Die Bewohner der blauen Stadt
© Hans-Dieter Tubandt
Einst, im Zuge der großen Wanderungen, entstanden auf dem Planeten Reilwa, der im Sternbild des kleinen Bären zu finden ist, drei kleine Städte. Und weil der Boden von Reilwa sehr fruchtbar war, bescherte er den Bauern Jahr für Jahr eine gute Ernte. Dadurch wuchs der Reichtum der Städte und sie breiteten sich aus, bis ihre Grenzen aneinander stießen und sie nunmehr eine einzige große Stadt bildeten. Und weil alle Häuser aus dem hellblauen Stein erbaut worden waren, den es überall auf Reilwa zu finden gab, nannten
die Bewohner ihre Stadt Blaustein und obwohl alle auf ihre Stadt stolz waren und zu ihrem Wohl beitrugen, gab es in Blaustein dennoch Reiche und Arme.
Außerhalb von Blausteins starken Mauern lag ein großer und dunkler Wald. Am Tage sammelten die Armen dort Brennholz oder sie suchten nach Beeren und Pilzen und oft kehrten sie erst mit Einbruch der Dämmerung nach Blaustein zurück. Dort verkauften sie ihre bescheidenen Waren an die Diener der Reichen und sorgten auf diese Weise für das Wenige, dass sie zum Leben brauchten.
In der Nacht aber, wenn alles still war, drangen aus dem Wald unheimliche Geräusche nach Blaustein herüber und ängstigten die Menschen in ihren Betten, die schnell ihre dicken Bettdecken über den Kopf hochzogen, um nicht vor Angst zu sterben.
Dort draußen, so sagten die Bewohner von Blaustein, ist es bei Nacht nicht geheuer. Überall lauern böse Geister, flüsterten sie weiter und andere waren sogar der Meinung, dass dort hässliche Kobolde lebten und, was ja noch viel schlimmer sei, dicke Erdlinge, die jeden Menschen in ihre Höhlen ziehen, welche tief unter dem moosigen Boden liegen. ‚Gut dass Blaustein von mächtigen Mauern umgeben ist', sagten die Reichen, weil sie Angst um ihr Hab und Gut hatten, während die Armen hinzufügten, dass im Wald, ja außerhalb
der Stadt nie jemand wird leben können. '
In der Mitte des Waldes aber stand eine brüchige Hütte. Wind und Wetter hatten ihre Spuren in sie eingegraben und bei jedem schweren Gewitter knarrte und ächzte sie in allen Ecken und Ritzen. Rauchwolken schlängelten sich aus dem mit Ruß geschwärzten Kamin in den Sternenhimmel.
Ein Kerzenstummel tauchte den gemütlichen Raum in schummriges Licht und erhellte nur spärlich die wenigen und einfachen Möbel. Am Tisch, der in der linken Ecke des Raumes stand, gegenüber dem breiten Bett mit seiner dick aufgeblähten Decke, saß ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Langsam löffelte er seine Suppe und blickte dabei immer wieder auf den zweiten Teller, der bis jetzt unbenutzt auf der anderen Seite des Tisches stand.
Plötzlich wehte ein kühler Luftzug durch den Raum, der die Kerze zum Flackern brachte. Der Alte sah nicht einmal von seinem Essen auf, als dreimal laut an die Tür geklopft wurde. "Herein!" rief er schwach und aß in aller Ruhe weiter. Die Tür öffnete sich knarrend und wurde kurz darauf wieder geschlossen und erneut wehte ein eisiger Luftzug durch den Raum. Mit einem letzten Aufflackern erlosch der Kerzenstummel und in tiefe Finsternis gehüllt, nahm der Gast gegenüber dem Alten seinen Platz ein.
"Die Suppe ist fast kalt", sagte der Alte. "Du kommst heute sehr spät, Eusilia." "Wir haben heute wieder die Armen beobachtet, Herr", erwiderte Eusilia entschuldigend. "Es ist nicht gut, Eusilia! Ihr könnt ihnen in ihrer Not doch nicht helfen. Lasst die Bewohner der blauen Stadt in Ruhe, denn, " sprach der Alte jetzt in strengem Ton, "wir sind nicht die Hüter der Menschen!"
Aber sie leiden wirklich schlimme Not, " versuchte Eusilia mit weinerlicher Stimme dem Alten zu erklären, "die meisten besitzen kaum das Nötigste ... viele nicht einmal das tägliche Brot."
