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Klimawechsel - Somit und Ben

Von Christine Haas


Der Schweiß rann ihr in Strömen über die Wangen, tropfte auf ihr Hemd und hinterließ dunkle Stellen. Noch nie war es so heiß gewesen. Obwohl sich Somit nicht bewegte, waren ihre Kleider feucht, sogar an den Füßen schwitzte sie. Es war unerträglich.
Die Leute im Dorf redeten. Der Neue soll schuld sein an der Hitze. Kein Regen mehr seit über sieben Wochen. Sieben - eine biblische Zahl. Ist er womöglich ein Teufel? Somit stellte sich einen Teufel mit langen schwarzen Haaren und einem dunklen Blick vor, den Neuen hatte sie noch nicht gesehen, es war zu heiß um irgendwo hinzugehen. Vielleicht war das ja seine Taktik um Leute fernzuhalten? Sie einfach schmelzen lassen. Somit ließ ihren Blick über die vor ihr liegenden Felder schweifen. Der Mais war bereits braun, die Kolben noch teilweise grün. Und die Kartoffeln, die sie letzte Woche aus der Erde gegraben hatte, waren nur kümmerliche Knollen gewesen. Wassermangel. Jedermanns Albtraum im Dorf. Nur den Neuen störte es anscheinend nicht. Wie konnte er sich an den bereits im Juli abgeernteten Getreidefeldern nicht stoßen? Aber anscheinend hatte er keine Ahnung von der Landwirtschaft, vielleicht interessierte sie ihn auch bloß nicht. Vielleicht interessierten ihn diese Kisten, die ständig in sein Haus getragen wurden, mehr als der kommende Winter.
Ein Hund lief vorbei. Irgendetwas musste ihn wohl von seinem Schattenplatz vertrieben haben, oder irgendjemand. Somit wackelte mit ihrem großen Zeh, erst der linke, dann zweimal der rechte, dann wieder der linke und der rechte. Im Takt zu "Waterloo" von Abba. Sie wusste nicht genau, was der englische Text bedeutete, aber dass "water" Wasser heißt, das verstand sie. Und so war das Lied immer nur das "Wasserlied" für sie gewesen. Wasser. Fast beschwörerisch begann sie, den Text so gut sie ihn kannte mitzumurmeln. Waterloo, Waterloo, Waterloo. Wasser. Wasser. Sie stand auf, klopfte sich den Staub von den Kleidern, strich sich die Haare aus dem Gesicht und stopfte sich das Hemd in die Hose. Dabei warf sie einen Blick auf das Maisfeld über der Straße. Wenn die Sonne noch weiter wanderte, würde der Schatten des Baumes, unter dem sie gesessen hatte, den Rand des Feldes erreichen. Später, gegen Abend. Somit trat auf die Straße. Der heiße Asphalt verbrannte ihr beinahe die Füße und so ging sie zügig in Richtung eines kleinen Bachlaufes. Ob er wohl noch Wasser hatte? Alle holten sich dort Wasser, um ihre Gemüsegärten zu bewässern oder um die kleinen Planschbecken, die in ihren Hintergärten standen, zu befüllen.
Auch der Neue. Er brauchte sogar ungeheure Mengen an Wasser. Und obwohl es verboten war, hatte er einen Schlauch zum Bach gelegt, um das Wasser abzupumpen. Er verschwendete es bestimmt auf irgendwelche Zaubertränke, um die Sonne zu beschwören, sie alle zu verbrennen. Somit hasste den Neuen. Bis er kam war es in ihrem Dorf ruhig und friedlich gewesen - und jetzt?
Sie setzte sich ans Ufer des Baches und ließ ihre Beine ins Flussbett hinab. Es war ausgetrocknet. Kleine Tierkörper lagen zusammengeschrumpelt auf dem rissigen Boden. Es roch streng nach Algen. Intensiver noch als zu Zeiten, da der Bach nicht verdurstet war, sondern ein fröhlich vor sich hinplätschernder Wasserlauf, der sich durch das Dorf schlängelte. Früher. Bevor der Neue kam.
Letztes Jahr zum Beispiel. Da hatten sie zuviel Wasser. Da hat der Bach die umliegenden Felder überschwemmt, so dass man hätte Reis anbauen sollen, nicht Rüben und Kartoffeln. Aber im Jahr davor war es gut. Vielleicht war das letzte Jahr schon ein Vorbote des Neuen gewesen? Einmal Regen, einmal Dürre. Ein Wettermensch, der Neue. Und was würde es dann nächstes Jahr geben? Schnee im August?
