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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Die Diebe

© Margit Schaafberg


"Vielen Dank auch, und frohe Weihnachten!"
Oli winkte der Hauptkassiererin noch ein letztes Mal mit dem Revolver in der Hand zu, dann sprintete er aus dem Kassenhäuschen und durch den auch zehn Minuten nach Geschäftsschluss immer noch proppenvollen Eingangsbereich auf den Parkplatz. Im Laufen riss er sich den Motorradhelm vom Kopf und warf ihn in einen herrenlos dastehenden Einkaufswagen. Der geklaute Fluchtwagen stand nur wenige Schritte vom Haupteingang entfernt. Gut, dass er ihn dort schon lange vor Geschäftsöffnung abgestellt hatte. Viel Zeit würde nicht bleiben, bis sich die Kassenzicke von ihren Fesseln befreit hatte und Alarm schlagen würde. Oli riss die Fahrertür auf, warf ohne hinzusehen den Revolver und den Rucksack mit der Beute auf den Rücksitz und rutschte hinter das Steuer.
Die Ausfahrt vom Supermarktparkplatz war verstopft, es ging nur schrittweise voran. Doch auch das hatte er einkalkuliert. Oli grinste, der Coup war gelungen. In höchstens zwanzig Minuten würde er auf der Autobahn Richtung Norden sein. Dann noch ein paar Stunden Fahrt, und er wäre am Ziel. Das Ferienhaus gehörte seinem alten Freund Jens, der leider nicht wie geplant mitkommen konnte. Pech, dass sie ihn ausgerechnet zwölf Tage vor Heiligabend noch erwischt hatten. Jetzt saß er in U-Haft, und das nur wegen einer alten Betrugsgeschichte, die längst hätte verjährt sein müssen. Pech für Jens, Oli hatte den Überfall ja auch alleine hinbekommen. Und wo der Ersatzschlüssel für die Hütte am Meer versteckt war, hatte Jens ihm auch noch rechtzeitig verraten können.
Endlich hatte er die Autobahnauffahrt erreicht. Oli schaltete das Autoradio ein und trat das Gaspedal durch.
"Bist du ein echter Gangster?"
Fast hätte Oli die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.
"Ob du ein echter Gangster bist habe ich gefragt."
Oli warf einen Blick in den Rückspiegel und sah ein schmutziges Kindergesicht unter einem Wust roter Haare.
"Wie kommst du denn hier rein?"
"Na wenn du keine Anhalter mitnimmst, musst du halt die Autotür abschließen."
Ein gutes Argument. Auf der anderen Seite hätte es viel zu viel Zeit gekostet, den Wagen erst aufzusperren.
"Man, du hast mir grad noch gefehlt. Auf dem nächsten Rastplatz schmeiße ich dich raus!"
"Versuchs doch!"
"Sei nicht so vorlaut, Bürschchen. Ich bin mit Sicherheit stärker als du."
"Aber ich habe deine Knarre."
Das Kind schwenkte den Revolver jetzt genau so, wie er es kurz davor noch bei der Kassiererin gemacht hatte.
"Mensch, das ist hier kein Spiel. Ich bin auf der Flucht vor den Bullen. Sei froh, wenn ich dich laufen lasse. Wenn du Glück hast, bist du wieder zu Hause, bevor der Weihnachtsmann kommt."
Wie war er eigentlich auf den blöden Gedanken gekommen? Das Kind auf dem Rücksitz lachte hämisch. War das eigentlich ein Junge oder ein Mädchen? Er konnte es nicht erkennen.
"Zu mir kommt kein Weihnachtsmann. Höchstens der Neue von meiner Mutter. Und wenn ich ganz viel Glück habe, verzichtet er ausnahmsweise mal darauf, mich zu verprügeln."
Oli zuckte die Achseln, nicht sein Problem. Gerade kam er an einem Schild vorbei, der nächste Rastplatz war nur noch 2 km entfernt. Er würde doch noch mit einem solchen Gör fertig werden.
"Hey, was soll das?", Oli fühlte kalten Stahl an seinem Hinterkopf. "Mach, dass du zurück auf die Autobahn kommst. Entweder, du nimmst mich mit, oder du kommst nirgends mehr hin."
