Lust am Lesen
Lust am Schreiben
24 Stunden
Kurzgeschichte von Nicoletta Engesser
Sie steht am Schalter 17 um für ihren Flug nach London einzuchecken, als sie
bohrende Blicke in ihrem Rücken spürt. Ihr läuft ein Schauer über den
Rücken, aber sie hält den Blick starr nach vorne gerichtet.
Schon heute morgen war sie sicher, dass sich alles verändern würde.
Aber noch ist sie nicht so weit, sich umzudrehen. Sie genießt die Spannung
und das Prickeln in ihrem Körper, kostet es aus.
Ihr Herz schlägt bis zum Hals und erst als sich ihr Puls endlich wieder ein
bisschen beruhigt, dreht sie sich langsam um.
In Richtung der Augen, die immer noch auf sie gerichtet sind. In ihnen
flackert das Erkennen auf und mit der gleichen Intensität erwidert sie
seinen Blick.
Es schwingt etwas völlig Unbekanntes, Aufregendes und dennoch ganz
Vertrautes zwischen ihnen.
Sie spürt, wie lange ihr dieses Gefühl gefehlt hat: Beachtet, erkannt und
unübersehbar begehrt zu werden. Es ist wie ein Rausch!
Wie durch eine Wand nimmt sie eine weibliche Stimme hinter sich wahr: "Hey,
träumen Sie? Sie sind dran und halten die ganze Schlange auf!"
Sie zuckt zusammen und stammelt ein "Entschuldigung", wendet den Blick von
ihm endlich ab und geht auf den Schalter zu.
Aus dem Augenwinkel versucht sie die Anzeigentafel zu lesen, vor der er in
der Schlange steht. Paris! Einen Moment denkt sie darüber nach, einfach die
Warteschlange zu wechseln, ihr Vorhaben eine Nacht und einen Tag in London
zu verbringen aufzugeben. So lange hatte sie sich auf diese "Auszeit"
gefreut, für einige Stunden ihren Alltag hinter sich zu lassen. Alle Rollen
abzulegen, die als Mutter, als Ehefrau und einfach nur als "sie selbst"
unterwegs sein.
Sie bemerkt, dass er nicht aufhört sie zu fixieren, aber dann besinnt sie
sich und gibt der Frau hinter dem Schalter entschlossen ihr Ticket, ihren
Pass und gibt ihren Koffer auf.
Sie wendet sich zum Gehen und streift im Vorübergehen leicht seinen Arm. Wie
ein Stromschlag fährt es ihr durch den Körper und sie stellt im gleichen
Moment fest, dass es ihm genauso ergeht.
Mit einem fast trotzigen Ausdruck im Gesicht lässt sie ihn stehen und geht
in das nächstgelegene Café in der Abflughalle. Sie bestellt einen
Cappuccino, zündet sich eine Zigarette an und lässt in Gedanken die letzten
Wochen Revue passieren.
Die Leere in ihr, die Einsamkeitsgefühle, die Suche nach innerer Ruhe und
neuen Zielen. Ihr verzweifelter Wunsch, geliebt und wahrgenommen zu werden
und das ablehnende Verhalten ihres Mannes.
Das Geräusch eines Stuhles, der herangerückt wird, reißt sie aus ihren
Gedanken.
"Ich habe umgebucht!" Seine Augen ruhen auf ihr und eine unendliche Ruhe
durchströmt sie.
Sie lacht ihn an und es herrscht ein Einverständnis zwischen ihnen, das sich
anfühlt, wie "angekommen sein".
"Lassen Sie uns gehen - wir verpassen die Maschine!" Sie lässt sich von
seiner zwar bestimmten, aber warmen Stimme einlullen und folgt ihm.
Im Flugzeug stellt sie fest, dass es ihm sogar gelungen ist, den Platz neben
ihr zu bekommen. Sie sitzen still nebeneinander. Worte sind überflüssig. Ab
und zu sehen sie einander an um sich zu vergewissern, dass es keine Illusion
ist.