Ihre Gedanken wurden abgelenkt durch eine Gestalt, die plötzlich auf der anderen Uferseite auftauchte. Es war ein Junge in ihrem Alter. Er setzte sich wie sie an den Rand der kleinen Böschung und ließ die Beine ins leere Flussbett baumeln.
"Hey", sagte er.
"Hau ab!" erwiderte Somit mürrisch. Der Junge war ihr unbekannt und sie hatte keine Lust, sich bei dieser Hitze auf neue Leute einzulassen.
"Mh", machte der Junge gleichgültig, zuckte dabei die Schultern und blieb sitzen.
"Hörst du nicht? Du sollst abhauen! Verschwinde von hier, das ist mein Platz!"
"Wie heißt du?", kam es interessiert zurück.
Somit war sprachlos. Noch nie hatte sie jemand nach ihrem Namen gefragt. Jeder im Dorf kannte sie. Alle wussten, dass sie Somit, die Tochter von Terese der Näherin war. Es war nicht nötig, dass man sie nach dem Namen fragte.
"Bist du taub, oder was? Hau ab!", brüllte sie dem Jungen auf der anderen Seite entgegen.
"Ich bin Ben. Ich wohne im alten Weberhaus. Mein Vater und ich sind...", begann dieser.
"Es interessiert mich nicht, was dein Vater und du sind. Du sollst von hier verschwinden. Na los, mach schon!" Somit beugte sich vornüber und funkelte ihn wütend an.
Der Sohn des Neuen. Es musste der Sohn des Neuen sein. Somit war er mitverantwortlich für die Trockenheit in diesem Jahr, die an den Nerven aller Dorfbauern zerrte. Somit war kein Bauer, litt aber trotzdem unter der ständigen Hitze. Alle taten das. Nur der Junge anscheinend nicht.
Sie sah ihn sich genauer an. Er war klein und hatte feine Gesichtszüge. Seine Hände waren nicht die eines Arbeiters, rau und zerrissen, sondern zart und ohne Mangel. Was er wohl mit ihnen machte? Klavierspielen vielleicht, oder Querflöte. Glänzend braune Augen blickten ihr aus einem knochigen, aber nicht kantigem Gesicht entgegen. Weiche Lippen formten sich zu Worten, die sie nicht hörte. Der Junge war von mittlerer Größe, schlank und trug Kleidung, die von den Dorfbewohnern als "neuzeitige Modeausgeburt" verschrien war.
"... und als wir dann von daheim weg gehen mussten sind wir hierher gekommen. Meine Ur-ur-oma war nämlich die Frau des ersten Webers hier und somit haben wir ein gutes Recht in dieses Haus zu ziehen. Warum willst du, dass ich jetzt wieder von hier weggehe?"
Unverständnis schwang in seiner Stimme mit, als er sich erhob und in Richtung Dorfzentrum zurückmarschierte.
"Ich hab's satt, dass jeder uns immer nur meidet und wir auch hier nicht gewollt sind. Ich hasse diesen Ort, ich hasse das ständige Umziehen, ich hasse euch alle!"
Somit sah, wie er sich schnaubend umdrehte und sie anstarrte.
"Und dich ganz besonders!"
So eine Rede hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Keiner im Dorf war jemals so in Rage gewesen. Sicher hatte es ein paar Mal Streit gegeben wegen der Wasserverteilung im Sommer, aber solche Ausbrüche hatte sie noch bei keinem erlebt. Der Sohn des Neuen. Somit hatte Angst vor ihm.
