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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Ein Wochenende in Rothberg

© Günter J. Matthia


Ain't no mercy on the streets of this town ...
Bruce Springsteen
1
Marinas dunkle Augen blitzten voller Vorfreude. Ihr Lachen, in seinen Ohren silbernen Glocken gleich, weckte Robert auf. Ihre dunkelblonden seidigen Haare umrahmten das bereits in den frühen Morgenstunden muntere Gesicht.
"Aufstehen, Schatz! Das Wochenende ist da! Alte Schlafmütze, raus mit dir!"
Sie zerrte an seiner Bettdecke. Er betrachtete seine Frau und wusste, dass er nie eine andere würde lieben können. Sie war die Erfüllung aller Träume, sie war sein Leben.
"Wir fahren doch gleich nach dem Frühstück los?", fragte sie. "Viel brauchen wir ja nicht einzupacken."
Robert nickte und dachte voller Vorfreude an das freundliche, sonnige Zimmer in dem kleinen Hotel am See, an die stille, romantische Umgebung, die sie bei vergangenen Wochenenden in Rothberg erkundet hatten. An die gemütlichen Abende in der Hotelbar mit den fröhlichen Gästen. An die Uferpromenade mit ihren verwunschenen Winkeln, die zum Verweilen einluden. An ihren Traum, irgendwann nach Rothberg überzusiedeln.
Die Morgensonne zauberte mit ihren ersten wärmenden Strahlen einen kastanienrötlichen Schimmer in Marinas Haare. Robert blickte ihr verträumt nach, als sie ins Bad ging. Er döste noch einige Minuten vor sich hin und ging dann, als er das Rauschen der Dusche hörte, in die Küche, um Kaffee zu kochen.
Während er sich rasierte, suchte Marina zwei leichte helle Sommerkleider aus und legte eines zu den Jeans und T-Shirts in den schmalen Koffer. Das andere, aus einem hellblauen, luftigen Baumwollstoff gearbeitet, zog sie über ihren zarten Körper. Er mag es, wenn ich ein Kleid trage. Er soll sich heute freuen.
Sie hatten sich gerade den duftenden Kaffee eingegossen, als das Telefon ihr Frühstück mit seinem Surren unterbrach. "Wer ist das, so früh am Samstag?", rätselte Robert mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Es war gerade acht, so zeitig wurden sie am Wochenende nie gestört.
"Hallo?", meldete sich Marina.
"Marina? Hier ist Dörte. Ich dachte, du bist vielleicht schon unterwegs. Gut, dass ich dich noch erwische, bevor du kommst. Bringst du bitte Kerzen mit?"
Kerzen? Zu Dörte? Einen Moment war Marina ratlos. Dann fiel es ihr ein und sie wurde rot, weil sie etwas so Wichtiges vergessen hatte. Sie hatte Dörte versprochen, vor mehreren Wochen schon, dass sie ihr heute beim Kindergeburtstag helfen würde. Mist, das habe ich total vergessen.
"Oh, Dörte, das tut mir leid! Wir müssen gleich wegfahren, wegen - wegen einer dringenden Familiensache. Hals über Kopf, alles ist drunter und drüber. Ich habe es noch nicht geschafft, dich anzurufen. Es tut mir leid, ich kann nicht helfen."
Dörte klang enttäuscht. "Aber was soll ich denn mit den vielen Kindern alleine anfangen? Das schaffe ich nicht. Wenn du wenigstens gestern angerufen hättest, dass du nicht kommst. Dann hätte ich noch Ersatz suchen können."
"Ja, ich weiß, aber es kam so überraschend, tut mir wirklich leid."
Dörte versuchte, sie umzustimmen: "Und wenn ihr erst am Nachmittag fahrt? Vielleicht finde ich noch Hilfe ab dem Mittag..."
"Nein, wirklich nicht. Wir müssen sofort los. Tut mir echt leid."
Als sie aufgelegt und Robert kurz den Sachverhalt erklärt hatte, meinte er: "Wir haben doch nichts reserviert im Hotel, lass uns einfach hier bleiben. Dann kannst du Dörte helfen."
Aber Marina wollte nichts davon wissen. "Wie stehe ich denn dann da, erst sage ich dringende Familienangelegenheit, und dann auf einmal doch nicht? Nee, ich hab das vergessen, und Dörte wird schon darüber hinwegkommen. Wir fahren nach Rothberg."
Sein schlechtes Gewissen und der Gedanke, sie sollten dieses Wochenende in Berlin bleiben, begleiteten Robert noch eine Weile. Doch die Sonne lachte vom Himmel und ließ ihn den Anruf schließlich vergessen. Er mochte Dörte sowieso nicht besonders.
Die Autobahn war nicht sehr voll, Marina lehnte sich entspannt zurück. Sie beobachtete, wie die sommerliche Landschaft an ihnen vorüberflog. "Tempo 130!" neckte sie Robert mit einem Blick auf die Tachonadel, die bei 180 pendelte. Er lachte, wusste, dass Marina selbst gerne schnell fuhr, das würde er bei der Rückfahrt erleben. Glaubte er zumindest, da er von einer gemeinsamen Rückfahrt ausging. Warum auch nicht. Er nahm sich vor, sie dann ebenfalls an die Geschwindigkeit zu erinnern.
"Scheiße, was ist denn jetzt los!" schimpfte Robert. Das rote Warnlicht am Armaturenbrett blinkte, daneben leuchtete die Ölkontrolllampe. Er ließ den Wagen neben einer Notrufsäule ausrollen.
Sie mussten 40 Minuten warten, bis der gelbe Wagen des Pannendienstes hinter ihnen hielt. Der Techniker untersuchte das Fahrzeug und meinte dann: "Ihr Motor verliert an irgend einer Stelle Öl. Es könnte eine Dichtung sein. Ich fülle jetzt Öl nach und gebe Ihnen noch eine Reserve mit, dann können Sie langsam und vorsichtig bis zur nächsten Werkstatt fahren. Achten Sie auf die Lampe."
