Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Schwanger mit 16
Von S. Schloos
Es war der 16.12.1983, ich saß im Bus nach Hause und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Neben mir saß meine Mutter, mit bitterböser Miene. Mir hallten die Worte meines Frauenarztes noch in den Ohren: "Das Mädchen ist in der 16. Woche schwanger." Ich freute mich, ich wollte schon mit 12 Jahren früh Kinder haben. Etwas, was ich für mich alleine haben konnte, dem ich meine ganze Liebe und Aufmerksamkeit widmen konnte. "Kann man dagegen noch etwas unternehmen?" fragte meine Mutter sofort nachdem
der Arzt den Verdacht meiner Mutter bestätigt hatte. "Auf Grund der Tatsache, dass ihre Tochter erst 16 Jahre alt ist, würde ich auch in der 16. Woche noch einen Abbruch machen, ja!" kam seine Antwort. "Raus hier, bitte nur schnell raus" tönte es in mir. Ich will doch dieses Kind! Um nichts in der Welt gebe ich es wieder her.
Zwei Haltestellen vor meiner Mutter stieg ich aus, ich musste diese Neuigkeit sofort Daniel, dem zukünftigen Vater erzählen. Er wusste von dem Termin und wir schlichen sofort in sein Mansardenzimmer, seine Eltern mussten ja nicht alles mitbekommen. Ich fiel ihm um den Hals und sprudelte nur so hervor, dass wir ab nächsten Juli zu dritt sein würden. Daniel strahlte über das ganze Gesicht - ein Glück. Zwar hatte ich ihm gesagt, dass ich die Pille absetzten werde, aber mit soviel Freude hatte ich nicht gerechnet.
Sofort fingen wir an nach Namen zu suchen. Er würde gerne eine Tochter haben, teilte er sofort mit. Na ja, die ersten Unstimmigkeiten, denn mir war ein Sohn lieber. Wieso konnte ich nicht mal sagen, ich wusste nur, dass ich dieses Kind - egal ob Junge oder Mädchen - schon jetzt ganz tief in meinem Herzen hatte und das es die größte Liebe meines Lebens werden würde. Ich schaute auf die Uhr, mein Gott, schon halb sieben. Um 19 Uhr gab es Abendessen, ich durfte bloß nicht zu spät kommen.
Daniel begleitete mich das Stück durch den Wald nach Hause. Wir waren beide merkwürdig ruhig. Wir wussten was mich zu Hause erwarten würde.
Zu Hause empfing mich eisige Stille, nicht einmal mein 12 jähriger Bruder tobte durchs Haus. Meine Eltern saßen mit versteinerten Gesichtern am Tisch und waren schon beim Essen, man hatte nicht auf mich gewartet. Ich setzte mich auf meinen Platz und wartete auf die Predigt, die sie mir halten würden. Aber es geschah nichts, nichts als Totenstille. Nach dem Essen schlich ich in mein Zimmer hoch, als ich es unten plötzlich klingeln hörte. Besuch um diese Zeit, mitten in der Woche? Logisch, meine Eltern hatten nichts
besseres zu tun gehabt, als sofort Daniels Eltern anzurufen und sie um eine Audienz zu bitten. Schließlich musste dieses in den Brunnen gefallene Kind doch wieder gerettet werden. Völlig niedergeschlagen kam Daniel zu mir in mein Zimmer. Mein Vater hatte seine Eltern angerufen und um einen sofortigen Besuch gebeten, erzählte er mir. Er werde Daniel zur Rechenschaft ziehen, wie kann es möglich sein, dass er seine 16 jährige Tochter, die gerade ihre Ausbildung angefangen hat, zu schwängern!
Die Zeit verging nicht. Was mochten die da unten im Esszimmer über unsere Köpfe hinweg entscheiden? Plötzlich tönte es von unten "Sandra, Daniel kommt runter!" das war keine Bitte, das war ein klarer Befehl. Kleinlaut schlichen wir die Treppe runter ins Esszimmer. Dort saßen sie, die 4 Richter über unser Baby. Aber merkwürdiger Weise saßen nur meine Eltern dort mit noch immer versteinerter Mine. Daniels Vater saß ganz entspannt zurück gelehnt auf seinem Stuhl, vor sich eine Flasche Bier. "Na nun
guckt mal nicht so, ihr beide." tönte dieser dicke Mann, dem ich bisher meist aus dem Weg gegangen war "wir kriegen das schon zusammen hin!" "Es ist doch noch nicht zu spät Sandra, noch kann man doch etwas dagegen unternehmen" rief mein Vater vom anderen Ende des Tisches. Daniels Mutter saß still vor sich hin schmunzelt neben ihrem Mann. Sie war schließlich selber früh Mutter geworden. Meine Mutter strich imaginäre Flecken von der Tischdecke und rauchte eine nach der anderen. " Ich
will aber keine Abtreibung, ich will dieses Kind, ich habe heute seinen Herzschlag gehört, ich liebe es jetzt schon" brach es unter Tränen aus mir hervor. Konnte mich denn niemand verstehen? "Mädchen, du hast gerade deine Ausbildung angefangen, Daniel ist gerade fertig. Von was wollt ihr denn leben und vor allem wo?" argumentierte mein Vater auch gleich. "Wir könnten unseren Dachboden ausbauen, nicht wahr Heinz?" schlug Henriette, Daniels Mutter vorsichtig vor. Prima, das wäre doch die
Lösung. Auch wenn mir der Gedanke, bei meinen "Schwiegereltern" leben zu müssen, nicht ganz behagte. Aber es war ein Anfang. Sie pochten nicht auf eine Abtreibung. " Wie soll das denn gehen? Sandra in der Lehre, die macht sie unbedingt fertig! Daniel verdient noch nicht genug um für eine Familie sorgen zu können!" meldete sich meine Mutter. Daniel schlug vor, er könne doch Überstunden machen, er arbeitet dann eben auch Samstags.
Diese Debatte zog sich stundenlang. Als Daniel und seine Eltern aufbrachen, hatten alle 4 Erwachsenen leicht einen im Tee und wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich das Baby bekommen durfte. Ich war glücklich. Hätte ich geahnt, dass meine Mutter die ganze Schwangerschaft nur das nötigste mit mir reden würde, so hätte ich meine Freude in Grenzen gehalten. Aber ich durfte mein Kind behalten. Gedankenverloren strich ich über meinen flachen Bauch. "Bald wirst du wachsen, mein Schatz und jeder wird sehen, dass
du da bist!" dachte ich bei mir.
Weihnachten nahte. Es sollte zu meinem schrecklichsten Weihnachten werden, welches ich bis dahin erlebt hatte. Mama, Oma und ich gingen wie immer an Heiligabend zu Kirche und beide waren sie nur am weinen. Sie hatten es in diesen 8 Tagen noch immer nicht verkraften können, dass dieses behütete Mädchen plötzlich schwanger war. Der Abend verlief ungewohnt still und ich war froh, als er vorüber war.
Nach den Feiertagen fragte mich Daniel, ob ich Sylvester mit ihm und seinen Eltern in den Harz fahren möchte. Da stand die nächste Aktion an, nie im Leben würden mich meine Eltern über Nacht mit meinem Freund weglassen. Aber Heinz und Henriette, wie ich sie mittlerweile nannte, legten ein gutes Wort für mich ein. "Was soll denn noch passieren, das Mädel ist doch schon schwanger!" tönte Heinz meinen Vater an. So fuhren wir am späten Nachmittag zusammen in den Harz. Der Abend war langweilig. Es war eine
Feier des Naturschutzvereins, in dem Daniel und seine Eltern waren. Kurz vor Mitternacht zog Daniel mich nach draußen. Er zog ein kleines Kästchen aus seiner Hosentasche und hielt mir einen kleinen goldenen Ring hin. "Ich würde mich heute gerne mit dir verloben." stammelte er dabei verlegen. Ich war gerührt. Alles würde gut werden! Wir werden uns heute verloben, bald heiraten und dann würde unser Baby kommen und wir sind eine ganz glückliche Familie. Ich umarmte ihn und war - wieder einmal - unheimlich
glücklich.
Freudestrahlend gingen wir zu den anderen zurück. Sie wussten natürlich alle davon, umringten uns und wünschten uns alles Gute.
Am 1.Januar waren wir wieder zu Hause und zum Neujahrskaffee bei meinen Oma und Opa eingeladen. Stolz präsentierte ich meinen Ring. "Wir haben uns gestern verlobt!" strahlte ich in die Runde. "Mir wäre lieber gewesen, du hättest mit Verlobung und Kind gewartet, bis du 18 bist und deine Ausbildung fertig hast!" konterte mein Vater gleich. Opa stand auf und nahm mich in die Arme. "Ich gratuliere dir mein Mädchen, ihr werdet das schon machen!" Noch nie habe ich meinen Opa so geliebt
wie in dieser Minute, da war jemand in meiner Familie, der freute sich mit mir. Nun konnte nichts mehr schief gehen.
