Kurzgeschichten

Geschichten - Erzählungen - Storys - short story
Buchtipp

Plötzlich sah die Welt
ganz anders aus
Schlüsselerlebnisse
Hrsg. Ronald Henss
ISBN 978-3-9809336-6-7

Die nebenstehende Geschichte
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Mehr als nur Kartoffeln

© Dorothea Stiller

Easington war ein typisches Bergarbeiter-Städtchen im County Durham, mit den charakteristischen anderthalbgeschossigen, lang gestreckten Reihenhäusern aus rotem Backstein, schmuddeligen Hinterhöfen und schmucklosen Fassaden, über denen die Fördertürme der Zeche Easington zu sehen waren. Es war ein verregneter Winter und eine niedrige, graue Wolkendecke hing über den Dächern der Stadt. Hatte diese frühindustrielle Tristesse für gewöhnlich durchaus ihren Charme, so war sie in diesem Winter erdrückend. Es war nun schon fast ein Jahr her, seit im vergangenen März die Minenarbeiter aus Protest gegen die geplante Stilllegung von rund 20 Zechen beschlossen hatten, die Arbeit niederzulegen, auch wenn die Zeche in Easington selber nicht auf der schwarzen Liste des National Coal Board stand. "Noch nicht", wie mein Vater damals zu sagen pflegte.

Zehn zermürbende, trostlose Monate, in denen wir am Rande des Existenzminimums lebten. Zehn Monate, in denen mein Vater unermüdlich damit beschäftigt war, Streikposten zu organisieren. Morgens bekam er Bescheid, wo und wann etwas geplant war. Mal postierten sie sich an der örtlichen Zeche, mal fuhren sie zu Gruben in der Umgebung. Selten gelang die Überraschung, da die Polizei die Streikführer überwachte und ihnen folgte. Doch mein Vater gab nicht auf. Zehn zerknirschende Monate, in denen wir nicht wussten, wo wir am nächsten Tag das Brot hernehmen sollten oder die Milch; es gab Zeiten, da aßen wir nur Kartoffeln. Mrs Hayes von nebenan hatte einen kleinen Schrebergarten. Blumen und Gras waren Kartoffeläckern und Gemüsebeeten gewichen und Mrs Hayes hatte meiner Mutter Kartoffeln zum Einkellern gegeben.

"Für Ihre Jungs", hatte sie gesagt. "Sind harte Zeiten."

Es waren Monate, in denen wir uns mit eiskaltem Wasser wuschen und ständig auf der Suche nach Heizmaterial waren, da uns schon lange die Kohlen ausgegangen waren. Weihnachten war besonders deprimierend gewesen. Meine Eltern konnten sich lange schon kein Fleisch mehr leisten und an Geschenke war gar nicht zu denken. Wir bekamen dennoch etwas. Eine Wohltätigkeitsorganisation aus Schweden verschickte Päckchen an die Kinder der Streikenden. Mein Bruder und ich bekamen etwas anzuziehen, ein wenig Spielzeug und eine Tafel Schokolade. Doch in alldem blieb mein Vater stark und ich bewunderte ihn dafür.

Mein Bruder und ich waren noch zu jung, um die wirklichen Zusammenhänge zu verstehen. Ich war damals neun Jahre alt und mein Bruder Stuart war sieben. Wir schnappten das auf, was die Erwachsenen so redeten. Wir wussten, dass mehr als 20 000 Menschen keine Arbeit mehr hätten, wenn die Zechen geschlossen würden. Hier in der Region gab es kaum jemanden, den es nicht betraf und dessen Leben nicht in irgendeiner Weise vom Bergbau beeinflusst wurde. Auch die Geschäftsleute fürchteten um ihre Einnahmen, der Streik hatte auch sie arg in Mitleidenschaft gezogen. Wer konnte es sich denn noch leisten, groß einzukaufen?

