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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Mimi drei

© Gerelca


Durch eine gewisse Routine, die den Kopf frei hält für das Außergewöhnliche, das uns ja täglich begegnen könnte, wird jede Arbeit erleichtert. Besonders ein Hausarzt profitiert von Alter und Erfahrung. So schien das Gesicht Doktor Guggerls an diesem Morgen trotz zahlreicher Lachfalten sorgenvoll, als sie mit langen Schritten an den Neubauten vorbeieilte. Irgendetwas an dem Telefonat, das sie gerufen hatte, beunruhigte sie. Eilig strebte sie auf das von Rosen berankte Tor des Einfamilienhauses zu, das musste die richtige Nummer sein. Vom Laufen stoßweise atmend drückte sie auf den Klingelknopf.
"Wer da?" Die Sprechanlage neben ihrem Ohr ließ sie zusammenzucken.
"Doktor Guggerl. Ich wurde zu einer Patientin gerufen."
"Ja, natürlich, sofort. Moment. Also Sie müssen kräftig gegen die Tür drücken." Die Frauenstimme klang seltsam erregt.
Nicht nur gegen die Gartentür, auch gegen die am Haus drückte die Ärztin schnell und kraftvoll. Unnötigerweise, denn letztere schlug sofort im Hausflur gegen die Wand.
Eine Frau schrie unterdrückt auf: "Herrgott, haben Sie mich erschreckt! - Hier geht's entlang."
Sie betrachtete die Frau, die vor ihr herging. Sie war dünn und lang, hatte auffällig gefärbtes rotes Haar und trug einen engen, grünen Hausanzug. Sie leitete die Besucherin durch das enge, verwinkelte Haus und eine steile Holztreppe hinauf. Oben knipste sie das Licht an.
"Ich bin nur die Nachbarin und hielt Wache, solange die Mutter ihrer Arbeit nachging. Eigentlich sollte sie schon hier sein, denn sie hat sich den Nachmittag frei genommen."
Irgendetwas missfiel der Medizinerin, ohne dass es ihr recht zu Bewusstsein kam. Das Krankenzimmer fand sie hell und freundlich, obwohl es eine niedrige Decke hatte, unter der ein kaum spürbarer, dumpfer Geruch hing.
"Temperatur?" Dr. Guggerl fasste das Handgelenk der Kranken.
"Sie schwankte zwischen 39,6 und 41,2 Grad C seit gestern Mittag. Die ganze Nacht litt sie unter Erstickungsanfällen. Heute früh hat ihre Mutter mich gerufen, als sie fort musste. - Ach, das arme Kind, so hohes Fieber."
Während die Stimme hinter ihr redete und redete, sah sie dem jungen Ding im Bett ins Gesicht. Das blonde Haar lag wirr und verklebt um den Kopf. Brandrote Flecken mit scharfen gelben Rändern erstreckten sich von den Wangen über den Hals. Langsam zog die Medizinerin die Bettdecke fort.
"Ziehen Sie ihr das Nachthemd aus!" forderte sie.
Die Frau folgte nach kurzem Zögern, aber es war ihr sichtlich unangenehm.
Und da lag kein Kind. Das Mädchen besaß volle Brüste und ausgeprägte Hüften. Die Flecke breiteten sich in einem eigenartigen Muster über den ganzen Körper aus: brandrot wie große Muttermale, in der Mitte mehr blau, außen mit einem gelben Rand. Das Muster erinnerte sie an etwas, das ihr nicht einfallen wollte.
Die Kranke begann zu frieren, sie jedoch hielt die Decke noch fest und prägte sich die Zeichnung ein. Dann nahm sie auf der Bettkante Platz und schloss die Augen.
"Wie heißen Sie?"
"Michaela." Die Kranke konnte kaum sprechen und schlug fröstelnd die Arme über der Brust zusammen.
"Nein, Sie!" drehte sich die Ärztin barsch zu der Frau um.
"Ich? Ich bin doch nur die Nachbarin, Schnitter mein Name. Eigentlich nicht mal Nachbarn, wir verbringen nur den Sommer in unserer Laube nebenan. Aber wieso denn, warum?"
Dr. Guggerl hatte sich wieder abgewandt und lauschte mit geschlossenen Augen dieser wie gehetzt klingenden Stimme. Irgendwie kam ihr die Situation bekannt vor: diese Flecken, diese Stimme, ja - und der Geruch im Zimmer - nur ein Déja-vu? Noch einmal schaute sie den Bauch genau an und bedeckte dann die sehr weibliche Figur der kleinen mütterlich.