Eine Woche später rief mich Daniel aufgeregt an, er müsse mir etwas zeigen. Er holte mich am Samstagmorgen ab und wir fuhren ein paar Straßen weiter und hielten vor einem frisch renovierten 4-Familienhaus. Daniel zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und ging mit mir in den ersten Stock. "Das wird unser Zuhause." Staunend sah ich mir die kleine Wohnung an. Sicher, groß war sie nicht, so ungefähr 56 qm, aber ich sah das Kinderzimmer schon eingerichtet. Konnte schon den Geruch riechen und das
Lachen von unserem Baby hören. In den nächsten Tagen stürzten wir uns mit Eifer ans tapezieren, Teppich verlegen und so weiter. Opa spendierte uns eine Küche, Daniels Eltern das Schlafzimmer und meine Eltern ließen sich dazu hinreißen, uns das Wohnzimmer einzurichten. In Windeseile war unser kleines Nest einzugsbereit.
Die Wochen vergingen, ich wurde kaum runder, aber mir ging es jeden Tag schlechter. Ständig musste ich mich übergeben, mein Brutdruck war im Keller, es viel mir immer schwerer meiner Arbeit nachzugehen. Oft schickte man mich Mittags nach Hause, weil ich wieder umgefallen war. Nach einer Untersuchung beim Frauenarzt im Mai schrieb mich der Arzt für die letzten Wochen krank. Ich solle mich schonen, sagte er, der Muttermund ist schon 5 cm offen. Wenn ich keine Frühgeburt haben möchte, dann solle ich möglichst wenig
stehen und heben. Auf die Arbeit zu verzichten, fiel mir nicht wirklich schwer. Mein Ausbilder mobbte eh schon seitdem ich ihn von der Schwangerschaft in Kenntnis setzte. Vielleicht dachte er ja, ich würde völlig entnervt kündigen. Aber ich wollte diese Ausbildung zu Ende machen, ich hatte es meinen Eltern versprochen. Dafür würden sie sich nach der Geburt um das Baby kümmern, solange bis ich ausgelernt habe.
Die ersten Tage zu Hause waren wunderschön. Ich genoss meinen kleinen Bauch, den ich endlich bekommen hatte. Warum wurde ich bloß nicht so dick wie andere Schwangere? Die anderen Frauen im Atemkurs waren alle viel dicker als ich. Ich wollte auch so einen schönen dicken Bauch haben, jeder sollte sehen können, dass ich ein Kind bekommen. Ich führte Zwiegespräche mit dem Kleinen - ich war immer noch überzeugt, dass es ein Junge sein wird -, strickte Strampler, spielte ihm Musik vor. Die Beatles mochte er besonders
gerne. Dann wurde er immer ruhiger und hörte auf mich wie ein Fußballkicker zu treten.
Am 16.7.84 stand die nächste Untersuchung an. "Aber hallo, da möchte schon jemand auf die Welt" grunzte mich mein immer mürrischer Gynäkologe an. "Wenn du heute nacht immer noch keine Wehen hast, dann bist du morgen früh um 7 Uhr bei Frau Sieger, sonst verlierst du dein Kind noch unterwegs!" Die Nacht verlief völlig normal, ich hatte noch immer keine Wehen. Zumindest keine, die ich gemerkt hatte. Um 6:30 Uhr klingelte Daniels Mutter um mich in die Klinik zu fahren. Meine Mutter prophezeite
mir am Telefon noch, dass sie vor heute Nachmittag wohl nichts von mir hören würde, immerhin habe sie mit mir über 8 Stunden in den Wehen gelegen. Völlig still und verängstigt ließ ich mich von Henriette in die Klinik bringen, schlich in den ersten Stock und ließ mir mein Zimmer zuweisen. Ich hatte Angst, ganz furchtbare Angst. Hoffentlich ging alles gut und mein Kind ist gesund. Zwar hatten Daniel und ich uns den Kreissaal ein paar Wochen vorher ansehen wollen, was aber nicht ging. Es wurde gerade geboren. Und
gleich Zwillinge. Die Hebamme rauschte an uns, die wir draußen kauerten, mit blutigen Laken an uns vorbei. "Na toll, da steht dir ja was bevor!" Diese Bilder gingen nun wieder durch meinen Kopf. "Kind, in dem Nachthemd willst du doch wohl nicht in den Kreissaal!" riß mich eine Schwester aus meinen Gedanken. Nicht? Aber das ist doch so schön. "Mädchen, das was du bei der Entbindung an hast, können wir hinterher wegschmeißen!" Das wurde ja immer besser und trug nicht gerade dazu bei,
mir die Angst zu nehmen. Mittlerweile musste mein Blutdruck auf 180 sein und ich zitterte wie Espenlaub. "Hoffentlich ist das hier bald vorbei!" Einen anderen Gedanken hatte ich in dem Moment nicht.
Weiter zu denken kam ich auch nicht. Denn just in dem Moment kam eine Schwester ins Zimmer gestürmt. In der Hand eine 1 Liter Flasche mit undefinierbaren Inhalt und einem meterlangen Schlauch. "Bitte unten rum frei machen und mit dem Po zu mir" kam es im Kommandoton. Was sollte das bitte werden? Ich gehorchte dieser Frau in der Tracht einer Nonne, blieb mir wohl auch nichts anderes übrig, wollte ich das hier schnell hinter mich bringen. Sie fummelte den Schlauch in meinen Po, kippte den Inhalt der Flasche
über einen Trichter hinein und befahl " Die Pobacken zusammen kneifen solange es geht. Nach 30 Minuten darfst du aufs Klo" Jawoll. Auch wenn mir schleierhaft war, wie ich 1 Liter Flüssigkeit in meinem Darm, die sofort wieder nach draußen wollte, unterdrücken soll. Aber ich war tapfer. Zwar keine 30 Minuten, aber immerhin 20. Kaum war ich mal wieder von diesen aparten Toiletten zurück in mein Zimmer gewankt, erwartete mich auch schon die Hebamme. "Und los geht's Sandra, auf in den Kampf" Hörte
ich eben Kampf? Ich wollte hier eigentlich nur mein Kind zur Welt bringen und mit niemanden kämpfen. Folgsam trottete ich hinter ihr her in den gegenüberliegenden Kreissaal wo mich herzzerreißende Schreie empfingen. Nebenan wurde auch kräftig geboren und es schien die arme Frau förmlich in Stücke zu reißen. "Muss das so laut sein? Kann man das irgendwie abstellen?" fragte ich leise. Ich hatte nun noch mehr Angst als ohnehin, was erwartet mich hier? Der Raum sah nicht viel anders aus als ein Raum im
Schlachthof. Grelles Licht, ein Geruch der die Nase rümpfen ließ. Aber gut, ich wollte meinen Sohn, sollte es denn einer sein, endlich in den Armen halten. Also hievte ich mich und meine Kugel auf dieses bequeme Bett. War gar nicht mal so ungemütlich. Schon wieder eine Schwester, diesmal nicht in Nonnentracht, sondern im sauberen Weiß. Na wie lange das noch weiß sein mochte? Ohne ein Wort riss sie mir das Nachhemd hoch, patschte mir diverse klebrige Dinger auf meinen kugeligen Bauch. "Das ist der Wehenschreiber"
wurde ich dann doch noch aufgeklärt. Piep Piep Piep macht es von da an neben mir. Stand die gute Frau eben noch neben mir, so machte sie sich plötzlich zwischen meinen Beinen zu schaffen. "Autsch! Gibt es hier keine Enthaarungscreme?" "Hier rasieren wir noch mit dem guten alten Rasiermesser!" Was anderes war in einem katholischen Krankenhaus welches von Nonnen geleitet wurde, wohl auch nicht zu erwarten. Sie skalpierte mich und verschwand. Da lag ich nun. Gefesselt an einen piependen Apparat.
Kurz vorher wollte eine andere Nonne noch meinen rechten Arm haben. "Auch den bekommt ihr, alles nach eurem Wusch" blieb mir etwas anderes übrig? Es machte sich so ein komisches Ziehen im Bauch breit, was in Gottesnamen war das? Meine Tage hatte ich nun schon seit fast 10 Monaten nicht mehr. Komisch, fühlt sich genauso an. Der Kopf, der gerade durch die Tür schaute, fragte mich, ob ich denn schon Wehen hätte. Ah ja, dafür war dieses Zeug, welches mir durch die Adern rann, also zuständig. "Hm, ich
weiß nicht, fühlt sich an als ob ich meine Tage bekommen" "Mädchen, das sind die Wehen und zwar alle 2 Minuten. Aber die Stärke reicht nicht um dein Kind raus zutreiben." Ach so. DAS sind Wehen, na ja, ist ja nicht so schlimm. Die Infusion wurde etwas schneller eingestellt und schwupps, schon wurden auch die Wehen kräftiger. Sie entschwand wieder, nicht ohne vorher in mich reinzufassen und mir die Fruchtblase zu zerkneifen. Mir gegenüber hing eine riesengroße Bahnhofsuhr. Sie sagte mir, dass seit
der letzten Wehe nicht mal eine Minute vergangen war. So langsam wurde es doch unangenehm. Es drückte plötzlich von inne so nach draußen.