"Ihr Feen habt ein zu gutes und weiches Herz", murrte der Alte lächelnd und schöpfte sich von der inzwischen kalten Suppe nach.
"Die Kobolde, ja selbst die schweigsamen Erdlinge sind unserer Meinung. Wir alle wollen den Armen helfen", meinte die liebreizende Fee, welche ihre unvergleichliche Schönheit in Dunkelheit hüllte, damit der Alte davon nicht geblendet wurde.
"Wenn ihr den Armen helfen wollt, dann ärgert sie nicht immer bei ihrer schweren Arbeit. Weshalb kommt ihr gerade zu mir?" fragte der Alte ärgerlich. " Du bist der Herr der Quelle... und..." "Niemals!" knurrte der Alte wie ein böser Wolf, "wenn ihr ihnen wirklich helfen wollt, dann sammelt Beeren und Pilze für sie, oder schenkt ihnen Gold und Edelsteine, aber haltet sie mir von der Quelle fern. Es wäre ihr sicherer Untergang!"
"Ihr, Herr, seht sie nicht in ihren Lumpen und ihr hört nicht ihre bitteren Klagen," sprach die Fee mutig und redete bis in den frühen Morgen auf den Herrn der Quelle ein, der schließlich seine Zustimmung gab, weil auch er ein gutes Harz besaß.
"Aber ich habe euch gewarnt, Eusilia und bevor ihr euch bei mir über die Menschen beklagt, denkt daran, dass ihr nicht auf meine warnenden Worte gehört habt", sprach der Alte mit ernstem Gesicht und verstummte.
"Danke!" rief Eusilia und strahlte vor Glück. "Danke! Oh Herr der Quelle!" vernahm der Alte ihre leiser werdende Stimme, als sie schnell die Hütte verließ, um allen ihren Freunden von dem großen Wunder zu erzählen.
Eines Morgens öffnete sich wie jeden Tag das große Tor von Blaustein und entließ die große Schar der Armen in den nahe gelegenen Wald, damit sie wenigstens ihr tägliches Brot verdienen konnten. Wie immer erreichten sie den dunklen Waldrand mit dem Sonnenaufgang und wie groß war ihre Überraschung als sie die glasklare Quelle entdeckten, die über Nacht, wie durch ein Wunder, aus dem Waldboden gewachsen sein musste. Ein sprudelnder Bach plätscherte hüpfend über einige runde Kieselsteine, ehe er in einem grün schimmernden
Loch wieder im moosigen Untergrund verschwand.
"Seht nur!" riefen einige der Armen erstaunt und schnell sammelten sich alle bei der kleinen Quelle. " Sie muss heute Nacht entstanden sein", sagte eine grauhaarige Frau. "Ja!" schrie ein alter Bettler, der neben ihr stand, "denn gestern war sie noch nicht da!" überall erhob sich lautes Geschrei und jeder versuchte so nahe wie möglich an die sprudelnde Quelle heran zu kommen. Wir könnten das Wasser in Behälter abfüllen und in der Stadt verkaufen, meinte ein Teil der Armen
und erhielt dafür großen Beifall.
"Es ist so klar, so rein," murmelte die Grauhaarige lächelnd, "noch nie in meinem langen Leben habe ich so wunderbares Wasser gesehen," fügte sie träumend hinzu und sah die Quelle an, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz. "Es bringt sicher einen guten Preis!" schrie eine Gruppe junger Burschen, die weiter hinten standen und jetzt gewaltsam zu der kleinen Quelle drängten.
"Wir haben sie zuerst entdeckt", riefen vier, fünf der Armen gleichzeitig und verteidigten ihre vordersten Plätze.
Plötzlich entstand ein heilloses Durcheinander. Jeder wollte sie auf einmal zuerst gesehen haben und meldete damit seine Besitzrechte an. Ober der großen Schar der Armen erhob sich lautes Geschrei, welches bis nach Blaustein zu hören war und ihre Bewohner erstaunt aufhorchen ließ.
Das wilde Getümmel hielt bis in den späten Nachmittag an und erst die Sorge um ihre gemeinsame Not, brachte sie schließlich wieder zur Vernunft.