"Und dann? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du dann alleine weiterfahren willst. Du kommst doch noch nicht mal mit den Füßen bis zum Gaspedal."
"Dann kidnappe ich eben einen Anderen. Eine Knarre habe ich ja jetzt. Und wenn es gar nicht anders geht, kauf ich mir eben eine Zugfahrkarte. Geld habe ich hier hinten auch genug."
"Und warum knallst du mich dann nicht gleich ab?"
"Ich finde es gemütlich hier. Und eigentlich finde ich dich ganz nett. Außerdem würde ich gerne noch ein paar Kilometer weiter kommen, bevor ich das Fahrzeug wechsele."
Oli fuhr weiter, was blieb ihm auch anderes übrig. Zwar glaubte er nicht daran, dass das Kind im Ernstfall den Mut haben würde, abzudrücken, aber er wollte auch das Risiko nicht eingehen.
"Hast du Bonbons im Handschuhfach?"
"Was?"
"Bonbons. Hast du welche dabei? Beim Autofahren wollen Kinder Bonbons lutschen."
"Habe ich nicht."
"Guck gefälligst nach. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mit deinem eigenen Auto auf Raubzug gegangen bist. "
"Zu gefährlich während der Fahrt. Soll ich uns in den Straßengraben kutschieren?"
Das schien das Kind zu verstehen. Einen Moment lang war es still auf dem Rücksitz.
"Willst einen?"
"Was?"
"Nen Lolli, hab ich vorhin im Supermarkt mitgehen lassen. Hab mir gedacht, wenn mir schon keiner was schenkt, dann hol ich mir halt selbst ein Geschenk."
Etwas flog an Olis rechtem Ohr vorbei und landete in seinem Schoß.
"Wie heißte eigentlich?"
"Oli, und du?"
"Tina."
Ein Mädchen also, auch das noch. Eine Gangsterbraut sozusagen. Im Prinzip hatte er ja gegen die Anwesenheit einer Tina im dänischen Exil nichts einzuwenden, aber die musste dann mindestens zehn Jahre älter sein. Oli warf einen weiteren Blick in den Spiegel. Der Lollistiel stak aus ihrem Mund, in der rechten Hand hielt sie den Revolver, und mit der linken bohrte sie nachdenklich in der Nase.
"Hast du gar keine Angst vor mir?"
"Warum?"
"Na, ich bin ein Gangster. Ich habe gerade den Wanda-Markt um ein paar Tausender erleichtert. Der Kassentante schlottern wahrscheinlich jetzt noch die Knie."
"Ach, schlimmer als der Neue von meiner Mutter kannst du auch nicht sein. Und ich habe ja meinen Kumpel hier!"
Sie zielte mit dem Revolver auf sein linkes Schulterblatt.
"Spinn nicht rum, du weißt doch gar nicht, wie man damit umgeht. Gib ihn mir, bevor der noch aus Versehen losgeht."
"Das hättest du wohl gerne. Und dann schmeißt du mich auf dem nächsten Rastplatz raus und machst dich mit der ganzen Kohle aus dem Staub."
"Man, was willst du denn von mir? Ich kann dich echt nicht gebrauchen!"
"Aber ich brauche dich. Ich habe mir gerade einen neuen Papa gekidnappt."
Vor Schreck trat Oli das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen machte einen Satz und geriet ins Schleudern.
"Lass das! Ich will kein Waisenkind werden. Und mach mal das Radio lauter."
Oli sah auf die Uhr am Armaturenbrett, 14:29, jeden Moment mussten die halbstündigen Nachrichten beginnen.
"K. Ein maskierter Räuber überfiel heute Mittag die Filiale des Wanda-Markts in der Schlossallee. Nach Angaben des Marktleiters ist er mit Einnahmen in Höhe von ca. 45000 Euro entkommen. Gesucht werden Zeugen, die gesehen haben, wie der Räuber entkam."
"Mensch, das haste aber super hinbekommen, wenn keiner gesehen hat, wie du abgehauen bist!"
"Alles ist prima gelaufen, bis du aufgetaucht bist."