Endlich kam mal wieder jemand um nach mir zu schauen. Nebenan wurde nun nicht mehr geschrien und die Hebamme hatte wohl endlich Zeit. Ich durfte also loslegen und endlich mein Kind gebären. Ein Blick zwischen mein kahl geschlagenes Dreieck und schon kamen die nächsten Kommandos " Pressen, wir können schon die Haare sehen!" "Na toll und ich würde mich freuen, diesen Kerl endlich ganz zu sehen" so langsam war das wirklich nicht mehr lustig. Wo war das Lachgas? Schnell die Maske auf die Nase
und tief einatmen. Schon besser. Völlig benebelt presste ich brav weiter, ein kurzer Schub noch, ein Schrei. Wenigstens der Kopf war da. Und Stimme hatte dieser feuchte Kopf auch schon. Der Rest flutschte nur so raus. Ich sah schweißüberströmt auf die Bahnhofsuhr. "Nein Mama, keine 8 Stunden! Ich mache so was in nicht mal 2 Stunden!" Völlig entkräftet stemmte ich mich in meinem Bett auf um einen Blick darauf zu erhaschen, was ich da raus gepresst hatte. Aber ehe ich mich versah, hatte ich dieses komische
graue Bündel auch schon im Arm. Ich blickte an dem kleinen Körper runter und sah ....Ich hatte einen Sohn! Wünsche gehen eben doch in Erfüllung, wenn man fest genug dran glaubt. Mir traten die Tränen in die Augen, so überwältigt war ich von diesem kleinen Kerl. Gut, hübsch war er nicht. Er hatte viel schwarze Haare und war mit einer merkwürdigen Grauen Schicht überzogen. Irgendwie sah er aus, als hätte man ihn Mehl gewälzt.
Ohne das ich es merkte, hatte man die Nabelschnur durchschnitten und teilte mir nun im etwas freundlicheren Ton mit, dass dieser Wurm Hunger hätte. Na toll, dann reicht mir bitte mal die Flasche. "Mädchen, du legst ihn dir nun an die Brust damit er trinken kann." Ach so, ja klar. Stillen nennt man das ja. Also befolgte ich den Ratschlag. "Aua! Er hat doch noch gar keine Zähne" Wieso kann er mich beißen?" Ich kann nicht sagen, dass stillen zu meinen Lieblingstätigkeiten werden sollte.
Immerhin schlief der Knirps nach mir endlos erscheinenden Minuten friedlich ein. Und ich bekam was zu essen! Sah ich so mitgenommen aus? Sah man mir an, dass ich kurz vor dem verhungern war? Aber mittlerweile war es schon kurz vor 12 Uhr und ich schlang das mir servierte Rührei nur so hinunter.
Nachdem man mich noch gewaschen und schön sauber angezogen hatte, durfte ich wieder in mein Zimmer zurück gehen. Jawoll, gehen! Ist gar nicht so leicht, wenn es sich zwischen den Beinen anfühlt, als hätte man 5 Tage Dauersex gehabt. Aber der Weg war ja kurz und ich ließ mich erschöpft ins Bett fallen. Meinen kleinen Knirps hatten sie zum hübsch machen erst einmal behalten und brachten ihn mir kurz darauf.
Kaum hatten wir beide es uns gemütlich gemacht, wurden wir auch schon wieder aus dieser trauten Zweisamkeit entrissen. "Ihre Verwandtschaft ist da" Aber hallo, auf einmal sagte mal "Sie" zu mir! Ist man mit einem Kind nicht mehr nur "Du"? War ich jetzt erwachsen? Ich war immer noch 16 Jahre, genau wie vor 6 Stunden auch.
Also Baby Namenlos geschnappt und zur Besuchergruppe auf dem Flur gewankt. Da saßen sie, die 2 frischgebackenen Omas, ebenso viele Opas, zwei Uromas und ein Uropa. In der hintersten Ecke der neue Papa.
Irgendwie war der Kreislauf nicht wirklich so, wie er sein sollte. Man war so lieb und bot Mutter und Kind sogleich ein Plätzchen an. Danke schön. "Hach, kuck ma, der hat ja Opa Otto´s Hände" "Und Opa Heinz seine großen Ohren" "Aber die blauen Augen, die hat er von Sandra" "Aber er hat ja gar keine richtige Nase, die is ja so platt" "Und die dunklen Haare, die sind immerhin von unserm Daniel" Puh, haben jetzt endlich alle die Ähnlichkeiten abgeglichen? Hallo,
mir geht es gut, danke. Habe alles wunderbar gemeistert! Ich warf Daniel einen Blick zu, schnappte mir Baby Namenlos und wankte in mein Zimmer, Daniel im Schlepptau.
Zum ersten mal war unsere kleine Familie alleine. Stumm blickten wir unseren Sohn an. "Wie soll dieser Wurm denn überhaupt heißen?" fragte Daniel in die Stille hinein. "Wie wäre es mit Pascal?" schlug ich vor. "Ich nenne meinen Sohn doch nicht nach einer elektrischen Maßeinheit!" konterte Daniel sofort. Ok, das sah ich ein. "Was hältst du von Sebastian?" kam ein Versuch von dem frisch gebackenen Vater. "Nee, wenn dann Bastian, ist nicht so streng." Zwei Augenpaare
blickten zu dem kleinen schlafenden Bündel neben mir, doch, der Name passt zu ihm. Ein Bastian wird den Schalk im Nacken haben. Nichts wollte ich weniger haben, als ein langweiliges stilles Kind. Aber sollte Bastian auch nur halbwegs nach seinen Eltern kommen, so würde er weder still noch langweilig werden.
Die Tür öffnete sich und ein Kopf schob sich in das Zimmer "Sie müssen jetzt gehen, die beiden brauchen etwas Ruhe!" kommandierte dieser Kopf, der zu einer Nonne gehörte. Daniel gab uns beiden noch einen kleinen Kuss und verabschiedete sich. Draußen warte noch immer der Rest der neugierigen Familie, gespannt darauf, wie Baby Namenlos denn nun heißen würde. Aber die 7 Personen vor der Tür interessierten mich im Moment wirklich nicht. Bastian schlief sich schon den Stress weg und auch ich wollte nur noch
schlafen.
In den folgenden 4 Tagen gab sich meine Verwandtschaft die Klinke in die Hand und ich hatte keine ruhige Minute mit Bastian alleine. Wenn mal niemand von den vielen Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, den neuen Omas und Opas da war, dann waren Daniel und ich damit beschäftigt, uns beibringen zu lassen, unseren Kurzen beim baden und wickeln nicht fallen zu lassen. Außerdem bekam ich Basti ab dem 2. Tag nur noch für kurze Zeit am Tag zu Gesicht. Sein kleines Näschen hatte sich gelb verfärbt. "Das ist die
Neugeborenen Gelbsucht!" musste ich mich aufklären lassen und meinen Kleinen abgeben, damit er unter einer Rotlichtlampe wieder zu einer normalen Farbe finden würde. Schlimm sah er aus, wenn er dort ,nur in eine Windel gepackt und einen Schutz über den Augen, unter dieser Lampe lag. Aber Mutter und Kind waren tapfer. Wir nörgelten beide nicht, fügten uns und durften nach 4 Tagen endlich nach Hause. 6 Wochen konnte ich unsere kleine Familie ganz in Ruhe genießen. Daniel arbeitete wirklich wie ein Wilder,
legte ständig Sonderschichten ein. Wir wollten schließlich beweisen, dass wir es alleine packen würden. Dann kam der Tag, an dem ich wieder anfangen musste zu arbeiten. Mir graute davor. Ich würde Basti nur noch am Wochenende sehen. Und das noch fast ein Jahr lang. Sonntagabends brachten wir Bastian zu meinen Eltern, Montags ging es zur Arbeit. Wenn ich Samstags frei hatte und den Zwerg schon Freitagabend holen wollte, dann schlief er schon. So wie an den anderen Abenden in der Woche auch. Also holte ich ihn
meist erst Samstagmorgen oder Nachmittags nach Feierabend ab. Bastian wurde mir immer fremder, je älter er wurde. Nun war er schon 7 Monate alt. Immer wenn wir ihn am Wochenende holten, schrie der kleine Kerl wie am Spieß, seine Eltern waren ihm fremd. Wollten wir ihn füttern, weigerte er sich den Mund aufzumachen oder spuckte seinen Brei wieder in hohen Bogen aus. Es zerrte an meinen Nerven. Ich hatte ein Teilzeit-Kind. Das Kind, um welches ich so gekämpft habe, wollte mich als Mama nicht akzeptieren. Daniel
konnte mit ihm nicht viel anfangen, sagte er immer.
Er schmuste mit ihm, ging aber dann wieder zu seinem gewohnten Tagesablauf über. Das hieß, nach der Spätschicht wurde sich noch auf ein Bier - meistens wurden es dann doch mehr - mit den Kollegen in der Kneipe getroffen. Morgens war er Angeln. Seine Freunde nahmen einen immer größeren Platz in unserer kleinen Familie ein und ich war an den Wochenenden bald eine alleinerziehende junge Mutter von 17 Jahren, die neben dem Baby auch den Haushalt allein versorgen musste. Nebenbei die ganze Woche arbeiten. Mir wurde
es irgendwann zuviel. Plötzlich sah ich Löwen und Tiger neben meinem Bett liegen, ich wurde immer dünner, kippte ständig um und war ein reines Nervenbündel. "Nur noch ein paar Wochen" sagte ich mir immer wieder "dann hast du es geschafft. Dann ist Prüfung und du kannst dich um deine Männer kümmern!"
Meine Kündigung hatte mir mein Chef vorsorglich schon Wochen vor der Prüfung zugesteckt. Keine nette Geste, aber ich war unheimlich froh drüber.
Meine Prüfung im darauf folgenden Sommer habe ich bestanden. Nun konnte ich mich ganz auf meine Rolle als Mama konzentrieren.