"Vielleicht sollten wir lieber umkehren?", überlegte Marina. "Wer weiß, wie lange das dauert. Wenn wir nach Hause fahren, kann der Wagen bis Montag in der Werkstatt bleiben."
"Unsinn", widersprach Robert seiner Frau. "Wir wollten nach Rothberg und wir fahren nach Rothberg. Die Dichtung ist sicher schnell ausgewechselt."
Er war ärgerlich wegen der Verzögerung. Er fuhr jetzt sehr behutsam, blieb im unteren Drehzahlbereich. Aus dem Serviceheft hatten sie die Adresse der nächstgelegenen Spezialwerkstatt herausgesucht. Das war der Nachteil bei einem französischen Wagen, dass man nicht einfach zur Werkstatt um die Ecke gehen konnte. Aber er liebte den Luxus seiner Limousine. Sie verließen die Autobahn bei der nächsten Ausfahrt und fuhren nach Magdeburg hinein.
Als sie auf den Hof der Werkstatt einbogen, war es elf Uhr. Der Meister versprach, sich sofort um den Wagen zu kümmern, und wies ihnen den Weg zum nächsten Café.
2
General Luke Claim war ungehalten. Als hoher NATO-Offizier hatte er schon grundsätzlich wenig Freizeit, und nun war für den Mittag eine dringende Sitzung anberaumt worden. Es war sein fünfunddreißigster Hochzeitstag, seine Frau hatte sich gewünscht, in einem kleinen verträumten deutschen Hotel, abseits aller Verpflichtungen, das Wochenende zu verbringen.
Die Sekretärin hatte Rothberg gewählt, er verließ sich auf ihr gutes Gespür. Weder seine Gattin noch er kannten den Ort, den sie beschrieben hatte. Sie waren zufrieden, denn sie wollten kein Luxushotel, sondern ein gepflegtes ruhiges Haus, in dem sie niemand kannte. Genau das schien die "Mühle" zu sein.
Und nun kam diese Sitzung dazwischen. Er telefonierte kurz mit seiner Frau, um ihr mitzuteilen, dass sich die Abreise verzögern würde. Jedoch spätestens um 15.00 Uhr solle sie sich bereithalten.
3
Die Bedienung in dem Café, das mit seinen nackten Holztischen und den vergilbten Zetteln, auf denen die geringe Auswahl an Speisen und Getränken notiert war, eher einer Kneipe glich, obwohl es den pompösen Schriftzug Café Paradiso über dem Eingang trug, war so unfreundlich wie das Lokal. Der schmuddelige Linoleumboden zeigte festgetrocknete Ränder von verschütteten Getränken, die niemand aufgewischt hatte. In der mit Krümeln und Flecken übersäten Vitrine waren einige kümmerliche Kuchenstücke von unzähligen Wespen und Fliegen umlagert, die sich zornig summend um die Leckerbissen stritten. Marina bestellte nach einem kurzen Blick auf die Auslage nur einen Kaffee, Robert entschied sich für ein Mineralwasser. Der schmierige Rand auf seinem Glas veranlasste ihn, aus der Flasche zu trinken.
"Ich habe gar keine Lust mehr, weiterzufahren." Er sah, dass es Marina ebenso ging. Sie seufzte und rührte ihren Kaffee um.
"Ja, aber die Hälfte der Strecke haben wir doch geschafft. Es kann ja trotzdem noch ein schönes Wochenende in Rothberg werden", versuchte sie ihn aufzumuntern, obwohl sie selbst niedergeschlagen war. Hätten sie doch zu Dörte gehen sollen? Ach was, nun waren sie schon unterwegs...
Um 13 Uhr konnten sie ihren Wagen abholen. Robert bezahlte die verlangten 148,95 Euro mit der EC-Karte und legte zehn Euro Trinkgeld auf den Tresen. Der Mechaniker sich, wünschte eine gute Weiterfahrt und ein angenehmes Wochenende. Dann schloss er hinter ihnen das Tor ab und genoss seinen Feierabend.
4
Den Einheimischen in Rothberg fielen die zivilen Sicherheitskräfte kaum auf, denn besonders an sonnigen, warmen Wochenenden wurden sie regelmäßig von Ausflüglern überschwemmt, hauptsächlich aus Berlin. Dort hatte sich offenbar herumgesprochen, dass es hier eine idyllische kleine Stadt in herrlicher Umgebung gab. Tiefe Wälder mit versteckten kleinen Seen und Teichen, direkt in Rothberg konnte man an der Uferpromenade auf das größte Gewässer der Gegend blicken, den Rothbergsee. Nach der Wende hatten sich hier in rasantem Tempo etliche Cafés und zwei Bootsverleihe etabliert, die im Sommer hervorragende Umsätze erzielten.
Die Männer, die das Hotel Mühle im Auge behielten, saßen in der Sonne wie jedermann, der an einem Sommernachmittag nichts zu tun hatte. Es gab keine konkreten Hinweise auf einen etwa geplanten Anschlag, aber General Claim stand auf der Liste der zu schützenden Personen. Es waren vier deutsche und vier amerikanische Männer im Einsatz, die ein ruhiges, erholsames Wochenende erwarteten, aufmerksam, aber nicht alarmiert. Es war ein Routineeinsatz, dachten sie.
Sie hatten reichlich Zeit, bis sie die Überwachung des Generals übernehmen mussten, denn die Ankunft hatte sich erneut verzögert, seine Sitzung dauerte noch an.
5
Als der instandgesetzte Wagen sich wieder in die Autobahn einfädelte, fühlten sich beide besser. Sonnige Hügel formten einen sanften Horizont, dazwischen verlor sich das ebene Band der Fahrbahn. Sattes Grün der Wälder und frisches Weiß vereinzelter Bauernhöfe wechselten mit dem hellbraunen Wogen der Getreidefelder. Marina hatte eine CD eingelegt und ließ ihre reine Silberstimme im Duett mit Bob Marley erklingen: Is this love, is this love, is this love that I´m feeling?
Robert schätzte, dass sie gegen halb drei in Rothberg ankommen würden. Das Mittagessen wollten sie aufgrund der Panne, die viel Zeit gekostet hatte, ausfallen lassen. "Hast du noch was zum Knabbern da?" fragte er.
