Der Geschichtenerfinder
© Hans-Dieter Tubandt
Zu der Zeit, als die großen Wanderungen zu den fernen Planeten begannen, lebte auf Lurja ein älterer Mann, der seinen Lebensunterhalt mit dem Erfinden von Geschichten verdiente. Bei schönem Wetter ging Wanja, wie er von allen nur genannt wurde, in den nahen Wäldern seiner Heimatstadt spazieren, und wie es sich für einen guten Erfinder von Geschichten gehörte, lauschte er den Vögeln, deren Gespräche ihm der Wind heimlich zutrug und die von wundersamen Dingen handelten. Oft setzte er sich auch auf seine Lieblingsbank
inmitten einer kleinen Lichtung und blickte nachdenklich in den wolkenlosen Himmel.
‚Siebzig Tage,' dachte Wanja und beschattete die Augen mit der Hand, 'seit ich die letzte Geschichte geschrieben habe.' Er runzelte missmutig die Stirn, senkte den Blick und rieb sich die müden Augen. "Siebzig Tage", murmelte Wanja bedeutungsschwer, "und nicht den Hauch einer Idee". Hinzu kam - und das bedrückte ihn am meisten -: Er verstand die Sprache der Vögel nicht mehr. Er hörte ihre Worte als die Seltsamkeiten aus den fernsten Gebieten, doch in seinen Gedanken formte sich daraus keine
Geschichte. Alles blieb leer, dunkel, so als sei er von der Welt abgeschnitten wie ein Besucher auf einem fremden Planeten, der sieht und doch nichts von alledem versteht. Kopfschüttelnd erhob er sich und trat den Heimweg an.
Wanja schrieb seit vielen Jahren Geschichten, traurige, die von hässlichen Kobolden handelten, die in düsteren Erdlöchern hausten, welche sie nur bei Nacht oder in der Dämmerung verlassen konnten, weil das Licht ihrer Haut schadete und die den Menschen böse Streiche spielten. Aber er hatte auch heitere Geschichten erfunden, in denen lieblich aussehende Bauernmädchen verwunschene Königssöhne vom bösen Hexenzauber oder einem alten Fluch erlösten und fortan glücklich bis an ihr Lebensende zusammen lebten. Hunderte
von Geschichten hatte er dem Wind entlockt und damit vielen Menschen schöne, ja wundersame Stunden geschenkt. Überall wurde er höflich gegrüßt, und wo immer der einsame Wanderer auftauchte, erinnerte man sich sofort irgendeiner seiner Geschichten, und nicht selten wischte sich ein Knecht heimlich eine Träne aus dem Auge, wenn er nur in Gedanken versunken vorüber ging.
‚Leja sucht den Sonnenaufgang'. Das war der Titel seiner letzten Geschichte. Der letzte Punkt war längst gesetzt, die Blätter geordnet und in der alten zerfledderten Mappe abgelegt worden, als auch schon erste Schatten seine Zufriedenheit befleckten und neue Geschichten forderten. Siebzig Tage waren seither ins Land gezogen und in seine Gedanken fiel kein noch so blasser Lichtstrahl und offenbarte ihm das Gesuchte. Wanja träumte, natürlich nur im Stillen und wenn auch wirklich niemand in der Nähe war, von einer
großen Geschichte, einer langen Erzählung, seinem Lebenswerk, das alle seine bisherigen Geschichten an Glanz überstrahlen sollte. Auch jetzt hing er diesem Traum an und alle paar Schritte lächelte er unbewusst, so als kitzle ihn unbemerkt ein Gnom an seiner empfindlichsten Stelle, ehe sein Gesicht wieder ernst und von tiefen Sorgenfalten durchzogen wurde. In seinen Vorstellungen hielt er das vollendete Buch glücklich in Händen, im Wissen darum, dass er sich jetzt wieder seinen kleinen Geschichten zuwenden konnte,
ohne gegen die Schatten ankämpfen zu müssen.