"Niemand von uns hat heute auch nur das Wenigste zu seinem Lebensunterhalt verdient. Wir werden hungern müssen und unsere Kinder werden mit leerem Magen in ihren Betten liegen und nicht einschlafen können, weil ihre Väter und Mütter den ganzen Tag über streiten mussten. Lasst uns jetzt gemeinsam von dem Wasser schöpfen und den Gewinn teilen!" brüllte ein alter Mann heftig atmend und hob drohend seinen Stock. "Vor lauter Gewinnsucht!" fügte er etwas friedlicher hinzu: "hat noch nicht einmal
einer von uns das Wasser versucht. Vielleicht ist es vergiftet! Was bringt es uns allen dann für einen Gewinn?" Betreten blickte die Schar der Armen zu Boden. "Wir werden tun, was du für richtig hältst!" rief jemand aus der Menge mit zitternder Stimme und nur wenig später schreien alle zusammen. "Ja! ja! Wir werden tun was du sagst!"
"Zuerst werde ich von dem Wasser kosten", erklärte der alte Mann und bückte sich ächzend zu der kleinen Quelle hinunter. Vorsichtig, als könnte sie unter seiner Berührung zerspringen oder auf der Stelle für alle Zeiten versiegen, tauchte er seine Hände in das klare Wasser, schöpfte ein wenig davon und trank es in einem Zug. Schweigend beobachteten ihn die Armen und warteten gespannt auf seine erste Reaktion.
Angenehm kühl und erfrischend füllte es seinen Mund und es kam dem alten Mann so vor, als würde ihm kurz ein klein wenig schwindelig davon. "Ach," flüsterte er glücklich, "hätte ich heute morgen doch nur viele Behälter mitgenommen, dann könnte ich jetzt mit diesem herrlichen Wasser ein reicher Mann werden." Und kaum hatte er seinen Wunsch ausgesprochen, da leuchte der Moosboden vor ihm rötlich auf und als der alte Mann überrascht die Augen aufschlug, lagen unzählige Wasserbehälter neben der
Quelle.
"Ein Wunder!" riefen alle, welche das Unglaubliche miterlebt hatten. Der alte Mann hat nur ... die Quelle erfüllt sämtliche Wünsche... sobald man nur von ihrem Wasser getrunken hat!" brüllten die, welche ganz vorne bei der Quelle standen und stürzten sich noch im gleichen Augenblick auf das klare Wasser. Jeder wollte dabei der Erste sein und vor dem anderen in den Genus der Erfüllung seiner Wünsche kommen. Und so gab es erneut ein wildes Durcheinander.
"Meine schäbige Hütte soll sich in einen Palast verwandeln, wie sie der reiche Händler am Ende der Straße besitzt!" kreischte ein junges Mädchen und rannte schnell nach Hause, um nachzusehen ob ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist.
"Ich möchte auf der Stelle feine Kleider! Wie eine Prinzessin!" stieß eine zahnlose alte Wahrsagerin keuchend aus und konnte ihrer Freude kaum Ausdruck verleihen, als sich ihr Wunsch spornstreichs erfüllte.
"Ha! Ich alte Wahrsagerin...eine liebreizende Prinzessin!" rief sie glücklich aus und rannte ebenfalls nach Blaustein zurück, um vor ihren Schwestern damit zu prahlen.
Alle Armen hatten ihre besonderen und ausgefallenen Wünsche und jeder ging bevor man einen Atemzug tun konnte in Erfüllung und so verschwand nahezu über Nacht die Armut aus Blaustein. Und in der dunkelsten Ecke des Marktplatzes, dort wo die Armen gestern noch ihre wenigen Waren, welche sie den Tag über mühsam zusammentragen mussten, zum Kauf angeboten hatten, fuhren sie heute in prächtiger Kleidung und prunkvollen Wagen vorüber, ohne sich an ihre frühere Not zu erinnern. Niemand litt in den ersten Tagen nach
dem Erscheinen der kleinen Quelle Not und es sah so aus, als habe sich der Wunsch Eusilias und ihrer Freunde, trotz der Mahnungen des Alten, erfüllt.
Den ganzen Tag über strömten die Menschen zu der kleinen Quelle hinaus und tranken gierig von ihrem besonderen Wasser, um sich spornstreichs ihre neuesten Wünsche und Ideen verwirklichen zu lassen. Und waren es am Anfang noch die Armen, welche sich Rettung von der Quelle erhofften, so kamen schon bald die reicheren und reichsten Bewohner von Blaustein hinzu. Ihre erste Überraschung war schnell einem unstillbaren Neid gewichen, den nur die kleine Quelle stillen konnte.