Die Gewissheit dessen, was sie vor sich hat und das leichte Vibrieren des
Flugzeugs, lassen sie in einen traumlosen Schlaf gleiten. Sie erwacht erst,
als die Maschine zur Landung in London ansetzt.
Vor dem Flughafengebäude steigen sie in ein Taxi und sie nennt dem Fahrer
den Namen ihres Hotels.
London! Wie sehr hatte sie diese Stadt vermisst, die Menschen, die
Lebendigkeit.
Sie wird von einer Leichtigkeit durchströmt, die sie schon so lange nicht mehr
verspürt hat. Auch er scheint die Stadt in sich aufzusaugen, sieht aus wie
ein kleiner Junge, der die Welt mit neuen Augen entdeckt.
Zum ersten Mal nimmt er ihre Hand und sie ist irritiert durch seine
Berührung. So intensiv Haut zu spüren!
Das Taxi hält vor dem Hotel, das sie mit viel Sorgfalt ausgewählt hat, denn
diese Reise sollte eine ganz besondere sein. Wie selbstverständlich folgt er
ihr.
An der Rezeption nennt sie ihren Namen und ist froh, dass sie ein
Doppelzimmer gebucht hat.
"Mrs. and Mr.?" "Winter", beeilt er sich zu sagen und unterschreibt. Erst da
fällt ihr auf, dass er keinen Ehering trägt, was sie verblüfft.
Sie hatte ein Zimmer mit Blick auf den Hyde-Park gewählt. Auf dem Weg zum
Aufzug überkommen sie plötzlich Zweifel. Sie sieht ihn an und er wirft ihr
einen fragenden Blick zurück. Eine Fremdheit, die sich plötzlich zwischen
sie stellt, lässt sie vor der Zimmertür stehen bleiben.
Noch immer haben sie kein Wort gewechselt.
Vorsichtig nimmt er ihre Hand, zieht sie ins Zimmer und schließt die Tür.
Es ist als wären damit auch all ihre Zweifel, Schranken und Bedenken
aufgehoben.
Sie begehrt ihn mit jeder Faser ihres Körpers. Nichts hat mehr Bedeutung,
außer ihnen beiden. Sie umschlingen sich, entfernen sich wieder um mit
großem Staunen erneut aufeinander zuzugehen.
Hastig ziehen sie sich aus und lassen sich auf das Bett fallen. Ihre Münder
suchen sich und sie berühren einander wie Ertrinkende, die endlich Rettung
gefunden haben. Sie stillen ihre unendliche Sehnsucht aneinander und
verschmelzen.
Es gibt keine Grenzen, keine Scham, sonder nur das Gefühl absoluter
Glückseligkeit.
Zwischendurch schlafen sie für kurze Momente ein, ineinander verkeilt, um
sich dann mit noch größerer Lust zu lieben.
Im Morgengrauen fallen sie beide in einen komaähnlichen Schlaf, aus dem sie
erst sehr spät erwachen. Dankbar und zärtlich sehen sie einander an. Sie
spüren beide, dass das , was sie bisher miteinander geteilt haben, nur ein
Bruchstück dessen ist, was sein könnte.
Nach dem Frühstück, das sie beide mit Heißhunger verschlingen, schlendern
sie Hand in Hand durch den Hyde-Park, jeder in seine Eindrücke und Gedanken
versunken, ohne dass ihr Einvernehmen etwas einbüsst. Hin und wieder bleiben
sie stehen, küssen sich und halten Zwiesprache ohne Worte. Sie legen sich
auf eine Wiese inmitten spielender Kinder, Menschen, die in allen Sprachen
der Welt miteinander reden und streiten und genießen das Gefühl ihres
"Nicht reden Müssens". Sie schauen den Wolken hinterher, lassen sich von den
Sonnenstrahlen streicheln, spüren die Nähe des anderen und sind erfüllt
davon.