"Ja, Kekse in der Tüte auf der Rückbank." Marina drehte sich um. Der Rücksitz war leer. "Wo hast du sie hingetan?" fragte sie.
"Ich hatte sie nicht. Sicher ist sie runtergefallen. Sie lag doch neben deiner Handtasche."
"Die ist auch weg."
Abrupt bremste Robert, nahm die Kurve zu einem Parkplatz mit hoher Geschwindigkeit und quietschenden Reifen.
"Die Handtasche ist weg? Was war drin?"
Vergeblich fuhr seine Hand unter die Sitze. Keine Tasche oder Tüte war im Wagen. Nur ein längst vergessener Kugelschreiber kam unter dem Fahrersitz zum Vorschein.
"Geld, Schlüssel, Führerschein, Ausweis..." zählte Marina auf. "Als wir in die Werkstatt fuhren, lag sie noch dort. Wir müssen zurück!"
"Dann kommen wir ja heute überhaupt nicht mehr an! Außerdem hat der Mann hinter uns abgeschlossen, die Werkstatt ist zu. Wir können frühestens am Montag dort anrufen, ob sie gefunden wurde." Finster schaute Robert seine Frau an. "Pass doch mal endlich besser auf deine Sachen auf!"
Marinas Augen wurden feucht. Die Mundwinkel zuckten. Sie sagte nichts mehr, blickte nur hin und wieder Robert an, der starr auf die Straße sah, die Lippen zusammengepresst, stumm auch er.
Schließlich stiegen sie vor dem Hotel Mühle in Rothberg aus dem Wagen.
Die Uhr über dem Rezeptionsschalter zeigte 15 Uhr. "Es tut mir wirklich leid, Sie hätten vorher anrufen und reservieren sollen", bedauerte der freundliche Empfangschef. "Wir haben eine Reisegruppe im Hotel, es ist kein einziges Zimmer mehr frei."
In der Halle herrschte reges Kommen und Gehen, aus der Bar hörten sie fröhliches Stimmengewirr.
"Aber das ist uns ja bei Ihnen noch nie passiert. Es muss ja nicht unser Lieblingszimmer sein." Robert musterte das Schlüsselbrett. "Bei Nummer 24 hängen doch zwei Schlüssel, ist das wirklich auch belegt?"
"Ja, 24 ist reserviert. Die Gäste wollten zwar schon zum Mittagessen eintreffen, aber da sie nicht abgesagt haben, muss ich das Zimmer freihalten. Leider."
"Ach, bitte, könnten Sie nicht bei den Gästen anrufen und fragen, ob sie wirklich noch kommen? Ich bin so müde und durstig." bat Marina.
"Nun gut, ich werde es versuchen, weil Sie beide Stammgäste bei uns sind." Der Mann blätterte in seinen Unterlagen, dann wählte er, die Nummer las er von einem Blatt ab.
"Guten Tag, Hotel Mühle in Rothberg", sagte er. "Ich möchte nachfragen, ob -" Er lauschte kurz. Dann fuhr er fort: "Sorry, this is the Hotel Mühle in Rothberg. Did you ask us for a reservation? Yes, the room is still available, but there are people, who are looking for a place to stay..."
Er unterhielt sich einige Minuten mit seinem Gesprächspartner und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
"Leider, es geht nicht. Die Gäste kommen noch."
Marina und Robert standen wieder auf dem Parkplatz vor dem Hotel und betrachteten den Himmel. Da wuchs das eben noch weißlich helle Schimmern zu einer grauen, bedrohlichen Wolkenwand. Die Luft war drückend schwül, das Atmen wurde zur Last. Robert sah Marina an. Sie wirkte verwirrt und erschöpft. Beiden würde eine Dusche und ein kaltes Getränk sehr gut tun.
"Alles läuft heute schief." sagte er.
Marina blickte auf. "Es scheint, als wären wir besser nicht gefahren. Du, Robert, ich glaube, wir haben etwas falsch gemacht."
"Nein, Schatz, lass mal. Wir suchen uns ein anderes Hotel, und dann vergessen wir den ganzen Ärger. Nur nicht entmutigen lassen." Er machte eine Pause. "Tut mir leid, wegen vorhin. Du kannst ja nichts dafür, dass die Tasche weg ist. Entschuldige bitte, dass ich dich angeschrieen habe."
Marina legte ihren Arm um ihn und antwortete leise: "Ist okay, ich bin dir nicht böse. Wir haben wohl heute beide nicht die besten Nerven. Komm, lass uns weiterfahren."
Langsam gingen sie Arm in Arm zu ihrem Wagen. Ein Routinefoto von ihnen reihte sich zu den anderen, die der Mann in dem unauffälligen Wagen von allen Personen füllte, die heute im Hotel aus und eingingen. Sie wurden jeweils sofort an den Zentralcomputer übertragen. Die Wolkenwand wurde schwarz und rückte näher.
Als sie zehn Minuten gefahren waren, entdeckte Marina ein Schild am Straßenrand, an der Einmündung einer ungeteerten Fahrspur, die in ein Waldstück führte. Zimmer frei - Pension Seeblick lud die Inschrift ein.
Robert lenkte in den unbefestigten Weg, auf dessen Mitte ein kümmerlicher Streifen Pflanzen eine graugrüne Linie zog. Hinter ihnen wirbelte der Staub zu großen Wolken auf, die zitternd in der regungslosen Schwüle hingen und sich nur zögernd wieder senken wollten.
Sie fuhren in den Wald hinein, gleichzeitig verdeckten die Gewitterwolken die Sonne. Die Gegend war tot. Kein Zeichen ausgelassener Betriebsamkeit von sommerlich gestimmten Feriengästen, unbewegt standen die Bäume und Sträucher. Mit Schwärze drohte der Wald rechts und links des Weges. In unzähligen Kurven folgte der Wagen langsam der Fahrspur, die schließlich an einem grauen, zweistöckigen Gebäude endete.