Die Sonne war gerade am Aufgehen, als Somit am nächsten Morgen aus dem Haus trat. Noch war es kühl und die Felder wurden von einem leuchtenden Orange erhellt. Somit fühlte die nahende Wärme und mit ihr auch die drückende Müdigkeit. Schon jetzt war alles in einer gewissen Weise belastend. Sie stand barfuß auf dem harten, festgestampften Boden und wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Es zog sie fast magisch in Richtung Weberhaus, aber etwas in ihr sträubte sich heftig dagegen. Noch allzu gut waren ihr Bens Worte von gestern in den Ohren "Und dich ganz besonders!". Und doch, eine innere Stimme meldete sich und drängte sie, in diese Richtung zu gehen. "Nein!", sagte sie laut und kickte mit dem Fuß energisch einen Stein auf die Straße. "Der kann mich mal!" Ihre äußere Entschlossenheit hielt jedoch nicht lange an. Aber wenn sie ginge würde der Winter vielleicht noch härter werden. Keiner durfte mit den Neuen Kontakt aufnehmen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, das sie zu halten gedachte. Keine Gespräche, kein Augenkontakt. So setzte sie sich auch heute wieder in den Schatten des welkenden Baums, den Rücken zur Hauswand und beschloss, den Tag mit Schlafen und Faulenzen zu verbringen.
Die Sonne stieg immer höher und ihre Strahlen fielen durch das Laub auf Somits Bauch. Sie zeichneten ein abwechslungsreiches Muster, aber Somit bemerkte es nicht. Sie schlief. Plötzlich wurde sie wach. Ein Stück Dreck landete auf ihrem Bauch und zerfiel dort in feinen Staub. Sie musste niesen.
"Gesundheit!", kam es von irgendwoher.
"Danke!", erwiderte Somit gewohnheitsgemäß.
Dann schaute sie sich um und entdeckte Ben hinter ihrem Baum. Als er bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte trat er einen Schritt vor und lehnte sich locker gegen den Stamm der alten Eiche.
"Was willst du hier?", fauchte Somit ihn augenblicklich an.
"Hast du Lust in den Wald zu gehen?"
"Ich habe Lust, dass du verschwindest. Unsere wenigen Tiere sollen noch eine Weile am Leben bleiben!"
"Ich dachte nur, dass es dort vielleicht ein bisschen interessanter ist als hier - und außerdem kühler."
"Ich finde es hier äußerst interessant, Ben!"
Somit spuckte seinen Namen vor sich in den Staub. Sie stand auf und baute sich vor dem Jungen auf. Er schaute noch immer freundlich und wartete darauf, dass Somit es sich anders überlegen würde. Sie sah ihm in die Augen. Deren Braun sprach einen freundlichen Ton und sie strahlten so viel Güte und Wärme aus, dass Somit ihren Blick auf das vertrocknete Maisfeld auf der gegenüberliegenden Straßenseite richten musste, um ihre Meinung nicht doch noch zu ändern.
Es war das erste Mal, dass sie plötzlich dachte, das Dorf habe nicht Recht mit seinen Behauptungen, die Neuen seien für all das Übel dieses Jahres verantwortlich. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Es musste doch einen Grund geben. Vielleicht war es, weil das alte Weberhaus wieder bewohnt wurde? Lag nicht ein alter Fluch auf diesem Gebäude? Keiner im Dorf wusste, seit wann und warum das Weberhaus leer stand. Die Alten schwiegen und die Jungen getrauten sich nicht mehr zu fragen. Und doch waren es die Neuen, die in dieses Haus eingezogen waren. Sie hatten den Fluch wieder ins Leben gerufen. Den Fluch, der alle Pflanzen vertrocknen und das Vieh verdursten ließ. Der allen an den Nerven zerrte und Unruhe stiftete unter den Menschen.
"Und wie heißt du?" Wieder diese weiche Stimme, die Somit das Blut in den Adern gefrieren ließ.
"Geht dich nichts an!", brummte sie.
"Warum bist du nur so unfreundlich zu mir?"
"Fang bloß nicht an zu heulen, nur weil du meinen Namen nicht erfährst!"
Somit konnte es gar nicht leiden, wenn Jungen anfingen zu weinen. Sie hielt solche Leute für Schwächlinge und wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Aber Ben fing nicht an zu weinen. Er sah sie traurig an und dennoch sprach noch immer diese Liebe aus seinen Augen, der auch Somit nicht einfach so entgehen konnte. Sie musste sich eingestehen, dass Ben sie richtiggehend faszinierte. In seinen Bann gezogen schaute Somit Ben verwirrt an.
"Komm mit!", meinte dieser nur und nahm sie an der Hand.
Somit schüttelte ihn ab. Sie ging einen Schritt zurück und setzte sich wieder in den Schatten, den Rücken an die Hauswand gelehnt.
Ben schaute sie mitleidig an und ging die Straße hinunter in Richtung Wald, wobei er eine kleine, braune Staubwolke hinter sich aufwirbelte.
