Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Stürmische See
Von Evelyn Schober-Safian
Ich stehe am Fenster und schaue über die Dächer der Stadt hinaus. Ende eines
Sommertages. Die Sonne senkt sich über die Dächer, hüllt die Umgebung in ein
goldenes Licht ein. Es erinnert mich an den Sommer an der Algarve. An jenen
Sommer, in dem ich die Liebe fand und der mir beinahe mein Leben gekostet
hätte. Damals war ich zwölf Jahre alt. Zart und zerbrechlich wie eine
Porzellanpuppe.
Zu jener Zeit fuhren wir jeden Sommer mit Freunden an die
Algarve wo wir in zwei nebeneinander liegendenden Bungalows wohnten. Unsere
Freunde hatten einen um fünf Jahre älteren Sohn, Tom.
Von meinem Zimmer aus konnte ich die steilen Klippen sehen, die ins tosende
Meer ragten. Die Wellen erinnerten mich an Drachenzungen, die die Felswände
leckte. Wegen des Meerlärms konnte ich in den heißen Nächten kein Auge
zudrücken.
Jeden Morgen verabredete sich Tom mit Freunden am Strand, um zu Segeln,
Surfen, von Felsen zu springen. Mich fragte er nie. Kein Wunder. Meine
Eltern erlaubten mir wegen meiner psychologisch bedingten Atemnot keine
sportliche Aktivität. Stattdessen machte ich mich über die Bücherschätze
meines Vaters her: Mein Vater, ein passionierter Leser, schleppte jeden
Sommer einen Koffer voller Klassiker der Weltliteratur mit. Für uns Kinder
waren diese Bücher tabu, weswegen, leuchtete mir nicht ein. Umso
interessanter waren sie für mich. Ich holte alle seine Bücher in mein
Zimmer, und baute sie auf dem Schreibtisch auf, den Titel für jedermann gut
leserlich. Da waren Namen darunter wie Goethe, Schiller, Thomas und Heinrich
Mann, Döblin, Tucholsky. Immer wenn jemand eintrat, schnappte ich mir
schnell ein Buch, und tat so, als lese ich eifrig.
Einmal steckte Tom seinen Kopf hinein, warf mir einen Blick zu, was ich sah,
als ich hinter dem Buch hervorlugte, und flüsterte seinem Begleiter zu:
"Komm, sie hat wichtigeres vor."
Kaum hatte er mir den Rücken zugekehrt, schlich ich ihm nach. Unsere
Bungalows lagen auf einem kleinen Hügel, von dem aus genau hundert
Steinstufen zum Meer herunterführten. Steinhäuschen mit winzigen Gärten
säumten beide Seiten der Treppe. Die Treppenumgebung war mein Paradies der
Düfte und Klänge. Nirgendwo an dem Ferienort summte und brummte, zirpte,
gluckste und duftete es so betörend und mannigfaltig wie auf dem Weg zum
Meer. Ich braucht immer doppelt so lang wie die anderen, weil ich immer
wieder mit geschlossenen Augen stehen blieb, bevor ich weiterging. Tom
schien für diese Schönheit kein Interesse zu haben.
Doch diesmal ignorierte auch ich die Düfte und Klänge. Barfuß rannte ich
die Treppe hinunter, immer in gehörigem Abstand zu Tom. Am Strand drängten
sich die Körper der Sonnenanbeter. Während ich mich um die Menschen
herumschlängelte, verlor ich Tom aus den Augen. Schließlich entdeckte ich
ihn auf dem Meer stehend wieder. Zuerst hielt ich ihn für eine Wiedergeburt
Jesu, doch schließlich sah ich, dass er auf einem Surfbrett balancierte. Der
Bitte aus dem Lautsprecher, das Wasser - sofort, aber sofort - zu verlassen,
kam er nicht nach. Er trotzte der Naturgewalt. Die Lautsprecherstimme
schallte einige Male drohend über den Strand - vergebens.
Mit voller Wucht warf er sich in die Wellen, wurde zurückgeschleudert.
Plötzlich verschluckte ihn wie ein Meeresungeheuer die schäumende See.
Gaffer hatten sich am Ufer aufgereiht, und suchten mit ihren Blicken die See
ab. Dort irgendwo musste er sein. Ich näherte mich dem Ort des Geschehens.
Als Tom wieder auftauchte, ging ein Raunen und Seufzen durch die Menge.
Schließlich steig Tom aus dem Meer. Mit hocherhobenem Kopf. Das Wasser
perlte an ihm herab. Wie ein Feldherr, der eben eine entscheidende Schlacht
geschlagen hatte, schritt er durch die gaffende Menge, und ignorierte jeden
einzelnen. Ich hatte mich auf einen Felsvorsprung am Rande des Strands
gesetzt.
"Hey, Ala, was machst du hier? Ich denke, du gehst nicht an den Strand?",
rief er mir von weitem zu.
Ich lächelte. "Ich hatte die Nase voll von meinen Büchern."
Er setzte sich neben mich. "Ich war richtig gut, heute. Endlich habe ich den
Sprung geschafft. Ich habe ihn die ganze Woche lang geübt. Hast du es
gesehen, Ala? Hast du es gesehen?"