Bastian war schon sehr früh unheimlich temperamentvoll. Mit 8 Monaten war er nicht mehr zu bändigen, zog sich überall hoch, was ihm auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bot. Einen Monat später konnte er bereits laufen. Seinen Vater sahen wir immer weniger. "Laß uns ein paar Tage wegfahren, nur wir beide" drängte ich Daniel. Zu meinem Erstaunen willigte er ein. Wir fuhren mit unserem uralten froschgrünen Audi Richtung Frankreich los, ohne genau zu wissen, wohin wir eigentlich wollten.
An der Grenze entschieden wir uns, Kurs auf Bordeaux aufzunehmen und weiter an den Atlantik zu fahren. Lacanau de Ocean.
Ein wunderschöner Name für ein malerisches Dörfchen. "Daniel, mir fehlt der Kurze so. Ich will wieder nach Hause" drängelte ich aber schon 24 Stunden später.
So fuhren wir also 24 Stunden runter nach Frankreich, um nach weiteren 24 Stunden wieder Richtung Heimat zu tuckeln. Nach drei Tagen konnte ich meinen kleinen Schatz wieder in die Arme nehmen.
Der Zwerg wurde immer niedlicher. Er war nun schon 18 Monate alt, ein süßer hellblonder Wirbelwind, als Daniel plötzlich vorschlug, dass wir doch heiraten könnten. Das Thema war nie auf dem Tisch. Warum auch. "Naja, dann bekomme ich Steuerklasse 3 und wir haben im Monat mehr übrig!" war seine, ach so romantischen, Antwort.
"Aha, so sehen also Heiratsanträge aus" dachte ich etwas enttäuscht. Natürlich strahlte ich ihn trotzdem an und willigte ein.
Die Standesamtliche Trauung sollte am 19.6.86 sein. "Wollen wir nicht mal nach Ringen schauen gehen?" schlug ich mal wieder völlig naiv vor. "Aber wir können uns das Geld doch sparen, wir nehmen einfach die Verlobungsringe, die sind doch erst knapp 2 Jahre alt!" Ja klar, wir konnte ich bei einem so romantisch veranlagten Menschen wie Daniel auch nur annehmen, dass ich einen neuen Ehering bekommen würde. "Aber dann lass uns ein Brautkleid aussuchen gehen." Neuer Versuch. "Hat
deine Cousine nicht erst geheiratet? Ihr habt doch die gleiche Figur, das kannst du dir doch leihen!" Ich drehte mich weg, er musste nicht sehen, dass mir diese Worte die Tränen in die Augen trieben. Wieder einmal hielt ich den Mund und willigte ein. Das Kleid war auch hübsch und passte wie angegossen. Nur gehörte es irgendwie nicht zu mir, als ich es abholte und anprobierte.
Am Donnerstag fuhren wir mit der ganzen Familie zum Standesamt. Daniel hatte sich doch überreden lassen und sich in einen schnieken schwarzen Anzug geschmissen. Aber ich musste lachen als ich ihn sah.
Nicht nur, dass er neuerdings Vollbart trug, welcher ihn nicht wie 21 sondern wie 50 Jahre aussehen ließ. Nein, dieser Mann hatte stämmige kurze Beine und eine Wo-stehen-die-Klaviere-Figur. Er war eben Judoka, dann sieht man eben so aus! Aber ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als er so vor mir stand.
"Basti, Mama und Papa gehen jetzt mal eben schnell heiraten" erklärte Daniel unserem Sohn vor dem Trauzimmer.
"Will mit" tönte der Kurze auch gleich.
Ok, Basti kam eben auf den Schoß von Papa.
Die Familie saß völlig gerührt hinter uns. Zum Glück blieben mir so Omas feuchte Augen erspart. Kaum hatte der Standesbeamte den Raum betreten, fing der Kurze auch schon an zu schreien. Na ja, der Mann sah in seinem schwarzen Talar auch wirklich nicht vertrauenerweckend aus. Also Basti runter von Papas Schoß gehievt und ab auf Omas Schoß. Schon war er ruhig.
Mir blieb nichts anderes übrig, als dort auszuharren und zu warten, dass alles bald vorbei war. Wie gerne hätte ich noch die Flucht ergriffen. Nach langen 15 Minuten war alles vorbei.
Ich versuchte den neuen Nachnamen, der mich nun viele Jahre begleiten sollte, unter das Papier zu setzten.
Wir traten vor das Rathaus und plötzlich piekste es überall. Im BH, im Slip, die Haare juckten. Warum nehmen die Leute ihren Reis nicht zum kochen? Müssen sie mich darin baden?
Nachdem wir alle Glückwünsche entgegengenommen hatten, fuhren wir endlich essen.
Mein Magen neigte sich schon Richtung Kniekehle. Heute weiß ich nicht einmal mehr, was es eigentlich zu essen gab. Es kann also nicht wirklich so gut gewesen sein, dass man sich auch 17 Jahre danach noch dran erinnert.
Zu Hause holte mich dann gleich der Alltag wieder ein. Bastian was zu essen machen, in aufs Töpfchen gesetzt, von dem er immer runter krabbelte um dann mit blanken Popo durch die Wohnung zu toben und danach das Treppenhaus wischen. Danach noch schnell unter die Dusche, den Babysitter in Empfang nehmen und los gings zum Poltern.
Das Vereinsheim schien aus allen Nähten zu platzen. Obwohl wir beide eine große Verwandtschaft hatten, so hatten wir nicht mit 200 Leuten gerechnet. Es war jeder da, dem wir in unserem Leben bisher auch nur die Hand geschüttelt hatten! Daniels Eltern hatten ein riesen Büfette kommen lassen und aus dem Jugendzentrum spielte die Band zum Tanze. "Aber dich gibt's nur einmal für mich" stöhnte der Sänger gerade ins Mikro und beorderte Daniel und mich damit zum Eröffnungstanz auf die Tanzfläche.
"Wozu um Himmelswillen haben wir einen Tanzkurs gemacht, wenn du immer nur auf meinen Füßen stehst?" raunzte ich Daniel ins Ohr und versuchte aus einem schmerzverzerrten Gesicht etwas Lächelndes zu machen. Nach diesem einen Tanz beschlossen wir mit Rücksicht auf meine Füße dann doch, den anderen bei dieser fragwürdigen Art der Belustigung, den Vortritt zu lassen.
Um 24 Uhr entriss Daniel dem Sänger angeheitert das Mikrophon und forderte zu allgemeinen Nacktbaden auf. Wie bitte? Ich habe mich anscheint verhört. Baden war ja geplant, aber bitte doch angezogen!
Peinliche Stille machte sich im Saale breit, bis plötzlich 20 Leute aufsprangen, raus rannten und sich die Klamotten vom Leibe rissen.
Ich zog es doch vor, meine gar nicht mütterliche Figur im Bikini zur Schau zu stellen. Eh ich mich versah, wurde ich auch schon in das lauwarme Wasser geschubst. Es war auch um diese Zeit noch unheimlich warm und über uns leuchtete der Vollmond. "Wenigstens etwas Romantik an diesem Tag." dachte ich bei mir.
Als wir alle aus dem Wasser stiegen um wieder zu den anderen zurück zukehren, hatten sich schon so gut wie alle verabschiedet - nur leider nicht von uns. Aber wenn man satt war und genug getrunken hatte, dann konnte man diese gastliche Stätte auch ruhig wieder verlassen.
Und ich wollte eigentlich auch nur noch ins Bett. Morgen stand ein Gespräch mit dem Dorfpfarrer an, der uns übermorgen trauen sollte.
Am Morgen des 21. Juni weckte uns Basti früher, als es wirklich nötig war. Vielleicht spürte er, dass wir heute alle noch einmal ganz brav sein und heilig gucken mussten.
Kurz nach dem Frühstück klingelte schon der Friseur um meine blonden Locken in eine anständige Pracht zu verzaubern. Das Stillsitzen fiel mir schwer. Es ziepte, wenn er versuchte, mir irgendwelche langen Nadeln in meinen Kopf zu stechen. Kaum war er fertig, befahl er mir, ich solle mein Brautkleid anziehen. Da ich mit meinen 18 Jahren noch immer tat, was man mir auftrug, rannte ich ins Schlafzimmer, schmiss mich in den langen weißen Fummel und stürmte zurück. Das heißt, ich stürmte eigentlich nur bis zur nächsten
Tür, denn da war plötzlich Schluss. Ich kam mit diesem Monster von Reifen, welcher unten im Kleid befestigt war, nicht nur die Tür. Meine Brautjungfer, Daniels Schwester Tanja, schob und quetschte mich schließlich quer durch die Tür durch. Also noch einmal Platz genommen vor Figaro´s zarten Händen. Diesmal piekste er die Nadeln erst durch das Diadem, welches oben auf meinen Locken thronen sollte, und dann erst in den Kopf.
"Autsch"
Ein Blick in den Spiegel sagte mir, dass ich endlich fertig war. Nicht nur am Kopf, auch mit den Nerven. Der nächste Blick ging zur Uhr. "Mensch, Tempo, wir müssen los!" Ab in den quittegelben Daimler meines Onkels. Das Blumengesteck darauf hing war etwas sehr nach links, aber die paar Meter wird es hoffentlich halten.