"Du bist wie ein blöder, treudoofer Dackel!", brüllte Somit ihm hinterher.
Sie war wütend. Wieso fand sie Ben so anziehend? Er schaute sie immer mit diesem einen Blick an, der ihr das Gefühl gab sie verpasse etwas, wenn sie ihn ignorierte. Vielleicht hatte er etwas, um sie zu verzaubern? Und sobald sie einmal "Ja" gesagt hatte war sie seine Gefangene. Dann müsste sie bei ihm im Weberhaus in einem dunklen Keller sitzen und Kartoffeln schälen, die schlimmste Arbeit, die sie sich vorstellen konnte. Und oben tranken sie Wasser aus Flaschen, literweise. Wenn etwas übrig war schütteten sie es weg, während sie im Keller verdurstete. Aber irgendwie sprach sein Körper eine ganz andere Sprache. Sind Zauberer nicht auch gute Schauspieler? Nur, Ben wirkte nicht wie ein Schauspieler. Auch nicht wie ein sehr guter. Konnte sie das überhaupt bemerken? Ist es nicht das Ziel eines guten Schauspielers, dass man nicht merkt, dass er einer ist? Dann müsste sein Vater ein noch größerer Zauberer sein. Er stahl den Leuten aus dem Dorf das Wasser, um es selbst zu verschwenden.
Somit merkte, dass all diese Gedanken sie nirgendwo hinführen würden, und so beschloss sie, Ben hinterher zu schleichen. Vielleicht würde sie ja dadurch hinter sein Geheimnis kommen.
Der Staub stieg ihr in die Nase und sie musste niesen. Möglichst unauffällig setzte Somit einen Fuß vor den anderen. Sie versuchte zu schlendern, schaute sich die Häuser an. Alle hatten die Fensterläden geschlossen, es war noch immer unerträglich heiß. Gestern auf dem Weg zum Bauern, bei dem sie immer die Milch holten, hatte sie einem Gespräch unter der Dorflinde gelauscht. Die Leute redeten noch immer. Sie beschwerten sich über die Neuen. Vor allem über den Jungen hatten sie viel zu reden. Wie zart er doch sei, warum er wohl keine Geschwister habe, wo seine Mutter sei. Sie haben über seine Haarfarbe diskutiert, seine Finger und seine Kleidung. Somit war interessiert stehen geblieben, um möglichst viel zu erfahren. Aber es gab für sie nichts Neues unter der brennenden Sonne und so hatte sie sich abgewandt. Nun blieb sie unter der alten Linde stehen um Luft zu holen. Die Hitze raubte ihr den Atem und jeder Schritt war mühsam. Sie rieb sich den Staub aus dem Gesicht und lehnte sich an den rauen Stamm. Sie sah Ben in Richtung Wald über die Wiese laufen. Er musste in Süditalien aufgewachsen sein, dass er bei solchen Temperaturen solch eine Geschwindigkeit durchhielt. Aber vielleicht war er auch bloß wütend. Wütend, weil sie ihn so grob abgewiesen hatte. Überrascht über diesen Gedanken stieß Somit sich von dem Baum ab und lenkte ihre Schritte in Richtung der Wiese, über die Ben soeben gegangen war.
Trotz der Hitze war das Gras weich und Somit genoss das Gefühl. Barfuß über weiches Gras gehen, ließ sie immer an weiche Federbetten denken. Daheim musste sie auf einer Strohmatratze schlafen. Im Winter zugedeckt mit einem "Debbich", wie die Leute hier zu den dicken Wolldecken sagten. Im Sommer lag sie nackt auf dem Leinen und ließ sich vom Stroh stechen, das sich durch den Stoff hochgearbeitet hatte. Unter ihren Sohlen war weiches Moos zwischen den dünnen Grashalmen. Kleine Insekten huschten als Schatten darüber und Somits Zehen gruben sich mit jedem Schritt in den grünen Teppich. Auch trockenes Moos ist noch weich, wenngleich es auch staubte und etwas kitzelte, aber Somits Gang federte trotzdem noch, als sie darüber schritt. Es ließ sich gar nicht vermeiden. Und dass das Gras hier noch grün war grenzte an ein Wunder. Ein unterirdisches Wunder vielleicht. Eine tief verborgene Wasserader oder eine Armee Engel, die jede Nacht ihre Tränen über der Wiese weinten. Tränen über die Trockenheit. Tränen der Verzweiflung und des Mitleids oder Tränen der Wut über ... über wen? Somit war sich nicht mehr sicher. Sie löste ihren Blick vom Boden und schaute zum Wald, dem sie sich nun näherte. Ben war zwischen den Bäumen verschwunden.