Auch hier kein Zeichen des Lebens, keine Autos auf der Lichtung, alle Fenster geschlossen. Hinter dem Haus sahen sie den kleinen See, dem die Pension ihren Namen verdankte. Still, schwarz, lag er da. Kein Laut war zu hören, als sie aus dem Wagen stiegen. Marina wünschte, wenigstens das Summen von Insekten, den Ruf eines einzigen Vogels zu hören. Nichts.
Zögernd gingen sie durch den trockenen Staub auf die Pension zu.
"Ich will hier weg, Robert, ich will nach Hause. Komm, bitte, ich habe Angst hier. Lass uns wegfahren."
Schwer und unnatürlich laut in der absoluten Stille platschten die ersten Tropfen auf den vertrockneten Lehm, jeder von ihnen malte ein dunkles Loch in den Staub. Wie Einschüsse, dachte Robert. Mit einem Muster von dunklen Kreisen überzog sich auch der See, die Ringe bekämpften, überlagerten und verdrängten einander.
Robert rüttelte an der schweren Tür und stellte fest, was sie schon wussten: "Zu. Kein Mensch da. Komm, wir versuchen es hinten am Haus."
Marina wollte weg, zurück, aber sie schloss sich ihrem Mann an, als der um die Hausecke verschwand. Sie wollte nicht allein sein, nicht hier.
Dicht an der Fassade umrundeten sie das verwitterte Gebäude, sahen in jedes Fenster. Leer und verfallen waren die Räume, soweit man etwas durch die schmutzigen Scheiben erkennen konnte.
Aus den Tropfen wurden Sturzbäche, erbarmungslos peitschte das Wasser auf sie herab.
Robert hob einen großen Stein auf und zerschlug eines der rückwärtigen Fenster. In das Klirren knallte ein Donnerschlag, der ihre Ohren schmerzen ließ. Robert fingerte nach dem Griff im Inneren, öffnete den Rahmen und stieß sich vom Boden ab, um in den Raum zu steigen. "Ich will hier weg!" schrie Marina, aber ein neues Donnern machte ihre Worte unhörbar.
Robert beugte sich aus dem Fenster und zog seine Frau über die Brüstung in die Pension.
Das Zucken der Blitze zeigte Momentaufnahmen des Verfalls. Leer das Zimmer, Staub auf dem Boden, die Tapete fleckig, verschimmelt, sie löste sich an vielen Stellen vom feuchten Mauerwerk. Die Tür war angelehnt, sie führte in einen dunklen Flur. Am Ende des Ganges flammte ein gleißendes Rechteck bei jedem neuen Blitz. Sie tasteten sich auf die Glastüre zu und standen in einem großen Raum, der früher die Eingangshalle gewesen sein musste. Zwei zerschlissene Ledersofas standen in einer Ecke, dazwischen ein Glastisch, dessen Platte gesprungen war. Der Boden war mit Filzfliesen belegt, die sich wellten und feucht moderten. Es roch muffig und war kalt, trotz der Hitze des Tages. Marina fröstelte in dem nassen Kleid, das ihr am Körper klebte.
"Du musst dich abtrocknen", meinte Robert. "Ich hole unseren Koffer aus dem Auto."
"Aber der Regen..."
"Ich bin sowieso nass bis auf die Haut, schlimmer wird es nicht."
Er ging den Weg zurück zum zerschlagenen Fenster, schwang sich hinaus und rannte zum Wagen, vom Regen gepeitscht, die Sandalen sanken tief in den glitschigen Lehm. Der Donner knallte in seinen Ohren, Blitze blendeten seine Augen. Er griff nach dem Koffer und rannte zurück zum Haus.
Als er wieder in die Halle trat, zog Marina ihre nasse Kleidung aus. Zitternd schaute sie aus dem Fenster, das den Blick auf das Toben des Gewittersturmes freigab. Robert reichte ihr ein Handtuch und ihren Bademantel, dann schlüpfte er aus dem nassen Hemd und den triefenden Hosen. Er legte seine Sachen neben Marinas Kleid und Wäsche auf das eine Sofa und rieb sich mit seinem Badetuch trocken. Dann kuschelten sie sich eng aneinander auf das zweite Sofa und beobachteten das Wüten der Natur. Im grellen Schein der Blitze tanzten die hohen Bäume einen Götzenreigen um das Haus auf der Lichtung, immer wieder zuckten Marina und Robert zusammen, wenn ein Donnerschlag den Ernst des Aufruhrs bekräftigte. Immer enger rückten sie zusammen, schließlich vergaßen sie über ihrer Liebe das Gewitter und ihre seltsame Lage in der verlassenen Pension Seeblick. Es war immerhin ihr Hochzeitstag.
6
Um 19.30 herrschte im Restaurant des Hotels Mühle Hochbetrieb. Das Unwetter hatte die Flanierenden in die Restaurants und Cafés getrieben, alle Tische waren besetzt mir hungrigen Gästen.
Die beiden Kellner hatten alle Hände voll zu tun, um den ungeduldig Wartenden ihre Wünsche zu erfüllen. Ein junges Paar war eben aufgestanden und verließ das Lokal. Der Tisch musste abgeräumt werden, schon warteten zwei neue Kunden auf die Speisekarte.
Immer wieder wurden die Kellner gefragt, ob der reservierte Tisch am Fenster zu haben sei, aber der war eben seit 19.00 Uhr für den amerikanischen General und seine Gattin belegt, die inzwischen auf der Autobahn in Richtung Rothberg unterwegs waren.
En kleiner Junge stieß versehentlich seine Fanta um und weinte, weil sein kostbares Getränk über die Tischdecke und auf den weichen Teppich lief. Die Mutter rief dem Kellner zu, man brauche einen Lappen und eine neue Fanta. Er nickte freundlich. Das Kind beruhigte sich wieder, da es nun Aussicht auf ein volles Glas hatte. Aber es kam nicht mehr dazu, davon zu trinken. Es trank nie wieder etwas.