"Das sagt meine Mutter auch immer. Hab ich dir auch dein Leben versaut? Tut mir leid. Im Grunde mag ich dich ganz gerne."
Ihre Stimme klang jetzt viel kleinlauter.
"Na so schlimm ist es auch nicht. Wenn ich kein Gangster und auf der Flucht wäre, dann hätte ich dich eigentlich auch ganz gerne. Aber jetzt störst du."
"Wieso? Haben Gangster keine Kinder?"
"Ich weiß jedenfalls keinen, der sich um seine kümmert. Die leben meistens bei ihrer Mutter, und wenn der Gangster genug ergaunert, überweist er ihr Unterhalt. Und wenn er im Knast sitzt und nichts besseres zu tun hat, dann schreibt er vielleicht mal eine Weihnachtskarte."
"Du auch?"
Er zögerte einen Moment, bevor er nickte.
"Hast du einen Jungen oder ein Mädchen?"
"Ein Mädchen."
"Und wie alt ist die? Und wie heißt sie?"
Oli musste einen Moment lang rechnen.
"Siebzehn ist sie, und sie heißt Anika. Ich habe sie seit 8 Jahren nicht mehr gesehen."
"Da war sie dann ja genau so alt wie ich jetzt. Können wir nicht so tun, als wäre ich Anika und du hättest mich auf der Flucht bei ihrer Mutter abgeholt, weil sie da immer von ihrem Stiefvater verprügelt wird?"
"Du hast vielleicht Ideen!"
"Ach bitte! Ich habe mir immer gewünscht, dass mein Vater irgendwann auftaucht und mich holt. Du kannst mich auch Anika nennen, wenn du willst."
Er zuckte die Achseln. Warum eigentlich nicht. Neun war sie also. Noch nicht einmal strafmündig.
"Wohin fährste denn?"
"Dänemark."
"Ans Meer?"
"Ja."
"Ich war noch nie am Meer. Kann ich da baden?"
"Bei dem Wetter bestimmt nicht."
Es hatte begonnen, zu schneien. Noch waren die Flocken klein und vereinzelt. Wieder sah er in den Rückspiegel. Er sah, dass sie zitterte. In seiner Lederjacke hatte er die Kälte kaum empfunden, aber in der dünnen Windjacke die sie trug holte sie sich ja den Tod. Er drehte die Heizung auf.
"Aber eine Badewanne gibt es da, wo wir hinfahren. Du siehst aus, als könntest du eine vertragen."
"Du nimmst mich also wirklich mit?"
"Bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Du hast ja die Knarre."
"Und wenn ich in der Wanne liege oder schlafe, rufst du die Bullen, dass sie mich zurückbringen."
"Wie denn das? Vergessen? Ich bin doch ein Räuber. Und jetzt auch ein Kidnapper. Wenn ich die Bullen rufe, bin ich selber dran."
"Stimmt.", sie lachte fröhlich, und Oli musste grinsen. Eigentlich gefiel ihm die Situation gar nicht mehr so schlecht, wie am Anfang. Fünfundvierzigtausend waren ganz nett, aber vielleicht ließ sich für die Kleine ja noch mehr herausholen.
"Ist dir noch kalt?"
"Ein bisschen. Nett, dass du die Heizung angemacht hast."
"Was rennst du auch mit so einem dünnen Fetzen auf die Straße?"
Sie zuckte die Achseln. "Mama hat mir meine Winterjacke weggenommen, damit ich nicht wieder abhaue. Aber immer noch besser frieren, als zu Hause bleiben."
Wieder schwiegen sie eine Weile. Im Autoradio liefen Weihnachtslieder. In den Nachrichten hieß es, dass von dem Räuber noch immer jede Spur fehlte. Das Schneetreiben war inzwischen stärker geworden.
"Ist es noch weit?"
"So zwei bis drei Stunden fahren wir noch. Bei dem Wetter kann ich nicht so schnell fahren."
"Ich bin so müde, und mein Kopf tut so weh."
"Dann mach es dir doch da hinten gemütlich und schlaf ein bisschen."
"Schmeißt du mich dann auch nicht raus?"