Somit stieg über morsche Äste und vertrocknete Brombeerranken. Ohne zu wissen wo Ben hingelaufen war stiefelte sie durch den Wald. Mit ihren Gedanken war sie schon bei ihm, sprach ihn an.
"He, Ben, warte mal!"
"Hm?" oder würde er "Ach nee, du?" sagen. Nein, bestimmt nicht. Vielleicht bloß "Hallo." Das würde passen. Und sie würde ihn dann direkt ansprechen.
"Tut mir Leid, dass ich dich beschimpft habe." Würde sie das schaffen? Diese Entschuldigung? Tat es ihr überhaupt Leid? Eigentlich nicht. Eigentlich hatten die Leute im Dorf auch ihren Hass auf die Neuen geschürt, ihr eingetrichtert, dass die schuld waren. Und eigentlich glaubte die den Leuten im Dorf. Aber Ben war so anders. Sie fühlte es. Die Neuen waren nicht schuld am ausbleibenden Regen. Vielleicht sollte sie lieber "Das vorhin, das tut mir Leid" sagen. Klänge nicht so komisch. Und er?
"Schon okay." Er wäre bestimmt wortkarg. "Wieso hast du das zu mir gesagt?" würde allerdings auch zu ihm passen. Somit hatte ein bisschen Angst vor diesen Fragen. Aber nur wenn sie sich mit ihm unterhielt konnte sie mehr über ihn erfahren. Zuverlässige Informationen bekommen. Sich ein eigenes Bild machen. Und dazu musste sie sich erst entschuldigen. Sie wollte doch nicht mit einem Dackel sprechen!
"He, was machst du denn hier?", hörte sie plötzlich Bens Stimme. Ganz real. Neben sich.
"Ich ... ähm ... ich bin hinter ... bin dir nachgelau ... gefolgt ...", stammelte sie völlig verwirrt. Wie konnte das sein?
"Warum?", fragte Ben. In seiner Stimme war kein scharfer Ton, sondern reine Neugier und ein bisschen Verletzung.
"Weil ..., weil ich ...ich wollte dir sagen, dass ... mich bei dir entschuldigen." Somit holte tief Luft. "Tut mit Leid. Ich wollte dich keinen treudoofen Dackel nennen."
"Und außerdem ist es im Wald kühler", meinte Ben grinsend.
"Ja, das stimmt!" Ben irritierte sie. "Hier ist es wirklich kühler."
"Wenn ich die Hitze im Dorf nicht mehr aushalte komme ich oft hierher. Es gibt ein Stück weiter drinnen sogar eine kleine Höhle." Ben lächelte.
Somit steckte die Hände in ihre Hosentaschen. Gleich würde sie verrückt werden. Es scherte sie einen Dreck, was der Neue machte. Sie interessierte sich nicht dafür. Warum erzählte er ihr das? Sie hatte nicht die Geduld und die Lust, mit ihm Smalltalk zu reden.
"Tja, ich geh dann mal wieder zurück", meinte sie unsicher und drehte sich rasch um. Es entstand eine kurze Pause, dann setzte sie zum ersten Schritt an.
"Du heißt Somit, stimmt's?"
Somit hielt inne. Sie zählte bis drei und drehte sich dann um.
"Weißt du, dass alle glauben, ihr seid an der Hitze schuld?", schleuderte sie ihm entgegen. Sie sah Ben fest an.
"Ja."
"Dass alle davon überzeugt sind ihr seid es?"
"Mhm."
"Und das macht dir nichts aus?"
"Wir sind ja nicht schuld."
"Aber das weiß ja keiner!"
"Jeder weiß es."
Das stimmte. Jeder wusste, dass nicht zwei Neue, die zufällig ins Dorf kamen als eine Hitzeperiode begann, diese auch verursacht haben. Aber man braucht einen Sündenbock über den man schimpfen konnte und den man hassen durfte. Den lieben Gott durfte man ja nicht hassen. Somits Wut, die Wut, die jeder im Dorf auf die Neuen hatte, flammte noch einmal auf.