Geredet und gestritten wurde in diesen Tagen viel. Einige wollten aufgeben und die Arbeit wieder aufnehmen. Mein Vater versuchte, sie mit Durchhalteparolen davon abzubringen und erhielt auf den Versammlungen dafür stürmischen Applaus. Doch der Applaus war mit der Zeit verhaltener geworden. Immer mehr Menschen verzweifelten an ihrer bitteren Lage. Doch je lauter die Zweifel wurden, desto aggressiver wurden auch diejenigen, die mit Feuereifer versuchten, die Streikbrecher davon abzuhalten, die Streikpostenketten zu durchbrechen und zur Arbeit zu fahren. Immer häufiger eskalierten die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Busse mit den Arbeitern auf ihrem Weg zum Zechengelände abschirmte. Es wurden Steine und Eier geworfen. Streikbrecher waren geächtet. Sie waren Verräter an der Sache. Es ging allen schlecht, aber alle hielten durch. Wenn sie aufgaben, war alles umsonst gewesen. Dann hatten sie uns in der Hand, so sagte jedenfalls Rob Brunt, einer von Papas Freunden aus der Gewerkschaft. Man konnte es nicht zulassen, dass die Leute jetzt einknickten, nicht nach allem, was wir in den vergangenen zehn Monaten durchgemacht hatten. Mein Vater sah grau aus und geknickt. Aber für mich war er ein Held.

Vater bekam natürlich etwas Streikgeld, aber davon wollten das Haus abbezahlt, zwei Erwachsene und zwei Kinder gekleidet, verköstigt und das Haus geheizt werden. Zum Glück war aber dann sein Streikgeld erhöht worden. Es gab wieder Brot und Milch. Meine Mutter weinte vor Glück, doch Vater sagte kaum noch etwas. Er war still geworden und wirkte um Jahre gealtert.

Eines Tages dann geschah etwas Seltsames. Ich stieg wie üblich in den Schulbus, doch als ich mich auf den freien Platz neben meinem Freund Mike setzen wollte, der schon einige Haltestellen vor mir einstieg, schob er demonstrativ seine Schultasche auf den Sitz.

"Besetzt!", sagte er frostig und schaute mich mit einem Blick an, der so voller Verachtung war, dass ich ihn mein Leben lang nicht vergessen werde.

Ich schaute ihn verdutzt und fragend an. "Was ist denn mit dir los, Mikey?"

"'Was ist denn mit dir los, Mikey?' Hast du das gehört? Tut so, als wüsste er von nichts, der Penner!", rief Ernie Miller von hinten. "Oder war er sogar zu feige, es seiner Familie zu sagen? Würde mich auch schämen!"

Wütend fuhr ich herum. "Was redest du da?"

"Ein mieses Verräterschwein ist dein Vater, weiter nichts. Ein verdammter, feiger Schweinehund von einem Streikbrecher!", bellte Ernie mir entgegen.

Mich hielt nichts mehr. Wutentbrannt stürzte ich mich auf Ernie und prügelte auf ihn ein. "Sag das noch mal, du mieses Schwein!", rief ich.

Mike riss mich zurück und hielt mich fest. Ernie keuchte und leckte sich das Blut von der aufgesprungenen Lippe.

"Mein Vater hat ihn selbst gesehen im Bus, auch wenn er sich schnell die Jacke über den Kopf gezogen hat, als er die Streikposten gesehen hat, der feige Hund. Dad hat ihn genau erkannt!", brüllte Ernie. "Was meinst du, woher diene Mum auf einmal das Geld hat, um Brot und Milch zu kaufen? Hab sie doch gesehen, wie sie vom Laden kam."