Frau Schnitter hinter ihr atmete hörbar erleichtert aus und begann wieder zu reden. Dr. Guggerl brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Und plötzlich war die gesuchte Erinnerung da. Die alte Frau sah es vor sich: Genau. Ebensolche Flecken hatte das Mädchen Monika damals vor fünf Jahren. Sie nannten sie Mimi. Ich tippte auf Pilzvergiftung von Streifen- oder Schopftintlingen in Verbindung mit Alkohol, was bis auf allergische Flecken und Übelkeit relativ harmlos gewesen wäre. Aber sie hatte nichts dergleichen zu sich genommen, und man konnte kein Gift feststellen. Alle glaubten an so etwas wie Sonnenbrand, aber sie erstickte unbegreiflicherweise.
Nur der pure Zufall Jahre später ... Und jetzt bin ich am Zuge.
Vor ihrem inneren Auge ergaben die Hautflecken das Muster auf einer Pflanze. Abrupt stand sie auf und trat ans Blumenfester. Heftiger Mausgeruch schlug ihr entgegen: Das ist es! Zwischen üppigen anderen Blumen stand eine trichterförmige Pflanze mit hellgrünen Blättern, brandroten Flecken mit gelben Rändern und dicken Warzen darunter, den Äolsdrüsen, wusste sie. Sie hatte die Pflanze bisher niemals lebendig gesehen, nur auf Bildern, und beugte sich interessiert über sie.
Von dem starken Geruch wurde ihr übel. Sich schüttelnd trat sie ins Zimmer zurück und öffnete den Arztkoffer.
"Klappen Sie bitte das Fenster auf, man kann hier darin ja kaum atmen", sagte sie über die Schulter weg zu der argwöhnisch blickenden Frau Schnitter.
"Es wird nicht gut sein für die Fiebernde. Hier zieht es sowieso durch alle Ritzen. Was sollen wir nur machen? Sie ist empfindlich wie eine Mimose ..."
Mit stummem Zorn in den Augen drehte sich die Ärztin um. Erschrocken und mit verkniffenem Mund gehorchte Frau Schnitter.
"Ich kann ja gehen, wenn ich hier alles verkehrt gemacht habe mit Mimi. Da gibt man sich nun alle Mühe um gute Nachbarschaft ..."
Dr. Guggerl zuckte beim Namen "Mimi" zusammen. Also wirklich! Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Damals der Disput hinter der Hecke. Sie konnte die Sprechende nicht sehen.
"Du brauchst nicht mehr ins Gebüsch zu kriechen. Sie wird sich nicht wieder nackt sonnen. Garantiert nicht, du Spanner, garantiert nicht."
"Halt's Maul, alte Hexe, was weißt du schon. Ich gehe nachsehen."
Und dann war ein Mann aus dem Nachbargrundstück fast gleichzeitig mit ihr auf die Straße gekommen und hatte zugesehen, wie Monika in den Krankenwagen geschoben wurde. Derselbe, der später auf ihrer Beerdigung neben ihr stand.
Es könnte diese Stimme gewesen sein.
"Setzen Sie sich bitte ruhig hin und warten Sie, Frau Schnitter, sicher brauche ich Sie noch."
Sie gab Michaela eine Spritze. Die Nachbarin verzog angeekelt das Gesicht und schaute weg. Dann begannen ihre Füße nervös auf den Boden zu klopfen.
Dr. Guggerl strich sich über ihren flaumigen Weiber-Bart auf der Oberlippe. Sie hatte das Gefühl, mehr zu fiebern als das Kind. Betont ruhig setzte sie sich wieder zu dem Mädchen, deren Atem langsam tiefer wurde. Sie sah erwartungsvoll zu der alten, spitzbübisch lächelnden Ärztin hoch.
"Hattest du kürzlich Geburtstag, Mimi?"
Das Mädchen nickte ernsthaft: "Ja, ich bin fünfzehn geworden."
"Und am Tag darauf fing es an: Dauernd wurde dir übel, nicht wahr?"
"Ja. Woher ...?" Sie blickte erstaunt.
Unten hörte man das Schlagen der Haustür und Stimmen. Frau Schnitter schlich hinter ihnen mit einem Blumentopf zur Tür, mit dem Topf in der Hand.