"Aber warum habt ihr einen Schlauch zum Bach gelegt und pumpt dort das Wasser ab, obwohl man das nicht darf?" Sie fragte das beinahe triumphierend.
"Wir haben gar keinen Schlauch, den wir zum Bach legen könnten."
"Aber die Leute sagen es."
"Sie sagen auch, dass wir an der Dürre schuld sind."
"Sie sagen aber auch 15.30 wenn es 15.30 ist. Und sie sagen, dass der Mais zu hart wird wenn es zu wenig regnet. Außerdem sagen sie, dass der liebe Gott seine treuen Knechte nicht so leiden ließe, wenn sie nicht gesündigt hätten und ..."
Somit stoppte. Ihr wurde bewusst, dass sie völlig unzusammenhängende Dinge gesagt hatte. Sie schaute Ben an. Dieser sah sie fragend an.
"Wir haben keinen Schlauch."
Nun wurde sie auch noch rot! Somit konnte es gar nicht leiden, wenn sie in eine peinliche Situation kam.
"Ich geh wieder!", sagte sie schlicht.
Ein billiger Ausweg. Aber sie konnte die wachsende Anspannung nicht mehr ertragen. Ein falsches Wort von Ben und sie würde in die Luft gehen. Sie wusste auch nicht warum, aber sie war sich sicher, dass es so würde, dazu kannte sie sich zu gut.
"Mhm." Da war es. Das falsche Wort. Ein falsches Zustimmen.
"Dir ist es wohl egal, ob ich gehe oder nicht, was? Dir ist irgendwie alles egal! Was bist du für einer, dem alles egal ist?" Somit schrie. Ihre Arme machten unkontrollierte Bewegungen und sie schrie sich eine Anspannung aus dem Leib, die sie nicht mehr ertragen konnte. "Alles scheißegal!!!???"
"Mir ist nicht egal, ob du gehst oder nicht."
"Ach nein? Und warum tust du dann aber so? Mhm, mhm, ja. Wieso sagst du nicht, dass es dir nicht egal ist?"
"Du hast mich nicht gefragt." Und noch immer blieb Ben ruhig, was Somit umso rasender machte.
"Natürlich habe ich dich nicht gefragt! Oh Mann, wie kann man nur so bescheuert sein! Ich müsste ihn fragen, tss, hör sich das mal einer an. Arrgh, das tut weh!"
"Somit - ich möchte gerne, dass du noch ein bisschen hier bleibst."
Oh nein, jetzt kam er wieder mit dieser Stimme, der sie sich nicht widersetzen konnte. Am besten schnell weglaufen. Sie drückte sich die Hände gegen die Ohren und rannte los. Bloß nicht an ihn denken. An etwas anderes denken. Freundlichkeit. Somit stolperte durch den Wald. Liebe. Ihre Lungen pumpten was sie konnten und ihr Herz schlug wild. Freundlichkeit, Liebe. Ben. Sie presste ihre Hände noch fester auf die Ohren. Sie wollte diese Gedanken nicht hören. Liebe. Unendliche Liebe. Sie schrie. Schlug sich mit den Händen auf den Kopf. Ihre Seite stach und sie konnte nur noch keuchen. Ihre Beine versagen auf einmal, Somit taumelte, stützte sich gegen einen Baum und sank schließlich an ihm hinab auf den Boden. Sie schluchzte und schließlich weinte sie. Sie würde sich nicht von Ben beschwatzen lassen. Wieso war es eigentlich zu diesem Streit gekommen? Konnte sie bei ihm die Schuld suchen? Sie musste sich gestehen, dass sie das nicht konnte und das machte sie umso wütender. Wütend auf sich selbst. Wenn sie einmal in Rage geriet hatte sie sich nicht mehr unter Kontrolle. Nach ein paar Minuten beruhigte sie sich wieder und wurde müde. Im kühlenden Schatten des Waldes und an die raue Rinde einer hohen Fichte gelehnt schlief Somit ein.
Als sie wieder aufwachte, war ihr Zorn verschwunden. Sie rieb sich müde die Augen und stellte überrascht fest, dass sie den ganzen restlichen Nachmittag verschlafen hatte. Die Sonne war schon lange aus dem Zenit gen Westen gewandert und im Wald wurde es dunkler. Als Somit wieder klar sehen konnte entdeckte sie den Zettel auf ihrem Schoß. Es war ein wieder auseinandergeknülltes Stück Zeitung, auf das mit einem blauen Buntstift etwas geschrieben worden war. Jeweils am Ende eines Satzes war die Farbe etwas verschmiert, vermutlich weil das Papier lange in einer schweißigen Hand geruht hatte, ehe es seinen Weg in ihren Schoß gefunden hatte. Sie konnte es aber dennoch entziffern.
