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Kurzgeschichten Krimi Spannung

Nebelmond

© Ingrid Kling


"So, fertig." Der Stuhl ächzt leicht, als Konrad sich setzt und seine Beine weit von sich streckt. "Die Blumenerde ist in der Laube. Der Axtstiel ist auch wieder fest." "Danke, bist ein guter Junge." Christine ist froh, ihren Sohn ein paar Momente um sich zu haben.
"Ach Ma, ich habe viel zu wenig Zeit für dich." Genüsslich kaut er eins von Mutters leckeren Plätzchen. "Meine Zwerge sehe ich auch nur noch im Bett und Rena schmollt, weil ich angeblich mit meiner Arbeit verheiratet bin." "Du musst doch nicht schon wieder los?", fragt Christine und stellt eine Tasse Kaffee vor ihren Sohn.
"Konnte ich mich Kaffeeduft je entziehen?" Konrad schenkt seiner Mutter ein langes, warmes Lächeln.
"Nun erzähl schon.", drängt Christine ihren Sohn, während sie sich zu ihm an den Küchentisch setzt. "Wie viele Verbrecher hast du heute gefangen?" Bereits ein Jahr leitet Konrad die Mordkommission von Kasted und seine Mutter sieht ihren Sohn immer gern in einer Reihe mit Sherlock Holmes und James Bond. Doch moderne Kriminalarbeit ist viel langweiliger.
Dabei ist heute wirklich etwas Besonderes passiert.
"Waldarbeiter haben Menschenknochen im Kastedter Forst freigelegt." Konrad hält für Sekunden inne, ehe er fast im Plauderton fortfährt. "In der Nähe der Fundstelle stieß die Spurensicherung auf eine alte Blechschachtel mit 8000 DM und einem Brief darin. Es hatte einige Stunden gedauert bis klar war, dass die Geldscheine aus den sechziger Jahren stammten. Sie sind jedoch auf keiner Fahndungsliste vermerkt und scheinen somit aus keiner Straftat zu resultieren." "Aha", ist der gesamte Kommentar seiner Mutter. Ihr Körper signalisiert jedoch Anspannung und ihre Augen kleben an Konrads Lippen.
"Das seltsamste Fundstück aber ist eine alte Skimütze." Diese Worte aus dem Mund ihres Sohnes lassen Christine aufspringen. Aber sie zwingt sich zu Gelassenheit und schenkt ihrem Sohn Kaffee nach.
Konrad rutscht auf dem Stuhl in eine andere Sitzposition. Eine tiefe Falte gräbt sich in seine hohe Stirn, als er sich zu seiner Mutter wendet. Er muss da durch, durch ihr warmes Lächeln, ihre großen grauen Augen, ihre kleinen nie rastenden Hände, die er plötzlich in seiner rauen Männerhand hält, als wolle er sie beschützen.
‚Jetzt, Konrad, frage sie jetzt!'
"Ma, kannst du dich noch an meine alte Mütze erinnern?" Christine schaut ihren Sohn etwas irritiert an.
"Ich habe dir in 40 Jahren wahrlich viele Mützen gestrickt. Worauf willst..." "Ich meine die mit meinem Namenszug.", fällt Konrad ihr heftig ins Wort, um Sekunden später etwas ruhiger fortzufahren. "Entschuldige. Du hast sie zu meiner Geburt gestrickt und nie jemandem erklärt, warum sie wie eine Skimütze aussah, nur kleiner. Erinnere dich, die riesige Bommel, der Namenszug. Ich trug sie fast auf jedem Foto." Die Farbe weicht aus Christines Gesicht. Die Lippen sind nur noch ein Strich und langsam rinnt eine Schweißperle von Christines Haaransatz herab.
Ruckartig entzieht sie Konrad ihre Hände. Sie steht auf, geht hinaus und kommt nach wenigen Minuten zurück mit einer alten Schachtel in den Händen.
Christine stellt die Schachtel ganz langsam auf den Tisch und holt eine blaue Babymütze heraus. Sanft streicheln ihre Finger das Garn, zeichnen den Namenszug nach.
"Meinst du diese Mütze?"
"Du hast sie all die Jahre aufgehoben?" Konrad ist erstaunt. Er steht auf, beugt sich über den Tisch und fährt mit erhobener Stimme fort: "Was war, was ist so wichtig an dieser Mütze? Sag es mir, Mutter, ich bitte dich." "Setzt dich hin, Junge, du bist hier nicht bei einem deiner Verhöre." Mit festem Blick zwingt Christine ihren Sohn auf seinen Platz zurück.
Irgendwann kommt alles ans Licht, irgendwann muss der Junge die Wahrheit erfahren. Warum nicht jetzt?
Christine streicht sich eine dünne Strähne ihres grauen Haares aus dem Gesicht und zieht dann die Schachtel dicht zu sich heran.
"Ich will dir eine Geschichte erzählen von einer Liebe, die im Nebelmond sterben musste und einem kleinen Jungen, der im Nebelmond empfangen wurde." Christine holt tief Luft und beginnt.
