Ein vernünftiger Mann
Von Agnes Jäggi
Karl Reisshaupt war bereit für Edwina. Ein Blick in den Spiegel sagte
ihm dasselbe. Das weiße volle Haar unterstrich die Bräune seines
kantigen Gesichts mit der markanten Nase. Der gepflegte Bart wies einige
graue Strähnen auf, die Augen leuchteten so blau wie ein makelloser
Himmel an einem heißen Sommertag. In einem teuren Modegeschäft hatte er
sich neu einkleiden lassen. Mit dem Friseurbesuch hatte er sich
besondere Mühe gegeben. Insgesamt zwanzig Salons hatte er aufgesucht.
Seine Wahl fiel schließlich auf einen exklusiven Friseurladen mitten in
der Stadt. Direkt gegenüber befand sich zufälligerweise ihr
Lieblingslokal. Viele Jahre lang hatte Karl seine Edwina in dieses
gediegene Restaurant ausgeführt. Hier hatten sie 37 Hochzeitstage
gefeiert, Geburtstage, Beförderungen, Edwinas abgeschlossenes
Psychologiestudium. Die Ehe war kinderlos geblieben. Karl hatte dies nie
bereut, bei Edwina war er sich nicht so sicher. Sie sprachen nur zu
Anfang ihrer Ehe darüber. Später rührte er nicht mehr an diesem Thema.
Er vergötterte Edwina. Er erinnerte sich, wie die hübsche Brünette am
Empfang gesessen hatte, als er sich in der Anwaltskanzlei beworben
hatte. "Ich habe einen Termin bei Herrn Bachelard", hatte er schüchtern
der jungen Frau mit dem herzförmigen Gesicht und den rehbraunen Augen
erklärt. Nach einem kühlen Blick auf Karl hatte sie den Hörer abgehoben
und den Besucher gemeldet. "Gehen Sie ins erste Stockwerk zur zweiten
Türe links. Die Sekretärin wird Sie zu Herrn Bachelard bringen!" Ihre
Stimme klang freundlich, doch das geschäftsmäßige Lächeln erreichte
ihre Augen nicht. "Vielen Dank", sagte Karl und dachte, wie schön und
begehrenswert sie erst wäre, wenn auch ihre Augen lachten. Später
bestätigte sich sein Verdacht. Nie würde er ihr strahlendes Lachen bei
der Hochzeit vergessen. Sie war umwerfend, seine Edwina.
Jetzt war sie tot, von einem Auto auf dem Fußgängerstreifen überfahren.
Selbst im Tode war sie noch schön. "Sie hat nicht gelitten", hatte die
Schwester leise gesagt und ihn mit Edwina allein gelassen. "Ich werde zu
dir kommen, meine Schöne. Vorher habe ich aber noch etwas zu erledigen",
flüsterte Karl seiner Frau zu. Die Beerdigung und die Kondolenzbesuche
ließ Karl mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Er war freundlich,
sprach nicht viel, aber das erwartete auch niemand von ihm. In der
Kanzlei, wo er der Seniorschef war, tauchte er nur noch selten auf. Die
Leitung hatte er einige Jahre zuvor seinem Neffen Roman übertragen.
"Guten Tag, Fräulein Meinrad, wie geht es Ihnen?" Das schüchterne
Mädchen am Empfang lächelte den Seniorchef an und erkundigte sich
ihrerseits nach seinem Befinden. Danach stieg Karl die Treppe hinauf zum
ersten Stock, wo er Roman in seinem Büro begrüßte, bevor er sich in
sein eigenes zurückzog. Roman war sichtlich überrascht, den alten Herrn
in so guter Verfassung zu sehen. Er sah mindestens zwanzig Jahre jünger
aus. Da er jedoch kein sehr gefühlsbetonter Mann war und nichts von
Smalltalk hielt, begnügt er sich damit, Karl die Hand zu drücken und ihn
kurz über die neuesten Fälle zu informieren. Nur zögernd hatte er dem
Seniorchef schließlich die Akte des Autolenkers übergeben, der Edwinas
Tod verursacht hatte. Roman hätte nicht sagen können, was ihn so
beunruhigte. War es nicht selbstverständlich, dass sein Onkel sich für
den Mann interessierte, der seine Frau überfahren hatte? Außerdem
wirkte Karl ruhig und vernünftig. Dafür, dass er Edwina so abgöttisch
geliebt hatte, hielt Karl sich wirklich gut. Oder? Roman schob die
beunruhigenden Gedanken beiseite. Es war ihm lästig, über Dinge
nachzudenken, die er nicht erfassen konnte.
Othmar Heiner war geschieden. Die beiden Söhne waren erwachsen und
verheiratet. Othmar lebte in guten Verhältnissen, liebte die Frauen und
er hatte ein Alkoholproblem. "Othmar, Othmar", flüsterte Karl, "du hast
dir die falsche Frau ausgesucht." Er schloss die Akte, nachdem er einige
Notizen über Othmar Heiner in sein schwarzes Büchlein gekritzelt hatte.
Bevor Karl Reisshaupt seine Kanzlei verließ, übergab er Roman die Akte.
"Es ist doch alles in Ordnung?" "Aber ja, du hast gute Arbeit geleistet.
Der Mann war nicht betrunken, er war lediglich unvorsichtig", antwortete
Karl gleichmütig. Nachdem der alte Herr gegangen war, versuchte Roman
sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht.
Schließlich rief er seine Frau Rosmarie an und bat sie, für
Samstagabend ein Abendessen zu arrangieren und Onkel Karl einzuladen.