Forsch schritt Wanja dem Waldrand und damit seinem Haus entgegen, während sich die Sonne langsam dem Horizont näherte. Die Dunkelheit kroch bereits aus den Büschen und verbarg dadurch die eine oder andere gefährliche Stelle vor seinen wachsamen Blicken. So kam es, wie es kommen musste; er stieß mit dem Fuß gegen ein Hindernis, stolperte zwei, drei Schritte, und gerade als er glaubte, seinen Sturz vermeiden zu können, verhedderten sich seine Füße. Oder war es doch der Stoß eines Koboldes, wie er sich später zu
seiner Verteidigung einzureden versuchte? Jedenfalls fiel er der Länge nach hin. Und als sei dies noch nicht des Unglücks genug, schlug er sich die Nase an einem merkwürdig geformten Stein auf. Ein paar Tropfen Blut fielen auf den Stein, der kurz zischte, gefolgt von einem leisen Plopp und einem kaum wahrnehmbaren Niesen. Wanja schüttelte etwas benommen den Kopf, setzte sich auf und sah sich vorsichtig um. Zum Glück hatte niemand sein kleines Missgeschick beobachtet. Behutsam betastete er seine Nase und zuckte
unwillkürlich vor Schmerz zusammen. "Verflixte Kobolde! Der Tag soll euch holen!" schimpfte er noch geraume Zeit später, als seine Nase längst zu bluten aufgehört hatte. Immer noch grummelnd klopfte er den Staub aus seinen Kleidern, wobei sein Blick, wie vom Zufall geführt, auf den unscheinbaren Stein fiel, der im schwindenden Tageslicht ein seltsames Eigenleben führte.
"Nanu!" rief Wanja verwundert aus und kniff zur besseren Fokussierung die Augen zusammen. Durch die Bluttropfen hatte der Stein ein fast menschliches Aussehen gewonnen. Zwei dicke Tropfen markierten die Augen; ein dritter, der leicht verlaufen war, bildete die Nase und den Mund, besser gesagt, einen halben Mund. Der Stein lächelte schief nach oben. "Armer Kerl!" dachte Wanja und musterte den winzigen Burschen genauer. "Sicherlich ein Geburtsfehler … Sieh nicht hin!" mahnte er sich
selbst, während er sich bückte und den seltsamen Waldbewohner aufhob. "Sollte ich Sie bei meinem Sturz in irgendeiner Weise verletzt haben, so bitte ich Sie herzlich um Entschuldigung", "Nein. nein! Ich bin nicht zu Schaden gekommen", hörte er das feine Stimmchen hüsteln. "Nur etwas kalt ist mir." "Wenn Sie nichts anderes …" Wanja räusperte sich vernehmlich, weil er sich von der Situation ein wenig überfordert fühlte. "Einen guten Trunk und ein herzhaftes Mahl in einer
warmen Stube könnte ich Ihnen anbieten … Entschuldigung!" Wanja zog umständlich ein riesiges Taschentuch aus der Tasche, schnäuzte sich vernehmlich und glaubte gerade noch die letzten Worte seines Gastes zu vernehmen, der seine Einladung dankbar annahm.
Wanja packte den kleinen Kerl vorsichtig in seine rechte Manteltasche und trabte vergnügt nach Hause. Zum einen war er froh, dass er sich bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt hatte und zum anderen freute er sich auf eine anregende Unterhaltung. In den vergangenen Jahren, seit seine Frau in die Stadt gezogen war, um der Einsamkeit zu entgehen, hatte er nur selten Gäste empfangen; er lebte still und für sich allein. Natürlich unterhielt er sich zuweilen mit den Dorfbewohnern, wenn er beim Bäcker anstehen musste
oder sich bei Roga die Wochenzeitung kaufte. Die kurzen Gespräche drehten sich zumeist um die kleinen Alltäglichkeiten, welche natürlich ihre Bedeutung besaßen, doch eben jährlich wiederkehrende Wiederholungen darstellten und deshalb nicht den Stoff für Geschichten bilden konnten, weil sie längst beschrieben wurden.
Wanja schloss die Tür hinter sich. Dann nahm er den kleinen Burschen behutsam aus der Tasche und setzte ihn auf seinen wuchtigen aus altem Eichenholz gezimmerten Schreibtisch, der des Nachts so manches bedrohliche Geräusch verursachte und ihn des Öfteren aus dem Schlaf riss.