"Diese Schachtel ist das Vermächtnis deines Vaters. Ich habe darin alles aufbewahrt, was dir von ihm erzählen kann. Er hieß Konrad, wie du. Wir haben uns sehr geliebt. Wir wollten auch heiraten, irgendwann." Für einen Moment schweifen Ihre Gedanken zurück in der Zeit und suchen nach dem Glück ihrer Jugend. "Ich übte mich schon in der Rolle einer Hausfrau" , erzählt Christine mit schmunzelnden Mundwinkeln "und strickte ihm so allerlei, auch eine Skimütze mit seinem Namenszug und einer großen Bommel. Er sah sehr schick damit aus, ein fescher Kerl war dein Vater." Ein feuchter Schleier überzieht Christines Augen und macht ihre Stimme dünn. Die zitternden Finger verbirgt sie in der Schachtel und lässt sie ein Foto suchen. Für Sekunden gefriert die Zeit. Konrad sitzt starr und sieht das alte Bild. So oft hatte er nach seinem Vater gefragt und nie Antworten bekommen. Den Gedanken an die Knochen im Wald mag er nicht zu Ende denken.
Da nimmt Christine den Erzählfaden wieder auf.
"Eines Tages kamen Leute nach Kastedt, die das Klärwerk bauen sollten. Die Rita war auch dabei. Hat meinem Konrad schöne Augen gemacht. Ein ganzes Jahr ging das so. Dann zogen sie zur nächsten Baustelle." Christine sieht ihren Sohn an. So ernst hat sie ihn noch nie gesehen. Fremd kommt er ihr vor in diesem Moment. Dabei ist er das Ebenbild seines Vaters.
"Erzähl weiter, die ganze Geschichte.", ermahnt Konrad seine Mutter.
"Später kam ein Brief von dieser Rita. Ich habe ihn nie gelesen. Ich fand nur einen Ausschnitt aus einer Landkarte mit einem Kreuz im Kastedter Forst und einer kurzen Notiz. Warte, das muss auch hier sein…" Wieder suchen Christines Finger in der Vergangenheit und finden den vergilbten Rest einer alten Landkarte. Konrad nimmt das Papier und liest:
‚Triff mich unterm Nebelmond zur gewohnten Stunde. Ich hol dich ab, für immer. Rita.'
"Ja und?" Konrad ist voller Fragen und was er erfährt, scheint ihn zu zerreißen.
"Mit Nebelmond meinten wir damals den Vollmond im November. Ich konnte nicht zulassen, dass er geht. Nicht zu dieser Rita." Christines Stimme wird leiser. Ihre Hände liegen zitternd in ihrem Schoß, während sie fortfährt.
"In der Nacht vor dem Nebelmond habe ich mit deinem Vater geschlafen. Sex vor der Ehe war damals noch ein Sakrileg und ein großer Liebesbeweis zugleich. Ja, es war dumm. Ich wollte deinen Vater auf diese Weise halten.
Ihn habe ich in jener Nacht nicht bekommen, aber dich!" Christine sucht Konrads Hand. Nur noch schluchzend kommen die Worte.
"Ich war am nächsten Abend lange vor ihm am vereinbarten Punkt. Er durfte nicht gehen, nicht mit Rita. Ich habe mit ihm geredet, gebettelt und gefleht. Umsonst. Dein Vater wollte nur weg aus der Enge von Kastedt und Rita war der Schlüssel dazu. 8000 DM hatte er sich gespart. Die habe ich mit ihm und der Mütze unter dem Kreuz begraben, nachdem ich ihn mit diesem Nudelholz erschlagen hatte.
Konrad kann nicht atmen. Eisiger Schmerz schnürt seine Kehle zu. Nur mit größter Mühe versteht er die mit versiegender Stimme gesprochenen Worte seiner Mutter.
"In der Schachtel sind alle Antworten. Mein Geständnis liegt auch drin. Nach meinem Tod solltest du alles finden." Christine flüstert die Worte nur noch.
"Mutter, du weißt, dass Mord nie verjährt?" hört Konrad seine eigene Stimme.
Christine hält ein Bild in der Hand. Ihre Finger streicheln das vergilbte Papier und ein Lächeln belebt ihr eingefallenes Gesicht für Sekunden, während zarte Röte auf ihren Wangen an glückliche Zeiten erinnert.
"Mein Junge, ich habe deinen Vater sehr geliebt und dich noch viel mehr.
Jetzt ist meine Zeit gekommen. Vielleicht kannst du mich irgendwann verstehen und mir verzeihen." Christine sank mit den letzten Worten langsam in sich zusammen. Konrad erschrak und sprang auf, sie zu halten. Da fiel eine kleine Ampulle zu Boden und verströmte bittersüßen Mandelgeruch…

Eingereicht am 15. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.




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