"Das ist nett. Aber für Samstag habe ich andere Pläne. Grüß Rosmarie
von mir. Bis bald." Roman nahm die Absage nicht übel. Er hat andere
Pläne, das ist gut. Er wird sich ein neues Leben aufbauen. Er war froh,
auch wenn die kleine Stimme in ihm drin noch nicht ganz zur Ruhe
gekommen war.
Das gediegene Lokal mit seinem altmodischen Charme war gut besetzt.
"Guten Abend Herr Reisshaupt", begrüßte ihn Albin, der alte Kellner.
"Es ist schön, Sie wieder einmal hier zu haben. Der Verlust Ihrer lieben
Gattin hat uns alle tief getroffen." Karl dankte ihm. Er wurde an den
selben Tisch geführt wie immer. Bevor Karl sich setzte, legte er eine
rote Rose auf das Gedeck ihm gegenüber. Er saß eine Weile und trank ein
Glas Burgunder. Dann stand sie vor ihm. Karl erhob sich galant, reichte
der Frau die Hand und schob ihr den Stuhl zurecht. Der Kellner, der ihre
Bestellungen aufnahm, war neu hier. Die elegante Blondine verströmte
einen aufdringlichen Parfumduft. Sie war stark, wenn auch gekonnt
geschminkt und hatte eine angenehme Stimme. "Ich habe mich über Ihre
Einladung gefreut", sagte sie endlich, "aber ich verstehe den Sinn nicht
ganz. Othmar geht es ganz gut, auch wenn ihn dieser Unfall natürlich
sehr aufgeregt hat." Nach einer Weile fügte die Blonde hinzu: "Um Ihre
Frau tut es mir schrecklich leid. Othmar konnte nicht zur Beerdigung
kommen, er stand noch zu sehr unter Schock damals." "Ach, das ist schon
gut. Ich hatte eigentlich vor, Sie beide einzuladen, aber da er nun
dringend einen Besuch außerhalb machen muss, dachte ich, es wäre nett,
mit Ihnen ein wenig zu plaudern. Wissen Sie, es ist nicht einfach, an
einem Samstagabend einen Tisch hier zu bekommen. Es ist unser
Lieblingslokal." "Oh!" Die Frau war irritiert. Auch wunderte sie sich
darüber, dass ihr Lebensgefährte Othmar das Essen so kurzfristig
abgesagt hatte. Er müsse eine Tante draußen in Oberstheim besuchen.
Aber um Punkt zehn würde er sie direkt vor dem Restaurant abholen. Seine
Stimme auf dem Anrufbeantworter hatte merkwürdig geklungen und von einer
Tante in Oberstheim hatte sie nie zuvor gehört.
Dieser Karl Reisshaupt war ein attraktiver Mann, hatte gute Manieren und
er schien den Tod seiner Frau einigermaßen überwunden zu haben. "Wie
lange sind Sie schon ein Paar?" hörte sie den Mann fragen. "Ich habe
Othmar kurz vor seiner Scheidung, also vor ungefähr drei Jahren kennen
gelernt." "Lieben Sie ihn?" Sie verschluckte sich beinahe an ihrem
Mineralwasser. Was für eine Frage. Nach kurzer Überlegung meinte sie:
"Ich war schon einmal verheiratet und Martin war wohl die Liebe meines
Lebens. Othmar ist nett. Ich denke, wir wollten beide einfach nicht
einsam dem Alter entgegengehen." Sie war erstaunt, wie freimütig sie mit
einem Fremden über ihre Beziehung zu Othmar sprach. Dann sagte er
etwas, was sie erschauern ließ: "Ich habe Edwina geliebt. Es wird
niemals eine andere Frau für mich geben. Ich will so schnell wie möglich
mit ihr vereint sein." Der Rest des Abendessens verlief schweigend. Sie
wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.
Kurz vor zehn ließ Karl sich die Rechnung bringen. Er half seiner
Begleiterin in den teuren Mantel, nahm sie beim Arm und führte sie zum
Ausgang. Abwesend verabschiedete Karl sich von Albin. Der alte Kellner
würde sich diesen Abend später noch oft in Erinnerung rufen. Zum einen
weil es Karl Reisshaupts letzter Besuch gewesen war, zum anderen, weil
er so kurz nach dem Dahinscheiden seiner Gattin, auf dieselbe tragische
Weise und durch den selben Autofahrer, ums Leben gekommen war. Die
blonde Dame sagte bei der Polizei aus, Karl Reisshaupt hätte gemächlich
den Fußgängerstreifen überquert, als sich ihm ein Wagen mit hoher
Geschwindigkeit näherte. Sie erlitt einen Schock als ihr Begleiter auf
die Motorhaube geschleudert wurde und sie den Mann am Steuer erkannte.
Einen kurzen Moment sah sich Othmar Heiner Auge in Auge mit Karl
Reisshaupt. "Er hat gelacht, ganz gemein. Der Kerl hat mich
hereingelegt, hat mich in dieses Pub bestellt, wo ich auf seine Kosten
trinken und mich amüsieren sollte. Ich müsste lediglich um zehn vor
diesem Laden sein, wo meine Alte ein Geschäftsessen hätte." Dies
erzählte der betrunkene Mann erst den Polizeibeamten, dann dem
Psychiater in der Klinik, schließlich seinen Trinkkumpanen auf der
Strasse. Niemand hatte ihm geglaubt - außer vielleicht Roman. Hatte
Karl nach seinem letzten Besuch in der Kanzlei nicht doch etwas zu
gleichmütig gewirkt? Es war lästig, über solche Dinge nachzudenken. Karl
war schließlich ein vernünftiger Mann gewesen. Dummheiten lagen ihm
einfach nicht.