugel und schiebt sie in den Mund. Seine Traurigkeit macht langsam einer euphorischen Stimmung Platz. Eduard versteht seine Gefühle nicht mehr. Wieso fühlt er sich auf einmal beschwingt? Er erinnert sich, wie sie sich im Sommer draußen, auf der Wiese geliebt hatten. Eine weitere Praline, die zweitletzte. Eduard schließt die Augen und fühlt die zarten Hände Annas, die ihn hinter den Ohrläppchen streicheln. Er spürt eine starke Erregung. Die letzte Praline schmilzt zwischen seiner Zunge und dem Gaumen. Mit aller Geisteskraft versucht Eduard, seine Gedanken zu leiten. In Liebe soll man an Verstorbene denken, doch sexuelle Lust für eine Tote scheint ihm eher pervers. "Ich kenne mich selber nicht mehr", flüstert Eduard in den halbdunklen Raum. Mit zitternden Händen greift er nach dem Briefumschlag. "Anna, du warst einfach die liebste Person auf Erden. Es tut mir Leid, dass ich beim Aufstieg zu deinem Haus mit dir geschimpft habe. Ich fühle mich so mies und klein, neben dir", schluchzt Eduard. Bedächtig trocknet er seine Tränen. Leises Rascheln erregt seine Aufmerksamkeit. Obwohl er weiß, dass er ganz alleine in diesem verlassenen Haus hoch oben auf der Alp ist, spürt er Augen, welche auf ihn gerichtet sind, er fühlt sich beobachtet. Sein Blick hebt sich von seinen Händen und dem feuchten Taschentuch und fixiert die sich leicht bewegende Türe zur Schlafkammer. Auf Zehenspitzen nähert er sich dem Durchgang. Sanft stößt er die Türe ein Stück mehr auf und schleicht in die Kammer. Sein Atem stockt! Wie zu Stein verzaubert steht er da, unfähig sich zu bewegen oder zu reden. Auf dem Fenstersims, der Kommode und dem Nachttisch stehen brennende Kerzen. Die Flammen flackern. Vor ihm steht Anna, in einem zartblauen Neglige. Ihre Haare sind ergraut aber noch genauso lang und gewellt wie in jungen Jahren. In der halbdunklen Kammer leuchtet ihre weiße Haut und das Neglige lässt die schlanken Konturen ihres Körpers erkennen. Sie bewegt sich nicht, steht still, mit einem feinen Lächeln auf den Lippen, ihre Augen funkeln, wie zwei Sterne. Eduard spürt wieder seine starke Erregung von vorhin. "Mein starkes Verlangen nach Anna muss mich vollkommen übermannt haben", spricht er laut, um sich selber zu beruhigen und in der Hoffnung, die mysteriöse Erscheinung werde verblassen. Die gespensterhafte Gestalt bleibt. Ein starkes Zittern durchzuckt Eduards Körper. Auf einmal ertönt ein lautes, herzhaftes Lachen durch den Raum, durchbricht die Dunkelheit und die bedächtige Stille. Eduard schreit hysterisch los. Mit schwingendem Schritt nähert sich die feingliedrige Gestalt, beinahe wie das tanzende Elfenmädchen im Wald heute. Eduard ist in eine leichte Trance verfallen. Da spürt er eine warme, zarte Hand auf seiner Schulter, er nimmt den warmen Körper neben sich wahr. Ohne seinen Kopf zu drehen, führt er seine Hand hoch, und berührt die langen, knochigen Finger. Die Haut ist warm, es kann unmöglich eine Halluzination oder eine übersinnliche Erscheinung sein. "Anna. Du lebst?", fragt Eduard zaghaft und wendet sich nun der Frau zu. "Wirst du mir verzeihen?", fragt Anna und schaut ihn treuherzig an. Der Schalk in ihren Augen entgeht Eduard nicht. Er nimmt ihre Hände in die seinen und fragt: "Wieso hast du das alles inszeniert?"
"Während dem langen Winter fühle ich mich hier oben so einsam und ich wollte dich gerne wieder sehen, bevor es zu spät ist."
"Eine andere Art der Einladung hast du nicht gefunden?"
"Hätte ein einfacher Telefonanruf zu mir gepasst? Dann hätte ich ja womöglich noch den Weg für dich freischaufeln müssen, oder du wärst erst im Sommer gekommen."
Eduard brodelt das Blut in den Adern, er fühlt sich wie durch ein starkes Magnet von Anna angezogen.
"Ich hatte auch Angst vor unserer Begegnung, schließlich bin ich nicht schöner geworden, nur älter", meint Anna.
"Du bist die hübscheste und faszinierendste Frau! Im Innersten habe ich nie aufgehört, dich zu lieben."
"Wahrhaftig, die gedörrten Fliegenpilze können Wunder vollbringen. Hast du also das gefüllte Brot gegessen und den Tee getrunken?"
Eduard schaut Anna erstaunt an.
"Fliegenpilze gedörrt und in kleinen Mengen oder als Tee, können Ekstase-auslösende Eigenschaften haben. Sibirische Völker verwenden den Pilz um sich mit der spirituellen Welt zu verschmelzen. Ich dachte, es ist wohl besser, wenn du mich nach dreißig Jahren nicht ganz realistisch siehst und womöglich das Weite suchst. Wie war also der Aufstieg zu meinem Haus?"
"Das glaube ich ja nicht, deine Späße scheinen ja mit den Jahren immer verrücktere Formen anzunehmen."
"Ach was, nur halb so wild. Lass uns das Kaminfeuer anzünden. Wir müssen unser Wiedersehen feiern." Und kaum hörbar sagt sie, mehr zu sich selbst: "Bevor die Wirkung der Schokoladenpralinen nachlässt."
Eduard hat nur das Wort "Pralinen" aufgeschnappt. "Was hast du in die Schokolade gemixt, wenn wir schon bei deiner Beichte sind?"
"Na ja, mich reizte es einfach, auszuprobieren, ob diese hübschen, blauen Tabletten vom Apotheker wirklich eine so fantastische Wirkung haben. Im Mörser habe ich sie zu Pulver verarbeitet und mit der Schokolade vermischt. Ich wollte einfach sicher sein, dass unser Wiedersehen ein voller Erfolg wird. Falls du noch welche möchtest, ich habe einen großen Vorrat an diesen Pralinen!"
Als es Frühling wurde und der Schnee schmolz, fand man Eduards Wagen, auf dem Parkplatz, beim Bauernhof unten.



Eingereicht am 22. Januar 2006.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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