Langsam dämmerte mir, dass er Recht hatte. Ich schluckte schwer und Tränen schossen mir in die Augen. Natürlich. Warum sollte das Geld für die Streikposten ausgerechnet jetzt erhöht werden? Jetzt, wo es so schlecht stand wie noch nie, wo niemand mehr Geld hatte. Ich drehte mich um und setzte mich auf den Sitz ganz vorne im Bus, direkt hinter dem Fahrer. Hinter mir grölten die Jungs noch weiter, doch ich hörte nicht mehr hin. Ich war unsäglich enttäuscht. Warum tat er mir das an? Mein Vater war ein Verräter, ein ganz mieser feiger Schwächling. Wozu hatten wir all die Monate durchgehalten ohne zu klagen?

An der nächsten Haltestelle stieg ich aus. Kopflos lief ich durch den Nieselregen die Straße entlang. Ich wollte ihn zur Rede stellen, wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn verachtete. Tränen der Wut und der Enttäuschung liefen mir das Gesicht hinunter, als ich keuchend unser Haus erreichte. Ich schloss die Haustür auf und stürzte hinein. Mein Vater war zu Hause, ich konnte ihn in der Küche mit meiner Mutter reden hören. In meinem Zorn wollte ich hineinstürzen und ihm all meine Wut und meine bittere Enttäuschung entgegenbrüllen, doch dann blieb ich stehen, als ich plötzlich etwas hörte, das ich in meinem Leben noch nie gehört hatte. Mein Vater weinte. Verzweifelt und hilflos, wie ein Kind schluchzte er. Ich blieb in der Diele stehen, schlich auf Zehenspitzen näher an die Küchentür.

"Ich habe doch alles gegeben, Linda!", schluchzte er. "Und nun kann ich mich nicht einmal mehr selber im Spiegel anschauen. Sie haben ja Recht, wenn sie mich auf der Straße anspucken, mich Verräter nennen und Steine nach mir werfen. Sie haben ja Recht! Aber was sollte ich denn tun?"

Die ruhige, sanfte Stimme meiner Mutter drang nur ganz leise durch die Tür und ich musste mich anstrengen zu lauschen.

"Nein, sie haben nicht Recht. Ich bin sehr stolz auf dich, Dave. Ich weiß doch, wie wichtig es dir war und wie schlimm es jetzt für dich ist. Es tut mir so Leid. Ich wollte tapfer sein, ich wollte dich unterstützen, aber ich kann einfach nicht mehr, und die Jungs ..."

"Ich weiß", sagte mein Vater mit tränenerstickter Stimme. "Ich weiß doch, Linda. Nur von Kartoffeln bekommt man zwei Jungs nicht groß. Und ich will doch, dass sie es einmal besser haben. Paul ist ein fixer, kluger Junge. Er soll doch mal studieren können. Und Stu... der ist doch noch viel zu klein um das alles zu begreifen." Wieder hörte ich ein lautes, tiefes Schluchzen. "Ich kann euch das einfach nicht zumuten, ich kann nicht mehr, es tut mir so weh, wenn ich euch leiden sehe und ihr ward doch alle so tapfer ... ihr ..." Er konnte nicht mehr weiterreden.

Leise schlich ich mich hinaus und setze mich auf die niedrige Mauer vor dem Hauseingang. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. In der Küche saß dieser Bulle von einem Mann, dieser große, raubeinige, mutige Mann, der mein Vater war, der Held meiner Kindheit, und weinte wie ein Kind. Damals habe ich es nicht in seiner ganzen Tiefe begriffen, doch meine Wut war gewichen. Erst viel später wurde mir klar, dass mein Vater in Wahrheit ein viel größerer Held war, als ich dachte.

 

Nachwort: Die Regierung Thatcher blieb hart, die NUM (National Union of Mineworkers) erlitt eine schwere Niederlage und der Streik wurde im März 1985 nach einem Jahr beendet. Mein Vater hatte noch Glück, die Zeche in Easington war nicht unmittelbar als unrentabel eingestuft, sodass sie erst sieben Jahre nach dem Streik, im Jahr 1993 geschlossen wurde. 1400 Bergarbeiter, darunter mein Vater, verloren ihren Job. Die Region wird zu den schlimmsten sozialen Brennpunkten des Landes gezählt.

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