Ein kleines Mädchen, etwa sieben Jahre alt, wartete an der Theke, um eine Flasche Cola für ihren kranken Bruder zu kaufen. Ihr kräftiges, braunes Haar wurde von einer blauen Schleife zu einem Pferdeschwanz gebändigt, ihre zarte Gestalt erinnerte unwillkürlich an eine junge Gazelle oder ein schlankes Reh. Geduldig wiederholte sie ihren Wunsch zum dritten Mal, als der Kellner in die Nähe kam. "Gleich, Simone!" versprach er und griff in das Kühlregal. Er reichte ihr die Flasche und nahm das Geld entgegen. "Grüß Egon von mir, und wünsche ihm gute Besserung."
"Danke." sagte Simone und wandte sich zum Gehen.
Mit einem grellen Blitz, der das Gewitter ausstach und ohrenbetäubendem Krachen explodierte der Speisesaal. Ein mit irrsinniger Wucht fliegender Splitter durchbohrte die Brust des durstigen Jungen, der seine neue Fanta noch nicht bekommen hatte. Der abgerissene Arm einer alten Dame traf ihn am Kopf, aber das spürte er nicht mehr, genauso, wie die Dame den Verlust nicht mehr bemerkte.
Simone hatte es nicht mehr ganz bis zur Tür geschafft. Ihr Bruder würde seine Cola nicht bekommen. Simone wurde von der Detonation in Stücke gerissen.
Die Druckwelle zerstörte Scheiben in einem großen Radius, das Hotelgebäude selbst zögerte einen Augenblick, bevor die Mauern zum Teil zusammenfielen. In der folgenden Stille hörte man nur das leise Knistern eines hungrigen kleinen Feuers, das sich seinen Weg nach mehr Nahrung suchte.
"Verdammte Scheiße!" flüsterte der Mann am Steuer des grauen Wagens. Das Auto hatte in der Druckwelle einen Satz rückwärts gemacht, sein Kollege hatte sich dabei den Kopf gestoßen. Er hielt die Kamera in der Hand und starrte auf den Trümmerhaufen, in dem die beiden amerikanischen Kollegen oder das, was von ihnen übrig sein mochte, lagen. Er drückte den Knopf an seinem Funkgerät und wiederholte für die Einsatzzentrale laut und deutlich: "Verdammte Scheiße."
7
"Stehen Sie langsam auf und gehen Sie mit erhobenen Händen zur Wand!" befahl eine harte Stimme.
Erschrocken riss Marina die Augen auf, schloss sie sofort wieder, geblendet vom gleißenden Licht, das auf sie gerichtet war. Robert blinzelte gegen die Helligkeit an, versuchte, die Gestalten zu erkennen, deren Handscheinwerfer auf sie gerichtet waren.
"Was wollen Sie? Wer sind Sie? Wir sind nur vor dem Regen in das Haus..."
"Polizei. Gehen Sie jetzt langsam mit erhobenen Händen zur Wand!"
"Aber was ist denn, das Fenster bezahle ich natürlich..."
"Schluss jetzt! Aufstehen!" unterbrach ihn die unerbittliche Stimme. Einer der Lichtkegel zeigte ihnen eine Gruppe von olivgrün vermummten Gestalten, schwarzglänzende, lehmtriefende Lederstiefel, geschlossene Helme, schwere Waffen in den Händen. Auch durch die Fenster drang jetzt helles Licht, aber es war nicht die Sonne. Schritte von schweren Stiefeln und das Quäken und Piepsen aus Funkgeräten vermischte sich mit dem grollenden Brummen kräftiger Motoren. Da draußen schien eine Armee aufzumarschieren.
"Ich verstehe das nicht..." sagte Marina, aber sie standen auf und gingen langsam zur Wand, verfolgt von den Fingern der Stableuchten, die aus ihren Schatten tanzende Kobolde machten. Robert wollte nach Marinas Hand greifen, aber die Stimme herrschte ihn an: "Auseinander! Hände nach oben! Gesicht zur Mauer."
Hinter sich hörten sie, wie jemand den Koffer öffnete, die Sofas wurden weggerückt, die Glasplatte des Tisches ging endgültig zu Bruch.
Gut, sie können sich umdrehen, die Hände bleiben oben!"
Sie gehorchten, hatten keine Möglichkeit, ihre Nacktheit vor den Blicken der Eindringlinge zu verbergen. Die Bademäntel lagen vor dem Sofa am Boden. Zwei Polizisten traten ins Licht, suchten aus dem Haufen, der aus dem Koffer geschüttet worden war, einige Kleidungsstücke und warfen sie Robert und Marina zu.
"Ziehen Sie sich das an."
Marina weinte, aber Robert durfte sie nicht trösten. Wenn doch nur der Alptraum ein Ende nähme. Ich will aufwachen, das kann nicht wahr sein.
"Frau Haube, Sie und ihr Begleiter sind vorläufig festgenommen", sagte der Polizist, der sie geweckt hatte.
"Aber ich bin nicht Frau Haube. Ich heiße Marina Rösch, und das ist mein Mann, Robert Rösch. Sie verwechseln uns."
"Dann verwechseln wir auch Ihr Versteck?" Der Beamte verzog seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen. "Dann haben die Herrschaften auch nichts mit dem Attentat zu tun? Lassen Sie den Unsinn, ziehen Sie sich fertig an, dann kommen Sie mit! Das Spiel ist aus."
Robert zog es angesichts der drohenden Waffen und der aggressiven Stimmung vor, einstweilen nicht zu protestieren. Der Irrtum würde sich schnell klären. Attentat? Was für ein Attentat?
Sie schlüpften in die Kleider, bekamen Handschellen angelegt und folgten dem Polizisten durch den Flur, dicht gefolgt von den vermummten Schützen mit den Waffen in den Händen. Aber es ging noch nicht zum Ausgang. Sie wurden eine Treppe hinuntergeführt. In einem Kellerraum lagen Matratzen, Essensreste, Kerzen, Streichhölzer verstreut. Eine der Wände war aufgebrochen, drei Polizisten waren damit beschäftigt, Waffen und Munition aus dem Hohlraum dahinter hervorzuholen.
"Gibt es im Haus noch mehr Verstecke?" wollte der Polizist wissen.