Die ganze gerührte Verwandtschaft saß schon auf uns lauernd in der Kirche. Einige Tanten, die besonders nahe am Wasser gebaut hatten, wischten sich verstohlen die ersten Tränen aus den Augen. "Hallo, wieso seid ihr so traurig? ICH muss auf´s Schafott!" Aber vielleicht hatten sie ja auch nur Mitleid, wussten sie nach 30 Jahren doch so ziemlich genau, was auf mich zukommen würde. Warum war nur niemand so fair und riss mich in dem Moment, wo ich mein "Ja" dem Pfarrer entgegen hauchte, rigoros
von der Kanzel und zerrte mich nach draußen? War das Schadenfreude oder hilflose Starre, in die die ganze Sippe verfallen war? "Junge Frau, bitte mal etwas lächeln!" bat der Fotograf. Na, der hat gut Reden. Ok, ich versuchte es mit "Cheeeeeeese" aber so ganz gelang es mir nicht.
Unser Blumenstreukind fand das Ganze wohl genauso öde wie ich, der Bengel bohrte hingebungsvoll in der Nase.
Das ergab das einzig wirklich komische Foto, welches mich auch heute noch zum Lachen bringt.
Bei der anschließenden Feier mit diesmal nur 60 Leuten, war es schon etwas lustiger als auf dem Polterabend. Das lag daran, dass es diesmal eine richtige Theke gab und der Vorrat an Bier und Korn wohl unerschöpflich war. Der männliche Teil meiner neuen und alten Verwandtschaft war dann auch so ziemlich den ganzen Abend in der Nähe der Theke zu finden. Das hinterließ natürlich seine Spuren und so wurden meine armen Zehenspitzen beim Tanzen auch bald von äußerst lustigen Onkels erlöst.
Um 24 Uhr hatte mein Papa Geburtstag. "Häääppy bööörzday toooo yu, lieber Willhelm, häääppy böööörzday tooo yu" klang es aus schwankenden Kehlen. Somit waren Daniel und ich die absolute Aufmerksamkeit erst mal los. Als sich aber auch nach weiteren 2 Stunden niemand mehr so recht an uns erinnern wollte, zogen wir es doch vor, aufzubrechen und unsere Hochzeitsnacht endlich in Angriff zu nehmen. Erstmal mussten wir aber dem Babysitter noch den Abend in Sekunden genauen Einzelheiten schildern. Als wir gegen
Morgen endlich ins Bett fielen, verschliefen wir unsere Hochzeitsnacht. War aber auch nicht weiter schlimm. Und es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass der Sex in einer Ehe sowieso nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.
Wie untergeordnet, dass sollte ich bald darauf erfahren.
Ehe
Wir waren nun schon über anderthalb Jahre verheiratet. Die Ehe plätscherte so vor sich hin. Viel Gemeinsamkeiten hatten wir nicht mehr. Zwar kümmerten wir uns beide voll und ganz um Bastian , aber uns vergaßen wir dabei. Daniel unternahm auch weiterhin sehr viel mit seinen Kumpels, war Angeln oder beim Sport. Die Abende wurden von ihm meist in der Stammkneipe um die Ecke verbracht.
Eines Morgens kam ein Anruf. Es war ein nettes Mädel, welches meinen Mann sprechen wollte. Sie war sehr erstaunt darüber, als ich ihr mitteilte, Daniel sei mein Ehemann. "Das glaube ich dir nicht, wir hatten so eine tolle Nacht zusammen!" war ihr Kommentar. Aha, das war also das obligatorische Nachtangeln, zu welchem er immer öfter aufbrach. Jetzt fiel mir auch wieder die Postkarte ein, die neulich im Briefkasten lag. Darauf bedankte sich eine Sabine für die nette Nacht. Wunderschöne Hobby pflegte mein
Mann da! Stocksauer stellte ich Daniel abends zur Rede. Natürlich stritt er alles ab. Meinte, meine Nerven seien wohl immer noch etwas angegriffen.
Ich war so wütend auf ihn, dass ich einfach verschwand. Sollte er doch heute Abend auf Basti aufpassen, heute Abend würde ich mich auch mal amüsieren.
Bekannte gaben an dem Abend passender Weise ein paar Häuser weiter eine Gartenparty. Kurzerhand lud ich mich selbst ein. Nachdem ich mir meinen Frust halbwegs weggespült hatte, bemerkte ich neben mir einen verdammt attraktiven Kerl. Jedenfalls erschien er mir in meinem leicht angeheiterten Zustand so. Wir unterhielten uns wirklich sehr nett und irgendwann zog er mich ins Haus.
Dieses Haus sollte ich erst am nächsten Morgen mit einem ziemlich schlechten Gewissen wieder verlassen. Aber Daniel und ich wir waren quitt. "Jedem Tierchen sein Plessierchen." dacht ich bei mir und rieb Daniel meine tolle Nacht mit Torsten geradewegs unter die Nase. Das brachte mir die erste Ohrfeige ein, die ich von einem Mann bekam. "Super, er darf und ich nicht?" Trotzdem vertrugen wir uns ziemlich schnell wieder. Irgendwie hatten unsere Seitensprünge etwas Leben in die Bude gebracht.
"Sandra, ich werde mit den Männern übermorgen ein paar Tage nach Schweden zum angeln fahren" eröffnete Daniel mir einige Tage später freudestrahlend. " Schön das ich in deinen Urlaubsplänen auch vorkomme!" entfuhr es mir giftig. Ich war wütend, hätte ihm den Hals umdrehen können. Aber Reisende soll man nicht aufhalten. Und so fuhr ein mit Bierpaletten und 5 freudig erregten Männern beladender VW-Bus an einem schönen Juni Morgen vor unserer Tür ab. "Klasse, nicht mal an unserem 2. Hochzeitstag
ist er da!" Ich hatte mir meine Ehe schon etwas anderes vorgestellt.
Tagsüber war ich mit Basti voll ausgelastet. Aber abends überkam mich die Langeweile und ich lud ein paar alte Schulfreunde abends zum Videoabend ein. Als die Horde erschien, stand plötzlich auch Henry mit in der Tür. "Mensch, das ist ja toll, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen" fielen wir uns um den Hals. "Der hat sich aber wirklich raus gemacht, alle Achtung" dacht ich mir. Von dem Film haben wir nicht viel mitbekommen und auch nicht, dass die anderen bald gelangweilt abzogen.
Wir hatten nur Augen für uns. Am nächsten Morgen hatte ich diesmal überhaupt kein schlechtes Gewissen.
Im Gegenteil, mein Mann hatte es doch nicht anders verdient! Henry und ich trafen uns nun jeden Tag und auch die Nächte blieb er bei mir. Wenn Bastian schlief, dann kam er und wir hatten unseren Spaß.
Daniel kam nach über einer Woche wieder. Froh gelaunt öffnete ich ihm die Tür.
Nein, nicht weil ich wieder das treusorgende Eheweibchen war. "Daniel, es tut mir leid, aber du ziehst heute noch aus! Ich bin nun mit Henry zusammen!" Er sah mich stumm an, drehte sich um und packte schweigend seine Koffer. In seinen Augen standen die Tränen, als er sich wieder zu mir umdrehte. Nun musste ich schlucken. "Ist das wirklich richtig, was du da machst?" ging es mir durch den Kopf.
Aber ich hatte genug von der Vernachlässigung, wollte auch endlich mal wieder etwas Spaß im Leben haben. Ich war knapp 21 Jahre alt und doch nicht nur Mutter! Und da war endlich jemand, der sah mich auch wieder als Frau. "Sandra, bitte denk noch mal drüber nach. Ich gehe zu meinen Eltern. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du wieder etwas ändern möchtest!" Leise zog er die Tür hinter sich zu. Tränen rannen mir übers Gesicht als ich ihm vom Küchenfenster hinterher blickte. Henry und ich genossen
unsere Verliebtheit in vollen Zügen. Und auch Bastian schien mit ihm kein Problem zu haben. Er freute sich, dass nun öfter ein Mann im Haus war und mit ihm spielte, ihn hinterm Lenkrad auf den Schoß nahm und Basti so tun konnte, als würde er mal Rennfahrer werden.
Dann kam der Tag, der sich in den nächsten 2 Jahren ständig wiederholen sollte. Ich wollte Bastian gerade vom Kindergarten abholen und traf auf der Straße einen alten Bekannten. Wir unterhielten uns angeregt, als ich von hinten plötzlich einen Schlag gegen den Kopf bekam. Ich taumelte und wurde niedergestoßen, fiel mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Als ich dort unten lag, trat Henry noch einmal nach. Er hatte Oliver und mich gesehen, sofort das Auto abgestellt und seine Eifersucht an mir ausgelassen. Danach
packte er mich ins Auto, stieß mich vor dem Kiga raus und meinte, ich solle mein Kind da raus holen und sofort nach Hause kommen
Von dem Tag an sollte Schläge für mich zur täglichen Gewohnheit werden. Henry wurde immer jähzorniger und eifersüchtiger. Egal mit wem ich redete, ich handelte mir hinterher Schläge, Tritte und Stöße ein. Er war sehr bedacht darauf, mich immer nur dort hin zu schlagen, wo niemand die Blutergüsse und blauen Flecke sah. Verzweifelt rief ich wieder einmal Daniel an. Wir hatten uns in der letzten Zeit öfter getroffen. Meist um mit Bastian zusammen etwas zu unternehmen, aber er war plötzlich auch ein wunderbarer Zuhörer.