"Wie sollte ich es übersehen haben?"
"Ich wusste es! Ich bin der Beste!" Tom sprang auf und rief im Laufen: "Morgen fahre ich mit dem Schlauchboot, Ala. Kommst du mit?"
Ich schlief sehr schlecht. Ich wälzte mich im Schlafschweiß, im Traumschweiß
und Traumfetzen. Ich rang mit mir. Meine Eltern würden es nie erlauben. Doch
ich wusste, dass ich mitkommen musste.
Am nächsten Morgen hingen schwere, dunkle Wolken über dem Meer und ein
kühler Wind hatte die wenigen Badegäste vom Strand geweht. Beim gemeinsamen
Frühstück mit unseren Freunden verkündetet Tom: "Wir fahren heute mit dem
Boot. Ala und ich."
"Bei dem Wetter?", fragte seine Mutter nur. Sie wusste, dass sie ihn nicht
aufhalten konnte. Wie erwartet verboten mir meine Eltern, mitzukommen. Sie
schickten mich auf mein Zimmer.
Tom spähte zu mir hinein, bevor er ging. "Hey, Ala. Komm mit. Das wird ein
Riesenspaß. Deine Eltern sind hinter dem Haus. Sie werden nicht sehen, dass
du weg bist." Er grinste. So wie er grinste wusste ich, dass er etwas
ausgeheckt hatte.
Die See schäumte und bäumte sich auf gegen die Kraft des Mondes, die sie
nach oben schob. Tom trug das Schlauchboot auf seinem Kopf. "Komm Ala, du
brauchst keine Angst zu haben."
Das Boot schaukelte noch bevor er es ins Wasser schob. Sogar der Boden
schwankte unter mir. Nur mit Mühe konnte ich mich zwingen, nicht zurück zu
laufen. Doch Tom drängte. Die See tobte. Tom rief: "Komm Ala, es ist nicht
so gefährlich."
Ich hielt mich mit beiden Händen an den Bootsrändern fest und starrte ins
Wasser, mir schwindelte. Tom ruderte es weit hinaus. Gischt spritzte in mein
Gesicht, ich kniff die Augen zusammen. "Ala!" Der gellende Schrei Toms ließ
mich erschaudern. Ich riss die Augen auf. "Schnell, Ala!" Ich sprang auf und
versuchte auf dem Boot zu balancieren. Die Wellen donnerten gegen den
Bootsboden, es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre untergegangen. "Ala!"
"Was ist?" "Ala, ein Hai!" Tom zeigte auf eine Schwanzflosse. Wasser
schäumte auf. Unsere Kleider waren schon völlig durchnässt.
Ich wollte schreien. Doch ich sah Toms Gesicht: Angstverzerrt, als habe er
eben die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers live gesehen. Ich tat
so, als sei ich völlig gelassen, wusste ich doch, dass ich ihm in dieser
Situation eine liebevolle Freundin sein musste. "Beruhig dich, Tom", sagte
ich. "Wir schaffen es. In meinem Innersten wütete ein Sturm. In Toms Gesicht
spiegelte sich ein Glanz von Verwunderung, doch er schrie gegen das Brüllen
des Wassers an: "Ala, wir müssen weg hier."
Er warf mir einen Paddel zu. Ich hatte meine Panik nicht mehr unter
Kontrolle. Schon spürte ich das Kitzeln der Zähne des Hais an meinen
Fußsohlen, sah, wie sich das Wasser mit Blut rot färbte, sah unsere
zerfetzten Leiber untergehen. Ich ließ das Ruder fallen. "Dumme Gans, du
sollst paddeln!"
Es hatte zu regnen begonnen. Ich streckte die Hand nach dem Paddel aus, zog
sie sofort wieder zurück. Was, wenn der Hai nach ihm schnappte, und nach mir
dazu und ich in die blaue Tiefe hinuntergesogen werden würde? Die Flosse
näherte sich unverkennbar.
"Ich hole es!"
Ich stellte mich auf mein Ende ein.
"Sei vorsichtig Ala", sagte Tom. Aus seinem Blick sprach echte Sorge. Wegen meiner Atemnot hoffte ich auf eine schnelle Bewusstlosigkeit. Sobald das Wasser sprudelnd um mich strömte, war es soweit. Alles wurde schwarz.
Als ich aufwachte, spürte ich etwas Weiches - Toms Schoß - unter meinem
Hinterkopf, und harten Felsen unter meinem Rücken und den Beinen. "Ala, um
Gottes willen, Ala." Tom tätschelte mein Gesicht kräftig. "Gott sei Dank du
atmest wieder. Es tut mir leid, Ala. Es war alles nur Spaß. Die Haiflosse
war nur Attrappe. Ich wollte deine Reaktion testen." Seine Stimme klang
zerknirscht. "Mach die Augen wieder auf, Ala! Bitte."
Jetzt erst recht nicht. Tom strich eine Strähne aus meinem nassen Gesicht und küsste mich auf die Stirn. "Bitte, Ala, öffne deine Augen. Dann bring ich dich zu deinen Eltern zurück."
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.