Robert zwang sich zur Ruhe. "Das weiß ich nicht. Wir sind vom Regen überrascht worden, in dieses Haus eingedrungen, um einen Unterschlupf zu finden. Wir waren auf Zimmersuche. Bitte, fragen Sie im Hotel Mühle, dort hat man uns am Nachmittag abgewiesen, weil nichts mehr frei war, die Leute dort kennen uns."
"Und wen soll ich dort wohl fragen?" schrie der Polizist Robert an. "Wen? Sie haben ganze Arbeit geleistet! Soll ich die achtundsechzig Leichen fragen, die da liegen? Ja?"
Robert war vor den Kopf geschlagen und fand keine Antwort.
"Aber den General habt ihr nicht erwischt! Der kam erst später nach Rothberg, achtundsechzig unschuldige Menschen habt ihr umsonst umgebracht. Schweine!"
Marina liefen die Tränen über das Gesicht. "Mein Gott! Damit haben wir nichts zu tun. Es ist nicht wahr." Sie zitterte vor Entsetzen, konnte wegen der Handschellen die Tränen nicht fortwischen.
Der Beamte bezwang seine Wut und wurde wieder ruhiger. "Frau Haube, Sie sind beobachtet worden, als Sie das Hotel betraten und verließen. Zwei Zeugen haben Ihren Wagen hierher abbiegen sehen. Wir hatten allenfalls damit gerechnet, dass Sie zum Hotel zurückkehren würden, wenn der General da sein würde. Das war unser Fehler. Und dass wir Sie zu spät identifizieren konnten. Wir haben nicht geahnt, dass Sie das ganze Hotel in die Luft sprengen würden."
Er wandte sich an Robert. "Wer Sie sind, wissen wir noch nicht, aber Frau Haube ist aufgrund der Fahndungsfotos identifiziert. Leugnen ist zwecklos, es ist besser, Sie sagen uns jetzt die Wahrheit."
"Meine Papiere sind im Handschuhfach des Autos. Ich bin Robert Rösch, aus Berlin, Modefotograf, das ist meine Frau Marina."
"Ihr Fahrzeug wird bereits zur Untersuchung gebracht. Wir werden ja sehen, wer Sie sind. Jetzt kommen Sie beide mit."
Von den vermummten Bewaffneten wurden sie zu zwei verschiedenen Polizeifahrzeugen gebracht. Das Gebäude und die nähere Umgebung waren von zahlreichen Scheinwerferbatterien angestrahlt, da standen gepanzerte Fahrzeuge der Polizei, eine Feuerwehr, zwei Notarztwagen und etliche Mannschaftstransporter. Der Regen war versiegt, Dieselgestank überlagerte die Frische der vom Gewitter gereinigten Luft.
Eingezwängt zwischen zwei Polizisten, einen dritten mit gezogener Waffe direkt gegenüber, saß Robert im VW-Bus und versuchte, durch das vergitterte Fenster etwas zu erkennen. Gespenstisch sprangen die Bäume im kreisenden Schein der Blaulichter hin und her, die Wagenkolonne schlingerte mit erheblichem Tempo über den aufgeweichten Waldweg.
Als sie Rothberg erreichten, erkannte Robert einige Geschäfte, in denen sie schon gebummelt hatten, die Sparkasse, die Kirche, in der sie nie gewesen waren.
Sie näherten sich der Uferpromenade und dem Hotel Mühle. Der Konvoi fuhr langsamer, die Straße war von bewaffneten Polizeikräften abgeriegelt. Hunderte von Schaulustigen drängten sich an den Absperrgittern und versuchten, einen Blick auf die vermeintliche Sensation zu werfen.
Vom Hotel war nicht viel übriggeblieben. Ausgebrannte Autos standen vor der zerstörten Fassade, ein Teil des Daches war eingestürzt. Beißender Qualm drang aus den Trümmern bis in die langsam vorbeifahrenden Fahrzeuge. Zugedeckte Bündel lagen am Straßenrand. Man konnte ahnen, was sie verbargen. Zwei Feuerwehrmänner brachten gerade ein Kind aus der Ruine, ein Arm fehlte, die toten Augen starrten anklagend in die Nacht.
"Ihre Opfer!" knurrte der Polizist mit der Waffe. "Man sollte gar nicht so lange fackeln, Rübe ab und fertig."
"Halt den Mund!" sagte ein anderer Beamter.
Robert holte tief Luft. Er hatte Angst. Angst davor, was noch auf ihn und Marina warten mochte. Angst vor den Polizisten, die ihre grenzenlose Wut kaum verbargen. Angst vor der Waffe, die schussbereit auf ihn gerichtet war.
Er hatte Verständnis für die Polizisten, sah ja mit eigenen Augen, was passiert war. Und diese Männer hielten ihn und seine Frau für die Mörder. Wie waren sie nur darauf gekommen? Frau Haube hatte man Marina genannt. Sah Marina der Gesuchten tatsächlich so ähnlich? Wie lange mochte es dauern, bis solch ein Irrtum aufgeklärt war? Man würde die Ausweise überprüfen und dann -
Robert zuckte zusammen. Marina hatte keinen Ausweis. Der war mitsamt der Handtasche in Magdeburg verschwunden. Sie konnte ihre Identität nicht nachweisen.
8
Auch Marina starrte aus dem Fenster, als ihr Bus langsam am Ort des Attentats vorbeifuhr. "Dass Menschen so etwas tun..." murmelte sie weinend. "Schrecklich. So viele Leichen..."
Ihre Bewacher sahen sie finster an. "Tut es dir jetzt leid, du Schlampe? Kommt zu spät, die Reue! Wird nichts mehr nützen."
"Aber wir haben doch nichts damit zu tun! Glauben Sie mir doch. Ich bin nicht ihre Frau Haube!"
Der Polizist rechts von ihr verlor die Geduld. "Tu nicht so unschuldig, du Stück Scheiße!" schrie er sie an. "Sonst rutscht mir gleich der Zeigefinger aus, Fluchtversuch!" Er rammte ihr die Waffe in die Rippen. Ein grässlicher Schmerz durchzuckte sie, aber sie sagte nichts mehr. Die bringen mich gleich um, dachte sie, die bringen mich um.
