Dazwischen. Zwischen den Stühlen. Ja, da sitze ich. Um wenigstens mit einer Pobacke sesshaft zu sein, fahre ich nach Bitterfeld, um bald darauf nach Bruchsal zurückzukehren, denn Micha ist nicht gerne allein. Er braucht mich, meine vermeintliche Stärke. Und ich brauche es, gebraucht zu werden, aber eben auch schwach sein zu dürfen und Bitterfelder Luft zu atmen. Bei Achim schöpfe ich Kraft, bin ganz Frau. Doch welche Frau möchte schon die ganze Zeit an der Leine laufen?
"Ob der Zug mein wahres Zuhause ist?", frage ich mich und wische mit der Handfläche über die Fensterscheibe. Sinnlos. Das Glas ist nicht nur von innen beschlagen, sondern auch von außen befroren. Ich sehe nicht klarer. Selbst mein Spiegelbild in der Scheibe ist verzerrt. Ob ich eine neue Brille brauche?
"Sie fahren sicher zu Ihrem Freund?" Die ältere Dame, die mir gegenübersitzt, lächelt wissend und tätschelt mir die Hand. "Sie haben sich so schick gemacht."
Das habe ich. Achim mag es, wenn ich hohe Lederstiefel und dunkelroten Lippenstift trage. Micha dagegen liebt mich am meisten in meinem verwaschenen Pyjama. Ich muss lachen. Eigentlich "liebt" er mich gar nicht, denn körperliche Ausschweifungen findet er oberflächlich.
"Ja, ich fahre zu meinem Freund", sage ich und denke: "… und habe auch meinen Freund zurückgelassen."
Es ist ja nicht so, als ob ich eine Affäre hätte. Nicht einmal von Vielkerlerei halte ich etwas. Ich wünsche mir nur einen Partner, für den ich alles bin, bei dem ich alles sein kann und der alles für mich ist, alles bei mir sein kann. Utopie, oder nicht? Ich schlucke schwer.
Plötzlich ruckelt der Wagon gewaltig. Die Brille fällt mir von der Nase und die alte Dame sitzt nicht mehr auf ihrem Platz. Sie liegt zwischen den Sitzen. Für einen Moment finde ich, dass sie wie ich aussieht. Erst als der Zug endlich zum Stehen kommt, setze ich meine Gläser wieder auf und kann der Dame aufhelfen.
Dann ertönt eine Durchsage: "An alle Fahrgäste des ICE, wir haben vereiste Oberleitungen. Es wird einige Zeit dauern, dieses Problem zu beheben. Daher bitten wir Sie, hier, im Bahnhof von Fulda, auszusteigen. Wegen der Anschlusszüge beachten Sie bitte die Lautsprecheransagen …"
"Vielleicht ist der ICE zu schnell für mich", schimpfe ich verzweifelt. "Ja, was soll ich denn jetzt machen?"
Die alte Frau reicht mir ein Taschentuch. Bevor ich sagen kann, dass mir die Nase gar nicht läuft, meint sie: "Für Ihre Brille. Ich brauche jetzt erst einmal einen starken Kaffee, um zu mir selbst zu kommen."
Ratlos steige ich aus. Eiskalter Wind weht mir ums Gesicht. Ich friere schrecklich. Zudem beschlagen meine Brillengläser. Sie vertragen keinen Frost, genauso wie ich. Ich kann einfach nicht alleine sein. Ich poliere sie mit dem Tuch und kann endlich klar sehen. Ja, tatsächlich! Mit einem Mal frage ich mich, was zwischen Bruchsal und Bitterfeld liegt. Einsamkeit, zumindest für mich, zumindest bisher. Wie blind ich war!
Ich beschließe, mir ein Zimmer zu mieten und Fulda anzuschauen, in Ruhe, alleine. Vielleicht gefällt mir, was ich sehe. Vielleicht mag ich das Dazwischen; vielleicht sogar weitaus mehr als Anfang und Ende der Strecke, die immer gleichzeitig Ende und Anfang für mich waren. Ja, mag sein, dass ich im Dazwischen sogar mehr finden werde als Bruchsal und Bitterfeld mir zusammen bieten. Mag sein, dass ich alles finde; dass ich hier alles sein kann und Fulda alles für mich sein wird.
Ich atme tief die frische Luft ein, verabschiede mich von "meinem" Zug und denke: "Ich muss Achim und Micha anrufen. Ich werde ihnen sagen: Hallo, ich bin inzwischen da - bei mir."
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