"Bist du mir böse? Ich dir nicht. Bis morgen. Ben."
Somit stand auf. Ihre Augen wurden feucht und sie lächelte. Es rührte sie irgendwie. Wie konnte ein Mensch nur so lieb sein? Er hatte es geschafft. Sie war nicht mehr böse auf seine Liebe, konnte sie im Moment ertragen. Und vielleicht nicht nur im Moment, da er nicht anwesend war, sondern auch, wenn sie ihn wiedersehen würde. Das hieß aber nicht, dass sie ihn jetzt besonders mochte - nein! Sie hatte Angst vor der nächsten Begegnung. Sie kam sich dumm und närrisch vor ihm gegenüber. Auch wenn Ben das sicher richtig handhaben würde wollte sie ihn nicht sofort wieder sehen. Jedenfalls nicht sofort wieder mit ihm reden. Im Wald war ihr eines klargeworden. Ein Geheimnis hatte sie gelüftet: Bens Liebe war echt. Nur war es Somit irgendwie unangenehm, das zu wissen. Es war etwas, was sie eigentlich nicht hatte herausfinden wollen. Sie hatte wissen wollen, ob es wirklich die Neuen waren, die die Schuld trugen. Doch sobald Ben sie angesprochen hatte, hatte sich das erledigt. Und was Ben und sein Vater trieben wusste sie immer noch nicht. Aber sie hatte einen Anfang gemacht und sicher würde sie bald mehr über ihn herausfinden.
Am nächsten Tag kam ein Wind auf. Er brachte den erhitzten Menschen ein wenig Kühlung und beruhigte ihre Gemüter. Somit stand im Türrahmen und genoss die bewegte Luft. Ihre Mutter und sie hatten alle Fenster im Haus geöffnet. Schon ganz früh waren sie heute aufgestanden und hatten sie weit aufgerissen. Morgens war es immer noch ein wenig kühler als den Rest des Tages und man konnte durch eine morgendliche Lüftung des Hauses durchaus etwas bewirken. Nicht viel, aber doch so viel, dass es drinnen kühler war als draußen. Somit hatte gute Laune. Den Streit von gestern sah sie als etwas an, das dazu gehörte. Sie ließ den Wind mit ihren Haaren spielen und überlegte, wie sie den heutigen Tag verbringen könnte. Vielleicht sollte sie doch einmal zum Weberhaus schauen? Nur ganz vorsichtig und ohne bemerkt zu werden? Aber irgendwie konnte sie sich nicht dazu aufraffen und so stand sie noch immer in der Tür als am Ende der Straße eine schemenhafte Person erschien. Soweit sie es erkennen konnte war es ein Junge. Somit überkam ein Hauch einer Ahnung. Sie konnte es direkt spüren, wer der Umriss war. Ein Kribbeln im Bauch drängte sie ins Haus zu gehen, aber sie widerstand ihm und blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Ihr Blick wanderte von der Straße zu ihrem Baum und zum Mais. Ben ignorierte sie. Als er schließlich auf dem Stück Straße angekommen war, welches in ihrem Blickfeld lag blieb er stehen und schaute sie an. Nur ein kurzer Blick, ein freundliches Lächeln und dann ging er weiter. Somit verzog den Mund und grinste ihm schief hinterher. Er sollte sie heute noch in Ruhe lassen. Nur noch heute. Sie brauchte noch etwas Zeit zum Nachdenken. Einmal einen Tag, an dem sich nicht alle ihre Gedanken nur um ihn drehten, ein Tag, an dem sie normal sein konnte. An dem sie im Schatten vor ihrem Haus sitzen und "Waterloo" summen konnte. Nur noch einen Tag.