Die Fahrzeuge hielten vor der Wache. Auch hier war der Zugang in weitem Kreis abgesperrt, der Platz hell erleuchtet. Scharfschützen standen bereit. Roberts Blick fiel auf die Uhr über dem Eingang. Es war kurz nach Drei, sie mussten mehrere Stunden in der verlassenen Pension geschlafen haben.
Er beobachtete, wie Marina in das Revier gebracht wurde, umringt von den Bewaffneten, die nervös um sich blickten. Erwarteten sie eine Befreiungsaktion? Als sie durch die Tür verschwunden waren, nahm man ihn in die Mitte und drängte ihn hastig ins Haus.
Er wurde in ein kleines Zimmer gebracht, ein Schreibtisch, zwei Holzstühle und ein Aktenschrank bildeten die karge Ausstattung. Es gab kein Fenster. Robert setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, nachdem man ihm die Handfesseln abgenommen hatte. Zwei Polizisten postierten sich an der Tür, stumm, bedrohlich, die Waffen in den Händen. Sie würden kein Risiko eingehen.
Zweiundzwanzig endlose Minuten dauerte das Warten, nichts war zu hören als das Atmen der drei Männer und das Summen der Leuchtstoffröhren an der Decke, Robert wagte sich kaum zu bewegen, befragte nur dauernd die Uhr, die an der Wand hing, zählte die zähe Zeit.
Der Mann, der schließlich durch die Tür kam, war ungefähr fünfzig Jahre alt. Seine hellen Augen blickten Robert aufmerksam durch die spiegelnden Gläser seiner goldgefassten Brille an. Er trug einen korrekt sitzenden Anzug mit Weste, die Schuhe poliert, in der Hand trug er einen dünnen Hefter aus roter Pappe. Er setzte sich Robert gegenüber an den Tisch, entnahm der Schublade einen Bleistift und einen Notizblock, richtete beides akkurat parallel zur Tischkante aus, öffnete die Akte und begann:
"Guten Morgen. Mein Name ist Schöffler, ich leite die Ermittlungen und habe die Aufgabe, Sie zunächst zu befragen. Falls Sie sich nicht äußern wollen oder einen Anwalt hinzuzuziehen wünschen, teilen Sie mir das bitte jetzt mit."
Er sprach mit beinahe freundlicher, warmer Stimme, schaute Robert während seiner Worte unentwegt in die Augen. Sein Blick verriet, dass er nicht daran zweifelte, einem Mörder gegenüberzusitzen. "Wenn Sie jetzt mit mir sprechen," fuhr er fort, "mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich Ihre Worte auf Tonband aufnehmen und protokollieren werde."
"Ich kenne keinen Anwalt in Rothberg. Ich denke, dass ich auch keinen brauchen werde. Wir haben mit dem Anschlag auf das Hotel nichts zu tun, es handelt sich um eine Verwechslung."
"Sie möchten also jetzt aussagen?"
"Ja, je eher das hier vorbei ist, desto besser. Marina, meine Frau, verträgt es nicht, eingesperrt zu sein, sogar in Aufzügen hat sie manchmal Angst. Wo ist sie? Kann ich zu ihr?"
Schöffler antwortete nicht. Er entnahm dem Schrank einen Kassettenrecorder, ein Mikrophon und eine Anschlussleitung. Umständlich, aber präzise als folge er einer gedruckten Gebrauchsanweisung in seinem Kopf, baute er die Anlage auf, drückte auf Aufnahme und Start, vergewisserte sich, dass die Kassette lief und fragte Robert dann zunächst nach seinen Personalien, die er mit den Angaben auf dem Ausweis verglich, den er der Akte entnommen hatte.
"Seit wann kennen Sie Frau Haube?", fragte er anschließend.
Robert schüttelte den Kopf. "Das ist nicht Frau Haube, bei mir war meine Frau, Marina Rösch, geborene Seiters. Wir sind seit drei Jahren verheiratet, auf den Tag genau. Ich bin Modefotograf, sie ist Lehrerin an einer Grundschule."
Ohne darauf einzugehen, blätterte Schöffler in seinem Ordner. "Sie waren mit ihrer Begleiterin gestern um circa 15 Uhr im Hotel Mühle hier in Rothberg. Wie lange haben Sie sich im Hotel aufgehalten?"
"Etwa zehn Minuten. Es war kein Zimmer mehr frei, das heißt, das einzige noch freie Zimmer war reserviert. Der Empfangschef hat freundlicherweise telefoniert, ob wir das Zimmer bekommen könnten, aber er stellte fest, dass die Gäste noch eintreffen würden."
Der Beamte zog ein sauber gefaltetes und gebügeltes Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn, befeuchtete mit der Zunge die Lippen.
"Hat der Hotelangestellte Ihnen mitgeteilt, um wie viel Uhr General Claim und seine Gattin erwartet wurden?"
"Er hat gar keine Namen genannt, er sagte nur, die Gäste würden noch kommen. Also sind wir gegangen, um ein anderes Quartier zu suchen."
"Der General war wegen einer verlängerten Sitzung noch auf dem Weg nach Rothberg. Die Bombe im Speisesaal explodierte exakt um 19.37 Uhr. Herr Rösch, sind Sie direkt vom Hotel zu Ihrem Versteck am Waldsee gefahren?"
"Glauben Sie mir doch, Herr Schöffler." Robert versuchte, genauso ruhig zu bleiben, wie der Beamte. "Wir wollten, wie schon oft vorher, ein ruhiges Wochenende in Rothberg verbringen. Das Hotel war ausgebucht. Also sind wir weitergefahren. Meine Frau hat dann das Schild entdeckt, das die Pension ankündigte. Wäre nicht das Gewitter losgebrochen, als wir an dem Gebäude waren, hätte ich nicht die Scheibe eingeschlagen, um einzudringen. Wir wollten nur abwarten, bis das Unwetter nachließ. Aber dann sind wir eingeschlafen, es war ein anstrengender Tag, wir hatten eine Autopanne, Marinas Handtasche wurde gestohlen. Wenn ich geahnt hätte, was auf uns zukommt, wären wir im Auto geblieben oder weitergefahren. Bitte, glauben Sie mir."