"Du hast dich im Garten gesonnt?"
Eine neue Stimme antwortete von der Tür her: "Ja, sogar nackt manchmal, um ohne Streifen braun zu werden."
Michaelas Mutter hatte Frau Schnitter wieder mit ins Zimmer geschoben.
"Wissen Sie, es ist ja alles zugewachsen ringsum. Fremde können nicht hereinsehen. - Ist es von der Sonne?"
"Hm, in gewisser Weise, ja." Die Doktorin war sich jetzt wie ein Jagdhund ihrer Fährte sicher und schmunzelte für einen Moment. Erst dann nahm sie ihr mobiles Telefon aus der Tasche und wies damit auf den Topf in Frau Schnitters Hand.
"Geschenke nimmt man nicht wieder zurück. - Diese interessante Blattpflanze bekam Ihre Tochter doch zum Geburtstag von der Nachbarin?"
"Ja. Aber wieso?" tönte zweistimmig die Antwort, denn ein Mann schaute plötzlich hinter der Mutter ins Zimmer. Dr. Guggerl blickte ihm ins Gesicht.
"Kommen Sie nur herein, Herr Schnitter, wir kennen uns doch?"
Verlegene Männeraugen. Auch das Mädchen und die Mutter sahen erstaunt von einem zum anderen. Die Nachbarin aber begann zu zittern. Sie wollte unbedingt hinaus, den verräterischen Blumentopf irgendwo abstellen, aber sie schaffte es nicht. Schlotternd vor Angst fiel sie auf den Stuhl zurück.
Und dann sprach die Ärztin.
"Erinnern Sie sich an Marlies Gröhlke und Monika Lee, Ihre
Mimi I und Mimi II?"
Herr Schnitter lief rot an und riss die Augen auf. Seine Frau stellte nun doch den Topf auf die Erde, um ihr Gesicht in beiden Händen zu verbergen.
Michaelas Augen hingen an Dr. Guggerls Mund, keine Silbe wollte sie verpassen, ebenso die Mutter.
"Es ist viele Jahre her. Ich kannte nur Monika, behandelte sie vor fünf Jahren. Da war Marlies schon einige Jahre tot. Sie waren nicht zu retten, aber du, kleines." Sie schaute auf das Mädchen.
Beide hatten sich nackt im Garten gesonnt, waren von Ihnen, Herr Schnitter, durch die Hecke beobachtet worden. Sie nannten sie alle Mimi, sobald sie Ihnen gefielen, wie andere Leute jede neue Katze denselben Namen geben. Zur Strafe bekamen die Mädchen zum Geburtstag diese hübsche Äolsconion maculaton, eine Dschungelpflanze mit nächtlich sprühenden Giftdrüsen, von Ihrer Frau geschenkt.
Aus purem Zufall fand ich vor zwei Jahren im Computer die Fallähnlichkeiten, und es ließ mir keine Ruhe. Ich sprach mit dem Arzt vom Fall Gröhlke. Gemeinsam setzten wir ein Puzzle zusammen, dessen letzte Teile ich erst heute gefunden habe. Leider waren Sie, Herr Schnitter, mehrfach umgezogen und ich kein Detektiv. So konnte ich nur nachdenken, nicht nachfragen - und mich mit ätherischen Pflanzengiften befassen. Ein gefährliches Thema!
Doch Mimi III wird nicht sterben. Gleich bekommt sie Sauerstoff und Sie, Frau Schnitter, Sie bekommen hoffentlich das, was Ihnen zusteht!"
Jedes wichtige Wort betonte die alte Ärztin mit einer Handbewegung, so dass das Telefon drohend auf und ab fuhr. Dann wählte sie schnell.
"Ist dort der Notdienst? Ja, hier Doktor Guggerl. - Kommen Sie sofort her und informieren Sie auch die Polizei. Sie sollen mit zwei Kriminalbeamten herkommen. - Ja, dringend. Ein Mordversuch, muss ich annehmen ..."
Die Mutter stürzte händeringend ans Krankenbett. Herr Schnitter aber hielt sich leichenblass am Türrahmen fest. Strafende, Hasserfüllte Blicke wechselten zwischen den Eheleuten Schnitter. Sie gewährten der Menschenkennerin Guggerl wieder einmal Einblicke in die dunklen Tiefen menschlicher Psyche.

Eingereicht am 26. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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