"Na hör mal, ich werf doch meine Tochter Anika nicht aus dem Auto. Schlaf ruhig."
Oli lauschte ihren Atemzügen, die immer tiefer wurden. Gelegentlich ertönte sogar ein leises Schnarchen. Er lächelte. Im selben Moment schalt er sich einen Idioten. Was hatte er sich dabei gedacht? Jetzt hatte er ein neunjähriges Kind am Hals. Ausgerechnet er. Aber laufen lassen konnte er sie jetzt nicht mehr. Dafür war er zu weit gekommen. Wenn die Polizei sie aufgriff, würde sie ihn und sein Fahrzeug in allen Einzelheiten beschreiben können. Irgendwie würde er schon mit ihr auskommen, bis Gras über die Sache gewachsen war.
Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht, eine Ferienhaussiedlung an der Nordsee. Als er im Sommer mit Jens das Versteck in Augenschein genommen hatte, hatte es hier von Touristen gewimmelt. Jetzt war alles still, nur vereinzelt leuchtete aus einem der Häuser ein Licht. Das Haus, das Jens von seinem Onkel geerbt hatte, lag versteckt in den Dünen. Niemand würde von weitem sehen können, dass es nicht wie sonst um diese Zeit unbewohnt war. Er lenkte den schweren Wagen hinter das Haus sah sich zum ersten Mal richtig nach der Kleinen um. Tina schlief tief und fest auf dem Rücksitz. Im Licht der Innenbeleuchtung erkannte er, dass ihr Gesicht teilweise von Blut schmutzig war, das offenbar aus einer verschorften Platzwunde über der linken Augenbraue stammte. Eine Strähne roten Haares war ihr ins Gesicht gefallen und zitterte jetzt bei jedem ihrer Atemzüge.
Oli stieg aus und stapfte durch den Schneematsch zur Hintertür. Ohne Probleme fand er den Schlüssel in seinem Versteck. Das Haus war kalt und roch klamm. Seit Monaten war niemand mehr hier gewesen. Jens vermietete nicht, wie die meisten seiner Nachbarn. Im Korb neben dem Kamin lagerte das Holz, das sie im Sommer herangeschafft hatten. In der Küche würden sich einige Tütensuppen und Konserven finden. Auch Kleidung hatten sie bei ihrem letzten Besuch da gelassen - allerdings gedacht für zwei Männer, die beide so um die 1,90 groß und kräftig gebaut waren. Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden. Oli schaltete die Heizung in allen Zimmern an und entfachte ein Feuer im Kamin. Dann ging er zum Auto, um Tina zu holen.
Sie saß aufrecht auf dem Rücksitz. Tränen strömten über ihr Gesicht und sie zitterte.
"Ich dachte, du hättest mich alleine gelassen."
"Hey, ich lass doch meine Tochter Anika nicht allein. Wir sind da. Ich habe es uns schon mal gemütlich gemacht. Komm rein, dann wird dir gleich warm."
Er griff nach ihrer Hand und stellte fest, dass sie trotz der Kälte im Auto erstaunlich warm war. Tina angelte mit der anderen Hand nach dem Revolver, der in den Fußraum vor dem Rücksitz gefallen war, und hielt ihn ihm am Lauf entgegen. Dann schnappte sie sich den Rucksack mit der Beute und stolperte hinter ihm her.
"Ich muss mal!"
"Da ist das Klo. Wenn du fertig bist, komm einfach hier durch, ich guck mal, ob ich was zu essen finde."
Oli öffnete eine Dose Spaghetti mit Fleischklößchen und schüttete sie in einen Topf. Was sollte er ihr zu trinken geben? Im Schrank stapelte sich das Dosenbier, das sie als Vorrat herangeschafft hatten, war wohl kaum das Richtige. Milch fiel ihr ein, heiße Honigmilch. Damit hatte seine Mutter ihn als Kind immer gequält. Aber durchgewärmt hatte sie. Nur hier hatte er weder Milch noch Honig. Nicht einmal Tee. Nur Leitungswasser. Morgen würde er in den Ort fahren müssen, um einzukaufen. Er füllte die Spaghetti auf zwei Teller und trug sie ins Wohnzimmer. Sie hatte sich in den Sessel gekuschelt, der am nächsten am Kamin stand. Er drückte ihr den einen Teller in die Hand und sah einen Moment zu, wie sie hungrig die Pampe in sich hineinschaufelte. Dann ging er zurück in die Küche, um ein Glas Wasser und eine Dose Bier zu holen. Er ließ sich auf das Sofa fallen und legte die Füße in den dicken, schmutzigen Stiefeln auf die Armlehne.