Schöffler wischte wieder die schweißnasse Stirn. "Es geht hier nicht darum, was ich glaube, sondern um Ihre Aussagen und die Tatsachen. Unsere Mitarbeiter sind dabei, Ihre Identität zu überprüfen. Bis das geschehen ist, muss ich Sie hier behalten."
Er schaltete das Gerät aus und Robert wurde in eine Zelle gebracht.
9
Marina saß auf ihrer harten Pritsche und sann nach über den vergangenen Tag und die grässliche Nacht. Hätte ich, wären wir, wenn doch nur... Natürlich wäre alles anders gekommen, wenn dieses und jenes nicht geschehen wäre. Ein Zitat aus der Rocky Horror Picture Show kreiste ständig in ihren Gedanken: If only the car hadn´t broken down...
Habe ich die Lage verschuldet, in der wir sind? Kann Robert etwas dafür? Robert! Wo ist er? Werden sie ihm glauben, holt er mich hier heraus? Es ist so eng hier, ich bin eingesperrt.
Trotz ihrer bleiernen Müdigkeit fand sie keinen Schlaf. Die Zelle war in helles Licht getaucht; wenn sie die Augen schloss, sah sie die zerfetzten Körper am Straßenrand, die rauchenden Trümmer, das böse Gesicht des Polizisten ihr gegenüber, die drohende Mündung der Waffe. Da hatten tote Kinder gelegen, sie sah die eine Leiche vor sich, der Arm abgetrennt, die blicklosen Augen weit aufgerissen, die veilchenblaue Schleife, die noch immer die buschige Haarpracht bändigte.
Marina übergab sich. Bitterer Geschmack blieb in ihrer Kehle zurück, hin und her, hin und her lief sie. Immer wieder krampfte sie sich zusammen, würgte, Schweiß rann über ihre Stirn in die Augen, sie brannten, gerötet, verweint.
Die Wände rückten näher, das bedrohliche Auge des Türspions durchleuchtete sie. Nackt, ausgeliefert, klein, zerbrochen fühlte sie sich. Sie schrie, sie weinte, sie würgte. Das T-Shirt war getränkt von ihrem Schweiß, ihre Knie gaben nach und sie sank wieder auf das metallene Bettgestell.
Marina machte sich so klein wie möglich, ihre bebenden Hände umschlossen die zitternden Knöchel. "Ich muss hier raus, bitte, hört mich doch, ich muss hier sofort raus", wimmerte sie. Der Kopf sank auf das Lager, das zerwühlte, nasse Haar ergoss sich über das graue Tuch der Wolldecke. Niemand kam, um sie zu befreien.
10
Als der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, stand Robert auf. Jedes Mal war er aufgesprungen, wenn er auf dem Gang Schritte gehört hatte, nie hatten sie ihm gegolten. Aber nun stand Schöffler mit zwei Uniformierten vor ihm und bat ihn höflich, mitzukommen. Er sah übernächtigt aus, die hellen Augen hinter den Gläsern blickten müde.
"Wo ist meine Frau? Kann ich sie sehen?" rief Robert.
"Bitte folgen Sie mir, alles weitere werden wir später entscheiden."
Die Wanduhr klärte Robert auf, dass es 9 Uhr war. Er setzte sich wieder auf den Holzstuhl. Die Tür ging auf und eine Stimme sagte: "Jawohl, das ist Herr Rösch aus Berlin."
Erstaunt blickte Robert auf und erkannte seinen Nachbarn, einen pensionierten Staatsanwalt. "Guten Tag, Herr Rösch. Man hat mich in aller Frühe gebeten, hierher zu kommen, um Sie zu identifizieren. Wo ist ihre Gattin?"
"Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Es ist unglaublich, was wir erlebt haben. Marina ist -"
Fragend sah er Schöffler an. Der gab einem Polizisten einen Wink, die Beamten hatten noch immer Waffen in den Händen. Kurz darauf kam dieser mit Marina zurück. Robert schloss sie in die Arme, fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Sie war bleich, roch nach Erbrochenem und Schweiß und zitterte. Aber es störte ihn nicht.
"Ja, das ist Frau Rösch. Zweifelsfrei."
Auch Schöffler wirkte erleichtert. "Es tut mir aufrichtig leid, dass wir Sie in diese Unannehmlichkeiten verwickeln mussten. Aber sie schienen mit großer Wahrscheinlichkeit die Attentäter zu sein. Die Ähnlichkeit mit Frau Haube..."
"Darf ich jetzt hier raus? Bitte?" bat Marina.
Schöffler nickte freundlich. "Es kann sein, dass wir Sie nochmals als Zeugen brauchen. Aber jetzt können Sie in wenigen Minuten gehen. Ihr Wagen steht auf dem Hof, ich muss nur vorher noch den Beamten draußen..."
Sie hörte nicht mehr zu. Sie riss sich von Robert los und rannte aus dem Zimmer. Nur ein Gedanke beherrschte sie noch: Raus, raus, schnell raus aus den engen Mauern, raus!
Schöffler sprang auf und hastete hinter ihr her. "Halt!" schrie er, "Halt! Warten Sie, ich muss doch erst noch die Scharfschützen - mein Gott, warten Sie!" Seine Stimme überschlug sich.
Marina hörte nichts. Sie stürzte den Gang hinunter, riss die Türe auf, sprang in das gleißende Sonnenlicht, auf ihren Wagen zu.
"Nicht schießen!" schrie Schöfflers Stimme aus dem Flur. "Nicht -"
Gleichzeitig knallten zwei Schüsse durch den friedlichen Sonntagmorgen. Der Schütze auf dem Dach beobachtete zufrieden durch sein Zielfernrohr, wie sich Marinas Mund weit öffnete zu einem stummen Schrei, er sah den roten Fleck auf dem T-Shirt, der sich pulsierend rasch vergrößerte. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt. "Eine Terroristin weniger," murmelte er, "gut so."

Eingereicht am 03. März 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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