Es lief super zwischen uns, wir waren die besten Freunde geworden, obwohl wir mittlerweile geschieden waren.
"Ich würde so gerne wieder mit dir zusammen sein" dachte ich so oft, wenn wir mal wieder mit Basti Tretboot fahren waren oder einfach nur mit dem Hund zusammen im Wald. Aber es war mir peinlich, Daniel darauf anzusprechen. Er wusste auch so, dass ich meinen Fehler von damals schon tausendfach bereut hatte.
Hilflos nahm mich Daniel nun in den Arm und ließ mich heulen. Er wusste auch nicht genau, was wir noch machen sollten. Daniel, Marc - mein Bruder- und mein Vater hatten erst vor kurzen Henrys Sachen aus meiner Wohnung geholt und ihn rausgeschmissen. Aber ich blöde Kuh hatte nichts besseres zu tun, als ihn ein paar Tage später wieder reinzulassen und ihm seine Beteuerungen zu glauben. "Sanny, bitte, ich werde mich ändern, ich verspreche es dir! Ich weiß das es Scheiße ist, was ich mache!"
Diese Naivität sollte ich 4 Tage bitter büßen.
Wir schrieben den 21.April 1990. Es war ein Tag nach dem Geburtstag meiner Mama. Ich bin mit Bastian dort alleine gewesen, denn Henry war bei meinem Eltern logischerweise nicht gerne gesehen. Er wollte zu seinen neuen Arbeitskollegen in die neuen Bundesländer.
Ich lag noch im Bett, als ich Henry die Schlafzimmertür aufreißen hörte. "Du alte Schlampe" schrie er mich an "Ich habe gestern Abend versucht dich anzurufen, wo warst du?" "Hast du dich wieder mit ´nem Kerl rumgetrieben?" War Daniel, das Schwein, hier?"
Ich kam nicht mehr dazu ihm zu antworten. Er stürmte an mein Bett. Aus dem Augenwinkel sah ich nur noch, dass er sich die Hose geöffnet hatte. Henry riß mich im Bett rum, schmiss mich auf den Bauch. Was danach kam, das sollte ich mein Leben lang nicht vergessen. Es prägte mich bis heute im Umgang mit Männern.
Als er endlich von mir abließ und sich keuchend auf die Seite rollte, stürzte ich aus dem Bett aufs Klo und übergab mich. Alles tat mir weh. Er hatte neben der Vergewaltigung nicht vergessen, mich auch noch zu verprügeln - mal wieder.
Ich schnappte mir die nächst besten Klamotten und stürzte aus dem Haus. Bastian war zum Glück über Nacht Oma und Opa geblieben. Als ich mein Auto aufschließen wollte, musste ich mehrere Versuche starten, so sehr zitterte ich am ganzen Körper. "Wohin?" dröhnte es mir im Kopf.
"Das kannst du niemanden erzählen. Die Polizei wird dir auch diesmal nicht glauben!" Verwirrt fuhr ich stundenlang durch die Stadt, bis Daniel endlich Feierabend hatte. Er sollt es als Einziger erfahren, was da mit mir gemacht wurden war.
"Dieses Schwein bringe ich um" schrie er, als ich ihm davon erzählte. Er schnappte sich meinen Schlüssel und raste los zu meiner Wohnung.
Ich weiß bis heute nicht, was dort vorgefallen ist. Daniel kam nach knapp einer Stunde zu mir zurück. Ich hatte in seiner Wohnung auf ihn gewartet und stand die ganze Zeit unter der Dusche. Aber der Schmutz wollte nicht abgehen. Er sah etwas mitgenommen aus. "Diese Sau wird dich nie wieder belästigen, den bist du los!" versprach er mir. Aber in meine Wohnung wollte ich heute nicht zurück.
Wir holten Bastian von meinen Eltern ab. Dort machte ich gute Miene zu bösen Spiel. Ich tat einfach so, als wäre alles ok, als sei nichts passiert. Auch die nächsten Jahre habe ich diesen Morgen immer ganz hinten im Kopf verdrängt. Mit Basti zusammen fuhren wir zurück zu Daniel. Er spielte mit ihm und schickte mich ins Bett.
Nachts wurde ich wach und bemerkte, dass ich nicht alleine im Bett lag. Aber Daniel hat mich nicht angerührt. Wie auch die Monate vorher, kümmerte er sich um mich und ließ mich ansonsten in Ruhe.
Alleine
Nun war ich schon einige Monate alleine. Der Sommer war zwar warm, aber ich konnte ihn alleine nicht richtig genießen. Zwar hatte ich 2 kleine Affären nebenbei, aber was richtiges war das auch nicht.
Zudem plagten mich die Geldsorgen. Daniel hatte seit ein paar Wochen eine Freundin. Sie fand es nicht toll, das wir uns immer noch trafen, um mit Bastian gemeinsam etwas zu unternehmen. Seine Besuche wurden immer weniger, irgendwann holte er Basti nur noch Sonntagmorgens ab und brachte ihn um 18 Uhr wieder. Das machte Bastian aber nichts aus. Er traf sich fast täglich mit seinen neuen Freunden aus dem Kindergarten. Aber dass Jana Daniel dazu überredete, den Unterhalt an mich einzustellen, das schockte mich wirklich.
Bisher arbeitete ich nebenbei, wenn Basti im Kindergarten war. Das reichte zum Leben nun natürlich nicht mehr aus. Was sollte ich machen? Als das Geld wirklich knapp wurde und der Kühlschrank immer leerer, entschloss ich mich nun doch endlich zum Sozialamt zu gehen.
Der Kindergarten hatte Ferien, also nahm ich Bastian mit. Er hatte Hunger. Selbst für Brötchen oder Toast war kein mehr Geld da.
Nach einer mir endlos erscheinenden Wartezeit wurden wir zu der Sachbearbeiterin vorgelassen. "Ohne Unterlagen kann ich gar nichts für sie machen!" raunzte sie mich an. "Mama, ich habe Hunger!" quäkte Basti auf meinem Schoß. "Sie können mich doch nicht einfach wieder wegschicken, mein Kind ist hungrig! Wenigstens ein paar Mark, damit ich ihm ein Brötchen besorgen kann!" mir standen die Tränen in den Augen.
Sie verschwand aus dem Zimmer, nicht ohne meinen Personalausweis mitzunehmen. Als sie zurückkam hatte sie einen Zahlschein in der Hand. "Damit werden Ihnen unten an der Kasse 78 DM ausgezahlt, das muss reichen, bis Sie alles nachgereicht haben und wir Ihren Antrag bearbeiten können!" Damit war ich entlassen. Ich schnappte mir Bastian, stellte mich peinlich berührt in die Schlange vor der Kasse und ließ meinen Blick über die wartenden Leute schweifen. "Soweit bist du nun also gekommen!" Die
Leute sahen wirklich bedürftig aus, aber auch so, als würden sich die meisten nur auf der Stütze ausruhen.
"Das ist nur eine Übergangslösung, du bist hier ganz schnell wieder weg!" ging es mir durch den Kopf, als man abermals meinen Ausweis sehen wollte. Dann hatte ich endlich meine 78 DM. Mit Basti an der Hand stürzte ich in den benachbarten Bäckerladen um ihm etwas zum Frühstücken zu kaufen. In der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause war er schon etwas ruhiger.
Zu ruhig für meine Begriffe. "Ob er weiß, wo wir da eben waren?" machte ich mir Gedanken. Ich wollte das alles von ihm fernhalten.
Am nächsten Tag entdeckte ich ein "richtiges" Stellenangebot in der Tageszeitung. "Verkäuferin für Schokoladen gesucht" sprang mir entgegen. Sofort rief ich dort an und bekam noch für den selben Tag einen Termin zum vorstellen. Schnell die Haare gewaschen, Basti rüber zur Oma gebracht und ab in den Bus.
2 Stunden später war ich wieder zu Hause. Mit einem Arbeitsvertrag! Es waren zwar auch nur 25 Stunden die Woche, aber der Verdienst war ok. So brauchte ich nur noch Wohngeld zu beantragen und keine Sozialhilfe.
War es das?
Das arbeiten erwies sich als Stress. In der Frühschicht ging es noch. Ich musste dann von 8:30 bis 13 Uhr arbeiten. Gut, dann aß Bastian eben zukünftig im KiGa. Was ihm auch sehr gefiel. Mein kleiner Suppenkasper hatte endlich die Freunde am Essen entdeckt. Aber in der Spätschicht wurde es knapp. Basti um 12 Uhr abgeholt, ab zur Oma gebracht und los gerauscht in den Laden. Bis 18 Uhr arbeiten, abrechnen und dann nach Hause. Da war es schon kurz vor halb 7 . Viel hatte ich von Bastian dann nicht mehr. Immerhin
hatte er schon Abendbrot gegessen.
Dann aber wollte Oma in den Urlaub. Mir blieb nichts anderes übrig, als Bastian mitzunehmen. Ich schickte ihn nach hinten ins Lager, zeigte ihm wie man Gummibärchen abwog und in Tüten packte. Vorne kümmerte ich mich um die Kunden.
Das ging auch lange Zeit ganz gut so. Bastian machte es Spaß mir zu helfen, er war nun schon in der 3.Klasse. Dann kam meine Chefin eines Abends kurz vor Ladenschluss ....und sah Bastian hinten beim abpacken. "So geht das aber nicht!!! der Junge nascht doch bestimmt viel zu viel von unserer Ware!"