"Vor ein paar Tagen besaßen sie nicht einmal das Nötigste zum Leben und sie waren uns wenigstens dankbar dafür, dass wir ihnen in unserer unendlichen Großmut ihre verdorbenen Waren abkauften, damit sie nicht verhungern mussten und jetzt sehen sie auf uns herunter, als wären wir die Bettler. Sie bewohnen prächtige Häuser, fahren mit Gold verzierten Wagen an uns vorbei und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie uns Almosen zu werfen," sagten die reichen Neider und stürzten nun selbst zu der kleinen
Quelle am Waldrand hinaus, um die alte Ordnung wieder herzustellen.
Blaustein wechselte in den ersten Tagen mehrmals sein Gesicht wie das Wetter in der Herbstzeit. Wo gestern eine armselige Hütte stand, erhob sich heute ein wunderschöner Palast und schon einen Tag später war er mindestens um die Hälfte größer und mit noch mehr Gold und Edelsteinen verziert.
In Blaustein stand das normale Leben still. Kein Bäckermeister stand am frühen Morgen mehr in der Backstube; kein Gemüsehändler kümmerte sich mehr um seine wahren Schätze, die im Garten verfaulten und, ja eigentlich arbeitete niemand mehr etwas und weshalb sollten sie sich auch den ganzen Tag plagen und mühen, sagten sie mit verständnislosem Blick, wo doch unsere Quelle alle Wünsche augenblicklich erfüllt.
Am Morgen, bei Sonnenaufgang, wenn der Hahn dreimal laut krähte stand kein Bewohner der blauen Stadt mehr auf. Erst gegen Mittag stiegen die ersten gähnend und immer noch müde aus ihren Betten. Hungrig machten sie sich über die köstlichen Speisen des vergangenen Tages her, ehe man sich auf den beschwerlichen Weg zu der Quelle machen musste. Und selbst darüber begannen sich nach wenigen Tagen die meisten zu beklagen und erhoben ein großes Geschrei, beschimpften sogar die kleine Quelle, weil sie so weit draußen
vor der Stadt lag und nicht direkt vor ihrer Haustüre.
Die Bewohner von Blaustein nahmen immer größere Wasserbehälter mit zu der kleinen Quelle, füllten sie bis zum Rand und doch mussten sie schon wenig später wieder den langen und beschwerlichen Weg antreten, weil ihre Wünsche sich ständig änderten oder vermehrten und natürlich spornstreichs verwirklicht werden mussten. Viele zogen mit goldenen Handkarren durch die Straßen, welche mit dem kostbaren Wasser schwer beladen waren und nahmen jedes Haus, jeden Palast in Blaustein ganz genau in Augenschein. Und sobald
sie irgendetwas Schönes oder bisher Unbekanntes entdeckten, tranken sie schnell einen Schluck Wasser und wünschten sich das gleiche in nur noch prunkvollerer Ausstattung für ihr eigenes Heim. Andere wiederum wurden durch solche Erlebnisse so neidisch, dass sie in unbändigen Zorn gerieten und sie voller Wut das Haus oder den Palast ihrer Nachbarn einfach in ihren Besitz nahmen, indem sie den eigentlichen Besitzer in einen Baum, eine Blume oder sonst etwas Unnützes verwandelten.
In nicht einmal zehn Tagen nahm die Bevölkerung von Blaustein um die Hälfte ab. Diebe, welche längst zu faul waren, um zu der kleinen Quelle zu gehen, überfielen die Menschen in ihren Häusern, raubten ihnen das wertvolle Wasser und wünschten sich sofort an einen sicheren und verborgenen Ort. Schließlich kam irgendjemand auf die merkwürdige Idee, sich mit dem letzten Schluck von dem wunderbaren Wasser einen, nein gleich zehn oder noch besser, zwanzig neue und bis zum überlaufen volle Behälter zu wünschen. Dadurch
verwaiste die kleine Quelle innerhalb von zwei Tagen völlig. Einsam wie am ersten Morgen, als der Hüter sie den Menschen der blauen Stadt gegeben hatte, lag sie in ihrem moosigen Bett und entließ den sprudelnden Bach plätschernd über Stock und Stein.
Eusilia aber fühlte die Einsamkeit der kleinen Quelle und fing darüber heftig zu weinen an und wenn sie dann noch an die Armen der blauen Stadt dachte, denen sie alle hatten nur helfen wollen, dann krampfte sich ihr kleines Feenherz um so schmerzvoller zusammen.