Nach einer Weile steuern sie ohne Absprache die Tate Gallery an, stehen
staunend vor den gleichen Bildern und erfreuen sich an der Freude des
anderen, tauschen immer wieder Blicke aus, die voller Liebe und Vertrauen
sind.
Bis er die Stille durchbricht: "Wann geht dein Flug?"
"In zwei Stunden. Ich muss mich auf den Weg machen. Und deiner?"
"Ich habe noch etwas Zeit."
Diesen Moment erlebt sie wie "den Rausschmiss aus dem Paradies", und die
Realität hält wieder Einzug. Aber es beruhigt sie der Gedanke, dass sie
dieses kostbare Geschenk der letzten Stunde mitnähme und nie wieder hergeben
würde, egal wie es weiterginge.
Diese Erkenntnis gibt ihr ihre Stärke und ihr Selbstvertrauen zurück. Ihr
wird schlagartig bewusst, dass ein Rückweg in ihr "altes Leben" unmöglich
ist. Und das ist gut so!
Sie würde das, was sie erlebt und erfahren hatte, in ihr "neues Leben"
hineinnehmen.
Gemeinsam verlassen sie die Tate Gallery und er winkt ihr ein Taxi heran. Sie
haben in den letzten 24 Stunden keine vier Sätze gewechselt und dennoch ist
alles klar und eindeutig zwischen ihnen. Noch einmal versinken ihre Blicke
ineinander. Sie halten einander so nah wie möglich und jeder spürt noch
einmal mit Achterbahngefühlen den Körper des anderen, bis sie sich endgültig
trennen.
Als sie im Taxi sitzt, dreht sie sich nicht noch einmal um. Ab jetzt will
sie nach vorne schauen. Die Energie, die sie lange darauf verwand hatte,
Vergangenem nachzutrauern, um jedes bisschen Lebendigkeit und Liebe zu
kämpfen, will sie in Zukunft auf ihre Stärken lenken. Liebe geben, auf ihre
Gefühle achten und die guten Ereignisse in ihrem Leben in den Vordergrund
stellen.
Auf dem Rückflug schläft sie und ehe sie sich versieht, ist ihre Reise
beendet.
Sie schließt die Haustür auf und nimmt etwas ganz Neues in sich wahr: Die
Umgebung, die sie selbst gestaltet hatte und die ihr in letzter Zeit immer
fremder wurde, kommt ihr plötzlich wieder vor wie ihr "zu Hause".
Sie setzt sich mit einer Tasse Tee auf die Terrasse. Ihre Tochter ist in
dieser Nacht noch bei einer Freundin untergebracht und sie wartet mit sehr gemischten Gefühlen auf ihren Mann. Mit Spannung erwartet sie sein Verhalten ihr
gegenüber, ihre eigene Reaktion. Langsam macht sie das Warten mürbe und
unruhig läuft sie von einem Raum zum anderen.
Endlich hört sie den Schlüssel im Türschloss. Sie versucht ihm gefasst
entgegen zu treten.
Sie hört seine vertraut monotone Stimme, wenn er mit ihr spricht: "Hallo
Schatz, der Flieger hatte Verspätung". Aber dann, als sich ihre Blicke
begegnen, flackert das Wiedererkennen in ihnen auf.
"Ich wusste, dass du darauf bestehst, nach London zu fliegen. Mich hätte
Paris so sehr gereizt!" Seine Stimme klingt liebevoll.
"Mir war danach und ich wollte wissen, ob du mich mit meinen Bedürfnissen
ernst nimmst. Aber dass du deinen Ehering abnimmst, hat mich doch
irritiert."
Ihre Augen verschlingen sich ineinander und sie sind voller Zutrauen in ihre
"neue" gemeinsame Zukunft. Lachend und dankbar für dieses Geschenk fallen
sie sich in die Arme.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.