Ich beteuerte, dass ich immer aufgepasst und ihm eingeschärft hatte, so etwas nicht zu tun. Es ließ sie kalt und am nächsten Tag hatte ich meine Kündigung. "Toll, das ganze Spiel geht von vorne los!" Ich war frustriert. Während dieser Arbeitslosigkeit nahm ich mir ein Tageskind. Die Mutter zahlte nicht schlecht dafür, dafür war Peter aber auch von morgens um 7 Uhr bis abends 21 Uhr bei uns.
Immerhin konnte ich mich aber so um Bastis schulische Belange und um meinen Haushalt kümmern. Und das Geld war genauso viel bzw. wenig wie vorher. Peter war knapp 1 Jahr als er zu uns kam. Nach 2 Jahren steckte ihn seine Mutter in eine KiTa und somit stand ich wieder ohne etwas da. Bastian ging nun schon in die 5. Klasse und konnte auch mal gut eine Stunde draußen alleine spielen. Ich bekam einen Job als Kassiererin in einem großen Supermarkt. Das Geld stimmte endlich richtig, wir brauchten kein Wohngeld mehr,
ich konnte mir einen kleinen Wagen leisten und mit der Schicht war das auch kein Problem. Manchmal hatte ich den Eindruck, Bastian genoss es, dass ich nicht mehr so viel um ihn rum wuselte. Nun gönnte ich mir auch mal wieder einen Abend für mich alleine. Die ganzen Jahre war ich immer nur zu Hause. Jetzt aber konnte Basti aber auch mal eine Stunde abends alleine bleiben.
Der Anfang vom Ende
Es war Freitagabend und ich beschloss in unser Vereinsheim zu gehen. "Vielleicht ist Pa ja auch da und wir können eine Runde Karten spielen." dacht ich im Stillen.
Leider war niemand da, den ich kannte. Ich stellte mich an die Theke, wenigstens die Wirtin kannte ich. Ich hielt mich an meinem Bier fest und bemerkte den Mann neben mir.
Wir kamen ins Gespräch und beschlossen später noch, zusammen in die City zu fahren. Mir fiel damals nicht auf, dass Jürgen dem Alkohol mehr zusprach als es nötig gewesen wäre.
Wir trafen uns danach öfter und immer noch machte ich mir keine Gedanken über den enormen Alkoholkonsum von Jürgen.
Nach einem Jahr kauften wir eine Wohnung und zogen zusammen. Endlich war ich nicht mehr alleine für alles zuständig, dachte ich mal wieder völlig naiv. Nach einem weiteren Jahr fragte man mich wieder ganz romantisch, ob wir denn vielleicht heiraten wollten. Es wäre alles einfach mit dem Eigentum und so meinte er. Sicher, das sah ich ein.
Das Aufgebot sollte ich mal alleine bestellen, Jürgen hatte keine Zeit, musste Überstunden machen. Die Blicke auf dem Standesamt waren schon komisch. Aber was solls, ich habe die Papiere besorgt und im April darauf war Hochzeit. Komischerweise freute ich mich diesmal überhaupt nicht. Ich machte mir nur Sorgen ob das alles richtig ist. Jürgens Alkoholproblem wurde immer heftiger. Morgens beim Kaffee kochen kippte er die Hälfte daneben weil er so zitterte. Abends kam er meist sturzbetrunken von der Arbeit, riss
aber gleich die nächste Dose Bier auf. Als ich mal nachzählte an einem Wochenende, kam ich auf 16 0,5 Liter Dosen, an einem Tag!!!!
An einem Freitagnachmittag klingelte das Telefon. Dran war das städtische Klinikum. "Wir haben hier ihren Mann liegen, er hatte einen Unfall. Bitte holen sie ihn umgehend ab, er ist völlig betrunken und randaliert hier!" Klasse, ich wollte ihn in diesem Zustand aber auch nicht zu Hause haben. Mit meinem Bruder fuhr ich trotzdem hin, alleine hätte ich ihn nie ins Auto bekommen. Er heulte, hatte einen Schlüsselbeinbruch und sich das halbe Ohr abgerissen.
Kaum hielten wir vor unserem Haus, stürzte er aus dem Auto und türmte zu seinem Kumpel eine Straße weiter. Was er dort tat, das wusste ich sofort. Es wurde weiter getrunken. Ich beschloss dem ganzen ein Ende zu machen. Zuviel wurde in den letzten Monaten nur gestritten wegen dem Saufen. Außerdem hatte ich festgestellt, dass Jürgen weder lesen noch schreiben konnte. Deshalb musste ich alles immer alleine regeln. Mir fiel es wie Schuppen vor die Augen.
Terror
Ich zog aus.
Allerdings war ich auch diesmal, genauso wie damals bei Henry, so naiv und glaubte seinen Beteuerungen sich zu ändern. Also zogen wir wieder zusammen. Das ging aber auch nur ein Jahr gut, denn natürlich änderte er sich nicht! Ich hatte die Nase endgültig voll.
Mit dem Einreichen der Scheidung ging es nun erst richtig los und Jürgen zeigte sein wahres Gesicht. Denn ich hatte ja keine eigene Wohnung und so lebten wir getrennt in der gemeinsamen Wohnung. In den ganzen Jahren habe ich ihn nie so erlebt, wie in der folgenden Zeit. Unterstützung bekam ich aber von Bastian, der mittlerweile 16 Jahre alt war und überhaupt nicht gut auf seinen Stiefvater zu sprechen.
Die Wohnung wurde genauso wie der Kühlschrank aufgeteilt. Bastian behielt natürlich sein eigenes Zimmer, ich beanspruchte das Wohnzimmer für mich. Mir machte es nichts aus, auf der Couch zu schlafen, man konnte sie wunderbar ausziehen und ich hatte massig viel Platz. Nur sah Jürgen nicht ein, warum er seine Abende nicht trinkend vorm Fernseher im Wohnzimmer verbringen sollte. Mittlerweile hatte ich einen Full-Time-Job und war den ganzen Tag außer Haus.
Da störte es mich nicht, wenn er dort rumlungerte. Aber wenn ich Abends um 21-22 Uhr von der Arbeit kam, dann wollte ich ins Bett. Er terrorisierte mich, wo er nur konnte. Schnitt die Kabel von Fax und Fernseher durch, knallte mein Handy gegen die Wand und schloss das Telefon bei sich im Zimmer ein.
Ich hatte genug, ich musste da einfach nur noch raus. Bastian war mit einem Freund 3 Wochen in Griechenland und auch ich hatte Urlaub. Schnell buchte ich mir im Internet den nächsten Flug in die Türkei. Dort hatte ich Freunde und Geld dafür war auch da. Mein Lohnsteuerjahresausgleich kam gerade richtig. Ich bekam für den nächsten Tag einen Flug gebucht und freute mich auf 17 Tage Ruhe.
Als Jürgen am nächsten Morgen aus dem Haus ging, packte ich meine Sachen. Der Flieger sollte nachts um 3 Uhr gehen. "Wie bekomme ich die Zeit bloß rum?" Der Tag zog sich endlos lang hin. Endlich war es 20 Uhr, ich wollte nur noch raus. Jürgen war gerade nach Hause gekommen. Eigentlich dachte ich, ich könnte ihm noch aus dem Weg gehen. Meine Reisetasche hatte ich schon in mein Auto gepackt. Oben stand nur noch mein kleiner Rucksack mit dem Geld und meinem Personalausweis. In dem Moment wo ich aus dem
Bad kam, sah ich, dass sich Jürgen an meiner Tasche zu schaffen machte und mein Geld in der Hand hielt. "Du alte Schlampe, das ist meine Kohle! Du fliegst nicht zu deinem Kanacken Beschäler runter!" schrie er mich an, als ich ihn bat, mir mein Geld wieder zugeben. Er stieß mich zur Seite, irgendwie gelang es mir, ihm einen Teil des Geldes zu entreißen. Plötzlich bekam ich von hinten einen Stoß, Jürgen stand mit der abgerissenen Tischplatte vor mir, drängte mich auf den Balkon und wollte mich hinunter
stürzen. Ich verspürte einen heftigen Schmerz an der Schulter, stieß ihn mit aller Macht zurück und floh an ihm vorbei. Unterwegs schnappte ich mir meinen Rucksack. Zitternd schloss ich mein Auto auf und raste auf die Autobahn. Am Flughafen angekommen konnte ich nur noch heulen. Ich zählte das mir verbleibende Geld. Er hatte mir 400 DM gelassen. Wie gut das der Flug bezahlt war. Aber wie sollte ich da unten 17 Tage mit so wenig Geld über die Runden kommen? Ein Hotel hatte ich nicht. Aber Heiko und Alexandra würden
mich schon aufnehmen.
Ich setzte mich in das kleine Flughafencafé und wartete darauf, dass mein Flug aufgerufen wurde. Zeit zum einchecken war noch lange nicht und ich hatte immer noch Angst, Jürgen könnte sich in ein Taxi setzten und mir nachfahren.
Endlich "Die Passagiere des Fluges HJ 3582 bitte zu Gate 15!" schall es von oben durch die Halle. Ich verspürte ein Glücksgefühl, als ich durch die Passkontrolle ging und endlich im sicheren Bereich. Nun konnte ich ruhig warten.