Laut schluchzend rannte Eusilia zielsicher durch den finsteren Wald und sprang dabei leichtfüßig über das ihr den Weg versperrende Gestrüpp. Ganz außer Atem erreichte sie die windschiefe Hütte des Alten. Sie klopfte wie immer dreimal und öffnete die Tür bevor der Hüter der kleinen Quelle "Herein" rufen konnte.
Wie bei allen ihren Besuchen erlosch die Kerze auf dem Tisch durch einen kühlen Luftzug, der die Fee wie ein zweites Kleid umgab. Lautlos setzte sie sich an den gedeckten Tisch und löffelte schweigsam die warme Suppe.
Der Alte sah nicht einmal von seinem Teller auf. Er wusste längst weshalb Eusilia zu ihm gekommen war und er konnte verstehen, dass es ihr sehr schwer fiel, den ersten Schritt zu tun. "Doch ein klein wenig Strafe muss sein, " dachte er und schöpfte sich Suppe nach.
"Die Armen!" stieß Eusilia erregt aus, nachdem sie ihren Teller leer gegessen und den Löffel auf den Tisch gelegt hatte, "die Armen," fuhr sie mit zitternder Stimme fort: "ich, nein wir alle wollten doch nur ihre schreckliche Not lindern, damit sie es fortan nicht mehr so schwer haben. Aber ... Herr, ich verstehe sie nicht mehr. Sie haben sich auf merkwürdige Weise verwandelt. Ja! Sie besuchen nicht einmal mehr die kleine Quelle, die ihnen doch alle Wünsche erfüllte", klagte die
Fee und wurde dabei immer zorniger auf die so undankbaren Menschen. Lächelnd hob der Alte den Kopf und sah Eusilia lange in die Augen, die wie ein Regenbogen in verschiedenen Farben leuchteten.
"Deine Freunde und vor allem du, Eusilia, ihr wolltet ja nicht auf meine Warnungen hören und jetzt beklagt ihr euch bei mir, obwohl ich mich nur eurem Wunsch gebeugt habe. Was soll ich jetzt eurer Meinung nach tun?" fragte der Alte die Fee und schob seinen Teller in die Mitte des Tisches.
"Es soll wieder alles wie früher sein", erwiderte Eusilia schnell, und wenn die Armen dann im Morgengrauen wieder zu uns in den Wald kommen, so werden wir versuchen ihre schlimmste Not auf andere Art zu mildern," fügte sie voller Begeisterung hinzu und wurde dabei ganz aufgeregt.
"Es ist leider nicht so einfach, Eusilia, wie du es dir vorstellst. Man kann das Rad der Zeit nicht nach seinen Wünschen und Vorstellungen vor und zurück drehen. Deine Armen leben jetzt in prunkvollen Häusern und Palästen und es fliegen ihnen wie im Märchen die gebratenen Tauben in den Mund. In der blauen Stadt arbeitet seit vielen Tagen niemand mehr und wenn die kleine Quelle plötzlich versiegt und sich keiner ihrer übertriebenen Wünsche mehr erfüllt, dann wird es ein großes und wildes Durcheinander geben
und selbst ich kann nicht vorhersehen, wie es enden wird. Und selbst wenn ich die alte Ordnung zurück wünsche, so werden die Wunder der vergangenen Tage in ihren Erinnerungen weiter leben und ihre Unzufriedenheit vergrößern. Und die Reichen, Eusilia, werden ihren Zorn über den plötzlichen Verlust an den Armen auslassen und am Ende wird für sie alles nur noch viel schlimmer sein als vorher, " erklärte der Alte der Fee mit ernstem Gesicht und blickte sie dabei besorgt an.
Eusilia hörte ihm aufmerksam zu und nickte nur dann und wann traurig, wenn der Hüter der kleinen Quelle ihr das Schicksal der Armen schilderte.
"Und wenn wir ihre Erinnerung ganz auslöschen?" fragte die kleine Fee leise und wischte sich dabei einige funkelnde Tränen von ihrer Wange. "Wie ich dir vorhin schon sagte, meine liebreizende Eusilia, das Rad der Zeit lässt sich nicht so einfach zurück drehen." "Aber... nicht einfach, Herr, heißt doch nicht, dass es ganz unmöglich ist, oder?"
"Nein! Unmöglich ist es nicht. Nur bedarf es dazu viel Zeit und großer Kraft." "Kannst du es nicht versuchen, Herr? Selbst die Erdlinge vermissen die Armen, obwohl sie die Menschen nur ärgerten mit ihren dummen Streichen", bettelte Eusilia mit von Tränen erstickter Stimme.