"Das gibt Ärger!"
"Mit wem? Ist doch keiner da, den es stört."
Im flackernden Licht aus dem Ofen leuchtete ihr Gesicht rötlich. Ihre Augen waren vom Weinen noch geschwollen. Sie trug immer noch die dünne Jacke, und jetzt konnte er sehen, dass auch die Hose, die sie trug, viel zu dünn für die Jahreszeit war. Die Füße hatte sie unter sich gezogen, doch am Boden sah er ein paar dünne Stoffschuhe, die offensichtlich völlig durchweicht waren.
"Komm, ich bring dich ins Bett!"
"Kann ich nicht hier schlafen? Ich habe Angst, dass du sonst weggehst."
Oli streichelte ihr über den Kopf.
"Brauchst keine Angst zu haben, ich bleibe hier. Ich will aber noch fernsehen, das stört dich doch."
"Macht nichts. Hauptsache, du bleibst da."
Er ging in eines der Schlafzimmer und kam mit einem dicken Wollpullover zurück.
"Zieh dir das an, in den dünnen Sachen holst du dir ja den Tod."
Sie verschwand im Bad. Als sie zurückkam, schlotterte der Pullover um ihren mageren Körper. Er reichte ihr ein ganzes Stück über das Knie, aber auf der Haut ihrer Unterschenkel erkannte er Blaue Flecken und Wunden. Offenbar hatte sie versucht, sich das Gesicht zu waschen. Der Erfolg war mäßig, der Schmutz war nur noch mehr verteilt worden und die Platzwunde hatte wieder angefangen, leicht zu bluten. Er richtete ihr mit Kissen und Decken aus dem Schlafzimmer ein Lager auf dem Sofa und sie kroch unter die Decke.
"Gibst du mir einen Gutenachtkuss?"
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Einen Moment lang dachte er an die Kinderschänder, und wie man im Gefängnis mit ihnen umgegangen war. Aber ein Gutenachtkuss auf die Stirn war doch wirklich unverfänglich.
Oli verzog sich in die andere Ecke des Wohnzimmers, in der der Fernseher stand. Aus der Ferne konnte er sie auf ihrem Sofa liegen sehen. Sie schlief nicht, sondern sah ihn mit großen Augen an. Er versuchte sich auf den Action-Streifen zu konzentrieren, den Jens und er eigentlich zur Feier des gelungenen Coups gemeinsam hatten sehen wollen, aber er konnte nicht.
Als Oli aufwachte, saß er immer noch in einem der unbequemen Rattansessel in der Fernsehecke. Im Mund hatte er einen schalen Geschmack von dem Bier, das er bis spät in die Nacht getrunken hatte.
"Papa!"
Einen Moment lang glaubte er, immer noch zu träumen. Dann fielen ihm die Ereignisse des Vortages wieder ein. Er rappelte sich in seinem Sessel hoch und sah hinüber zu dem Sofa.
"Papa!"
Ihre Stimme klang kläglich.
"Keine Angst, Kleine, ich bin noch hier!"
"Mir ist kalt. Und ich habe Durst."
Auf Socken tappte er zu ihr herüber und strich ihr über die Stirn.
"Warte, ich bring dir ein Glas Wasser."
"Mach mir Kakao."
"Geht nicht. Wir haben keine Milch und kein Kakaopulver. Ich muss nachher in den Ort einkaufen."
"Ich komme mit."
"Nein, das geht nicht."
"Aber du kommst dann nicht wieder. Und ich bin ganz allein hier."