Endlich
Ich genoss den Urlaub in vollen Zügen! Er gab mir neue Kraft für das, was mich zu Hause wieder erwarten würde. Denn mir war bewusst, dass es nicht besser werden würde, wenn ich wieder zu Hause bin. Die 17 Tage gingen viel zu schnell vorüber. Auf dem Weg zum Flughafen war ich den Tränen nahe. Ich wusste nicht wie es zu Hause weitergehen sollte, wie ich das ganze meistern sollte. Ich hatte einfach psychisch keine Kraft mehr auf noch mehr Terror. Zudem die Angst, Jürgen könnte wieder handgreiflich werden.
Zu Hause angekommen schlief Jürgen zum Glück schon. Ich schloss mich in meinem Zimmer ein. Ich würde ihn frühestens morgen Abend sehen. Wenn ich Glück hatte, dann kam er auch wieder erst sehr spät und volltrunken nach Hause und schlief gleich ein. Am nächsten Morgen kam auch Bastian aus Griechenland wieder. Auch ihm hatten die 3 Wochen Urlaub gut getan. "Mensch, was 3 Wochen ausmachen" dachte ich bei mir "er sieht so erwachsen aus." Braungebrannt und bester Laune stand er vor mir. "Mum,
wenn es irgendwie geht, dann würde ich da nächstes Jahr gerne wieder hin!" Mir zog sich der Magen zusammen. Diesmal hatte ich es geschafft, uns beiden einen Urlaub zusammen zu sparen. Aber wie sieht es für nächstes Jahr aus. Sicher, ich verdiente und Jürgen zahlte wenigstens die Miete - wenn ich der letzten Zeit auch nicht mehr regelmäßig, so dass ich immer öfter einspringen musste. Ich hatte vor mir mit Bastian eine eigene Wohnung zu suchen, aber dafür würde mein Verdienst nicht reichen. Also war ich wieder
einmal auf der Suche nach etwas Neuem.
Ich fand eine Anstellung am Empfang der Bank eines großen Autokonzerns. Zwar war der Verdienst nicht so hoch wie ich ihn zuletzt hatte, aber wenn ich genug Stunden im Monat arbeiten würde, dann könnten wir es schaffen. Nach 4 Wochen war es mir am Empfang zu langweilig und ich wechselte innerhalb der Firma in den Werksschutz. Das war es, was ich mochte. Nicht mehr alleine am Empfang sitzen und die Leute weiterleiten, sondern Wachdienst.
Und ich konnte mehr Stunden arbeiten. Meist hatte ich an die 200 Stunden im Monat, aber endlich konnten wir uns eine eigene Wohnung leisten und raus aus dem Terror kommen. Sicher, Bastian sah ich in der Zeit selten. Manchmal kam er in der Spätschicht bei mir vorbei. Wenn er Probleme mit der Interpretation Brechts hatte, dann mailte er mir das Stück rüber und ich half ihm so bei den Hausaufgaben.
Abends schlossen wir uns immer öfter bei ihm oder bei mir im Zimmer ein und freuten uns auf unsere neue Wohnung, die wir im kommenden Januar beziehen konnten. Wir schmiedeten Pläne, wie schön ruhig es sein würde, dass uns kein Mann mehr ins Haus käme, der uns stören würde. Bastian war mir in dieser Zeit eine sehr große Stütze. Manchmal war ich so verzweifelt, dass ich nach dem Sinn des Lebens suchte. Er gab ihn mir. Ohne ihn hätte ich manches Mal das Handtuch geschmissen. Aber Bastian hatte in den letzten Jahren
eine Lebenseinstellung entwickelt, an der konnte ich mir in vielem ein Beispiel nehmen. Seine Versuche mich zu trösten werde ich nie vergessen. Es war irgendwo eine hilflose, naive Art, aber doch sehr durchdacht.
Neuanfang
Silvester 2000/2001 war ich zum feiern bei anderen Arbeitskollegen eingeladen.
Wirklich Lust dorthin zu gehen hatte ich nicht gerade, aber ich wusste, es kommt auch dieser nette Jan. Jan war ein Kollege von mir, der mir in der letzten Zeit auch sehr zur Seite stand. Mir zuhörte, mich heulen ließ, mich bekochte und der nachts stundenlang Rammstein mit mir auf dem Fußboden hörte. Ich mochte ihn wirklich gerne. Und ich wusste, er wollte gerne mehr von mir, als nur eine kollegiale Freundschaft. Mir stand der Sinn allerdings nicht nach noch mehr Schwierigkeiten, ich wollte nicht aus der einen
schlimmen Beziehung raus sein und in die nächste reinschlittern. Konnte er mir garantieren das es nicht genauso werden würde?
Ich machte es ihm wirklich nicht einfach. Aber ich erkannte andererseits schnell, dass er genau der Mann ist, den ich immer gesucht habe! So ließ ich mich auf ihn ein. Ich gebe zu, am Anfang dachte ich eher an eine lockere Affäre, die irgendwann im Sande verlaufen würde. Dann half er uns beim Umzug. Irgendwie wollte ich danach nicht mehr ohne ihn sein. Er blieb von da an immer öfter bei uns. Und auch Bastian war begeistert von ihm. Sie verstanden sich blendend.
Nachdem Jan und ich gemeinsam den Urlaub verbracht hatten, war ich mir sicher, dass ich nicht mehr ohne ihn leben wollte. Im Oktober zog er richtig bei Basti und mir ein. Endlich hatte ich meine kleine Familie. So wie ich sie mir immer gewünscht habe. Aber noch immer hatte ich dieses Gefühl im Hinterkopf "Es ist wieder nur für eine bestimmte Zeit!"
Endlich lief alles wie es immer erträumt war. Wir drei verstanden uns super. Eine harmonische Familie und jeder blühte auf. Vergessen waren die letzten Jahre. Es ging neu von vorne los. Endlich!!!
Ostern 2003 kam dann wieder ein Einschnitt. Ich hatte damit gerechnet, aber nicht, dass er so schnell kommen würde. "Du, Mum. Nils hat doch nun seine eigene Wohnung. Und die ist ihm alleine zu groß. Es wäre da noch ein Zimmer frei für mich. Hättest du was dagegen wenn ich ausziehe?" So eröffnete mir Bastian Karfreitag seinen Wunsch auszuziehen. Ich musste schlucken. "Basti, du bist noch mitten in der Ausbildung. Von was willst du denn leben?" Hörte ich mich da die gleichen Worte sagen, wie
sie meine Eltern vor knapp 20 Jahren zu mir gesagt haben?
"Papa kann doch mir den Unterhalt überweisen, dann das Kindergeld und ich verdiene ja auch. Die Miete ist nicht teuer. Ich schaffe das - versprochen! Ich will dir beweisen wie selbstständig ich bin!"
Wir debattierten. Irgendwo war ich verletzt. Nach den ganzen Jahren, wo wir ein eingeschworenes Team waren, wollte er so einfach gehen.
Ich hätte mir gewünscht, dass er anders anfangen konnte. Nicht mit so vielen Schwierigkeiten wie sein Vater und ich damals. Er sollte seine Ausbildung machen, sich etwas zusammen sparen können, Reisen machen können. All das, was uns in der ersten Zeit versagt war. Aber ich konnte ihm nicht verbieten zu gehen. Ich konnte ihn nicht anbinden. Er war 18 Jahre - erwachsen! Und er wollte ja nur 2 km weit weg ziehen, gleich in das Nachbarhaus seines Vaters. Ergeben stimmte ich zu. " Sollte es dort drüben mit euch
nicht klappen, du kannst jederzeit nach Hause zurück kommen, Bastian!" schärfte ich ihm ein. "Mum, ich pack das schon, du wirst sehen!" Die Ostertage verbrachte ich nahezu im Trace, irgendwie im Schockzustand.
Wenn ich alleine war, dann war ich nur am heulen. Vielleicht wollte ich auch einfach nicht wahr haben, dass Basti nun erwachsen war. Vielleicht sah ich noch immer den kleinen weißblonden Jungen vor mir, für den ich eigentlich immer viel zu wenig Zeit hatte und der mir so unendlich viel gegeben hat. Wieder einmal kam mir der gleiche Gedanke wie damals, als ich von der Schwangerschaft erfuhr "Er ist die Liebe meines Lebens!"
Aber Kinder gehören einem nicht, man muss sie ziehen lassen, auch wenn es einem das Herz bricht.
Ich stand in dem leeren Zimmer, welches ich auch heute noch Bastis Zimmer nenne. Seine Möbel waren weg, es roch abgestanden. So beschloss ich das beste draus zu machen. Ich bestellte mir einen PC, einen neuen Schreibtisch, schob das Sofa in eine andere Ecke und versuchte mir ein kleines Reich zu schaffen. "Irgendwie auch nicht schlecht. Endlich hast du mal eine Ecke, wo du deine Ruhe haben kannst!" dachte ich still bei mir. Traurig bin ich trotzdem immer noch.
Jan und ich haben im Mai darauf geheiratet. Es war wunderschön. Still und leise, ganz alleine während eines Urlaubes.
Heute sehe ich mein Leben - bis auf kleine Ausnahmen - als perfekt an.
Ich habe einen Mann, den ich über alles liebe und einen wunderbaren Sohn. Und eine wundervolle Familie.
Basti meldet sich zwar nicht täglich, aber wenn ich mich mal nicht melde, dann ruft er an und fragt ob alles ok ist.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.