"Ich werde in Ruhe darüber nachdenken, Eusilia. Geh jetzt und berichte deinen Freunden, dass alles wieder in Ordnung kommen wird. Und!" fügte der Alte mit strenger Miene hinzu, "versucht nie wieder, mich zu irgend etwas zu überreden, besonders wenn es die blaue Stadt und ihre Bewohner betrifft. Sie sind maßlos in ihren Wünschen, wie ihr jetzt selbst gesehen habt. Vergiß meine Worte niemals, Eusilia."
"Meine Freunde und ich werden über deine Worte nachdenken, Herr. Aber eine letzte Frage habe ich noch", flüsterte die Fee schüchtern und sah dabei den Hüter der kleinen Quelle aus großen Augen an. "Wie können wir den Armen helfen, außer dass wir sie unbemerkt zu den Beeren,- und Pilzstellen führen?" "Die große Kraft der Armen liegt in ihrer Armut, Eusilia und sie wird ihnen eines fernen Tages großen Reichtum bescheren," sprach der Alte geheimnisvoll und verabschiedete sich dann von
der Fee, die sehr schweigsam zu ihren Freunden zurück kehrte, um ihnen von dem Gespräch zu erzählen.
Der Alte aber saß bis in die späte Nacht hinein am Tisch und dachte angestrengt über die Menschen in der blauen Stadt nach. Eusilias liebes Herz für die Armen rührte ihn und er wollte ihnen, trotz ihrer schlechten Taten helfen und sie nicht wieder in die schlimmste Not zurück versetzen. Endlich, im bleichen Schein des Mondes, fand er die richtige Lösung und weil die Zeit drängte, machte er sich sofort an die Arbeit.
In der darauf folgenden Nacht fielen die Bewohner von Blaustein in einen tiefen Schlaf. Selbst die Wachen lehnten schlafend an der blauen Mauer oder saßen schnarchend im Stuhl in der Wachstube. Unbemerkt nahm der Alte den Zauber aus der kleinen Quelle von der Stadt, die bis in die kleinste Ritze hinein ächzte und knarrte und erst kurz vor dem Morgengrauen wieder in ihrem alten Glanz erstrahlte. Der Hüter der kleinen Quelle besah sich zufrieden sein Werk und ehe er die blaue Stadt für immer verließ, legte er einen
besonderen Zauber über die Armen und Ärmsten von Blaustein.
Als die Bewohner von Blaustein am Morgen aus ihrem Zauberschlaf erwachten, konnten sie sich nicht mehr an die kleine Quelle und ihr herrliches Wasser erinnern. Alles war so wie jeden Morgen und als die Schar der Armen aus dem großen Tor dem dunklen Waldrand zuströmte, der Bäckermeister seinen Ofen anheizte und der Gemüsehändler zufrieden seinen Garten betrachtete, lag der Alte längst in seinem Bett und schlief tief und fest, während auf seinen vor Erschöpfung bleichen Gesicht ein glückliches Lächeln lag.
Die Armen aber sammelten wie jeden Tag Brennholz, Beeren und Pilze und plötzlich, die Sonne stand gerade an ihrem höchsten Punkt, entdeckten sie eine unbekannte Frucht. Sie war klein und rot, wuchs im dichtesten Gestrüpp und schmeckte so herrlich süß, dass alle darüber in Entzücken gerieten. Die Armen tauften sie einstimmig Rotbeere und weil auch die Reichen einen großen Gefallen an ihr fanden, kauften sie den Armen die Rotbeere zu hohen Preisen ab.
Viele der Reichen aber fanden die Rotbeere viel zu teuer und machten sich in aller Stille, nachdem sie ihre Diener mehrmals vergeblich ausgeschickt hatten, selbst auf die Suche danach. Doch so sehr sie auch in dem dichtesten und dornigsten Gestrüpp zerrten und suchten, die Rotbeere blieb für sie unsichtbar und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als sie von den Armen zu kaufen, deren schlimmste Not dadurch mehr als nur gelindert wurde.
Die kleine Fee Eusilia und ihre Freunde konnten endlich wieder von Herzen lachen und sie freuten sich über das Glück der Armen so sehr, dass sie darüber sogar eine zeit lang ihre Streiche vergaßen.
Eingereicht am 29. Januar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.