"Keine Angst, ich lasse meine Anika nicht zurück. Ich gehe nur einkaufen. Milch und was du essen magst und ein paar Sachen, die dir auch passen. So kannst du doch nicht im Ort rumlaufen. Da fallen wir doch auf. Was willst du denn machen, wenn sie mich in den Knast sperren?"
Sie nickte ernsthaft, das verstand sie. Er legte noch ein paar Holzscheite auf das Feuer im Kamin, das fast ganz heruntergebrannt war. Die Elektroheizung schien kaum Wirkung zu zeigen. Dann schlüpfte er in die Stiefel und zog die dicke Winterjacke an, die er hier deponiert hatte.
"Ich beeil mich. Aber ein bisschen wird es schon dauern, der Ort ist weit. Geh doch so lange in die Badewanne, ich glaube, du kannst eine gründliche Wäsche gebrauchen."
Sie nickte eifrig und sah vertrauensvoll zu ihm auf.
"Und wenn ich dann noch nicht da bist, kannst du ja vielleicht schon mal den Frühstückstisch decken. Kannst du das schon? Na prima!"
Er stieg in das Auto und fuhr winkend los. Hinter einem der Fenster sah er einen Schatten. Sie sah ihm nach. Zum ersten Mal in seinem Leben schien jemand ihm wirklich zu vertrauen. Er durfte sie nicht enttäuschen.
In der Nacht war der leichte Schneematsch getaut, die Schotterwege waren voller Pfützen, und die meisten von ihnen waren mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die krachend zerbrach, wenn er darüber fuhr. Er überlegte, dass er sie gar nicht gefragt hatte, was sie denn nun essen wollte. Aber egal, so wie sie aussah, konnte sie alles Essbare vertragen. Pech nur, dass er ein lausiger Koch war. Mehr als ein Fertiggericht aus der Dose brachte er nicht zustande. Er drehte das Autoradio auf und suchte nach einem deutschen Sender. Immer noch schien niemand die Kleine zu vermissen. War wohl auch besser so, für alle Beteiligten.
Endlich erreichte Oli die Ortschaft. Die Kirchenglocken läuteten, und mit Schrecken wurde ihm klar, dass ja der erste Weihnachtsfeiertag war. Die Läden würden nicht geöffnet haben. Was sollte er tun? Er allein würde klar kommen, aber was war mit Anika? Eine Tankstelle. Wenn er Glück hatte, würde er eine auftreiben, in der man ein paar Lebensmittel kaufen konnte. Die warmen Kleider mussten dann halt noch ein paar Tage warten, aber sie konnte ja so lange unter der Decke bleiben, kein Grund, das Haus zu verlassen. Hauptsache, sie hatten etwas zu essen und zu trinken.
Er musste noch einige Kilometer fahren, bis er endlich eine Tankstelle fand, die geöffnet hatte und ein kleines Warenangebot hatte. Ein Blick auf die Tankanzeige sagte ihm, dass es ohnehin Zeit war, den Treibstoff aufzufüllen. Er kaufte fertigen Kakao, Brot, Eier, Saft und eine Mickymaus.
"Sehen Sie zu, dass Sie zurück ins Warme kommen! Sie haben einen Schneesturm angesagt. So etwas haben wir hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt. Aber wenn ich mir den Himmel ansehe, könnt ich es schon glauben."
Olis Blick folgte dem ausgestreckten Finger des Dänen und sah, dass sich der Himmel mit dunklen Wolken bezogen hatte. Er musste sich beeilen. Bei einem Unwetter würde sie Angst haben. Im Vorbeifahren sah er das Schild, Höchstgeschwindigkeit 70 km/h. Aber wozu? Um diese Zeit war niemand sonst unterwegs, die Leute waren dabei, ihre Weihnachtsgeschenke auszuprobieren und den Braten vorzubereiten. Er trat das Gaspedal voll durch und jagte über die Landstraße.
Die überfrorene Pfütze sah Oli nicht mehr. Aber den Wagen des Dorfarztes, der aus einem Seitenweg kam. Im letzten Moment versuchte er zu bremsen, doch der Chausseebaum schleuderte näher und näher. Dann wurde es dunkel um Oli.

Eingereicht am 08. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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