Es wurde eine ganze Woche. Somit saß den jeden Tag nur da und blickte vor sich hin. Ihre Mutter machte sich langsam Sorgen um sie und begann, ihr zuzureden. Aber Somit schaltete einfach ab. Ihre Gedanken waren bei schweren Stunden in der Vergangenheit. Sie reflektierte ihre Fehler und ihr Missverhalten. Sie dachte nach über sich selbst und die Welt und über die Neuen. Über Ben, auch wenn sie das nicht wollte. Seit sieben Tagen hatte sie ihn nun schon nicht mehr gesehen. Und auch wenn Somit sich nicht vom Fleck rührte, spürte sie doch die zunehmend giftigere Atmosphäre unter den Leuten aus dem Dorf. Eifrig tratschende Frauen die vorbeiliefen und in heiße Diskussionen verwickelte junge Männer gaben ihr Informationen genug. Somit hatte ein feines Gespür, was solche Dinge anbelangte. Und langsam entwickelte sich ein Gefühl der Sorge in ihr. Sorge um Ben. Sie machte sich tatsächlich Sorgen um ihn. Er, den das ganze Dorf hasste, hatte in ihrem Herzen einen Platz erobert. Und je länger sie ihn nicht sah und nur an ihn dachte, umso mehr wurde ihr klar, dass sie etwas unternehmen musste. Etwas, das alles verändern würde. Sie wollte ihn verstehen und begreifen, wissen woher seine Liebe kommt und dann das Dorf vom Hass befreien. Denn sie war sich nun ganz sicher, dass dieser völlig unbegründet war. Und also stand sie auf und lenkte ihre Schritte in Richtung des Weberhauses. Noch immer staubte die Straße und der Wind trieb einem den aufgewirbelten Dreck in die Augen. Somits Augen tränten als sie in der Dorfmitte ankam. Sie machte am Brunnen halt, um sie sich gründlich zu reiben. Und plötzlich stand Ben vor ihr. Auch seine Augen tränten und im ersten Moment dachte Somit, dass auch ihm der Staub zu schaffen mache. Aber schon einen Augenblick später realisierte sie, dass Ben nicht nur deswegen weinte.
"Somit", flüsterte er tränenerstickt. "ich muss mit dir reden."
"Ben, was ist denn los?" Erstaunt über ihre eigene Freundlichkeit packte sie ihn an den Schultern und sah ihm ins Gesicht. Er brauchte sie jetzt! "Lass uns ein Stück gehen!" schlug sie ihm daher vor. Mitten im Dorf war kein guter Platz um emotional zu werden. Sie nahmen einander an der Hand und gingen auf eine nahe gelegene Wiese. Dort setzten sie sich auf den Boden und Ben begann hemmungslos zu weinen. Somit hatte noch nie einen Jungen richtig weinen gesehen und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Verwirrt über sein Verhalten und immer noch im Kampf mit sich selber ließ sie es zu, dass er seinen Kopf an ihre Schulter legte und laut schniefte.
"Was ist denn?", fragte sie nun vorsichtig noch einmal.
Ben sah sie an. Seine Augen waren anders. Sie hatten jenen Glanz verloren, der sie einst zu den vor Liebe sprühenden, tiefen und unergründlichen Seen gemacht hatte. Er war gebrochen und Somit wusste nicht warum. Irgendetwas war geschehen, dass er sie jetzt brauchte. Aber hatte er sie davor nicht auch schon gebraucht? Warum sonst hatte er mit aller Kraft versucht sich ihr anzunähern? War es eine Liebe auf den ersten Blick? Fand er sie einfach nur interessant, weil sie so verschlossen war? Oder lag es daran, dass sie das einzige Kind war, das in etwa sein Alter hatte? Es war Somit egal, wie sie mit Erstaunen feststellte.
Die Sonne stach mit all ihrer Kraft auf die beiden jungen Menschen auf der Wiese ein und es schien fast, als versuche sie, sie vom Denken abzuhalten.
"Ben...."
Somit streichelte seinen Kopf. In diesem Moment siegten ihre tiefsten Gefühle, die sie immer zu leugnen versucht hatte. Alle verborgene Sehnsucht kam ans Tageslicht und die Mauer, die sie umgeben hatte, begann zu bröckeln. Er hatte es vollbracht! Sie wurde frei! Leise meinte sie:
"Ben - lass uns Freunde sein!" Und als sie das gesagt hatte huschte ein Lächeln über Bens Gesicht. Er schluchzte noch einmal und fragte dann:
"Wirklich?"
"Wirklich! Und außerdem ist es im Wald kühler ..."
Am nächsten Tag regnete es.



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