"Alles in Ordnung?" "Hmm", flüsterte das dünne Stimmchen. "Sieh dich ruhig um! Nur zu! Ich bereite derweil die Mahlzeit vor." Wanja legte den Mantel ab, hängte ihn ordentlich auf den Haken neben der Tür und verharrte plötzlich wie angewurzelt. "Was bin ich doch für ein unhöflicher Mensch!" schimpfte er sich selbst wie einen ungezogenen Jungen aus, trat auf den winzigen Kerl zu und stellte sich, wie auf Lurja üblich, vor: "Entschuldigen Sie! Ich vergaß mich vorzustellen.
Wanja ist mein Name, und ich bin von Berufs wegen Geschichtenerfinder." Er verbeugte sich so tief, dass der siebte Wirbel etwas den Kontakt mit seinen Nachbarn verlor und schmerzvoll darüber protestierte. "Uhh!" stöhnte Wanja und richtete sich ganz behutsam auf. "Ich bin das Glück!" piepste die Stimme, und als ob es nur dieses Wortes bedurft hätte, verging der Schmerz in seinem Rücken, ja, er fühlte sich augenblicklich um Jahre verjüngt. "So, Ihr Name ist Glück? Seltener Name. Sie
kommen von auswärts?" Als er auf seine Frage keine Antwort erhielt, nickte er verständnisvoll und kümmerte sich um das Essen. ‚Erst erdrücke ich den kleinen Burschen fast und dann überschütte ich ihn mit Fragen. Was muss er bloß für einen Eindruck von mir gewonnen haben!"
Später saßen sie zusammen am Tisch, und während Wanja kräftig zulangte und seinen Teller mehrmals mit der köstlichen Gemüsesuppe füllte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Gast kaum einen Bissen zu sich nahm. ‚Na ja, so ein kleiner Kerl, der verträgt halt nicht viel', vermutete er achselzuckend und schöpfte sich erneut nach. Endlich, nach dem sechsten oder siebten Teller, sank er ermattet zurück, rieb sich genussvoll seinen prallen Bauch und stöhnte zufrieden. Nach dem dritten Becher Wein
erzählte er gestenreich von der schweren Arbeit, die ein Geschichtenerfinder in Wahrheit leisten musste, ganz im Gegensatz zu der weitläufigen Meinung, dass es praktisch wie von selbst ginge und die deshalb nur selten jemand angemessen würdigte. "Ich setze mich nicht morgens mit dem Sonnenaufgang an den Schreibtisch und erfinde..." -Wanja schnippte mit den Fingern. -"...ruckzuck eine Geschichte. Aber ich langweile Sie sicherlich …" Er wartete geraume Zeit, schließlich war er ein höflicher
Mensch, und als Herr Glück keine Erwiderung von sich gab, fuhr er, hocherfreut über den interessierten Besucher, fort. "Da steckt verdammt mehr Arbeit dahinter. Zuerst benötigt jeder gute Geschichtenerfinder eine Idee. Das, müssen Sie wissen, ist eine Grundvoraussetzung. Die muss wie ein kleines Kind gehütet, gehätschelt und sehr behutsam großgezogen werden. Mit Glück - oh, entschuldigen Sie -, kommt ein Anfang, die eine oder andere Person hinzu und … na ja! Dann schreibt man die ersten Sätze nieder und
so kommt ein Teil zum nächsten …" Plötzlich verstummte Wanja. Er griff nach seinem Glas, trank es in einem Zug leer, während er sich mit der anderen Hand verschämt eine Träne von der Wange wischte. "Ach!", sagte er mit wehmütiger Stimme "Ich träume von der einen großen Geschichte. Sie soll die Menschen verzaubern, in ihren Bann schlagen, so dass sie das Buch bis zum Schluss nicht aus der Hand legen können. Eine Geschichte, lieber Herr Glück, die mehrmals gelesen werden kann, ohne ihren Zauber
einzubüßen, ja, im Gegenteil, stets neue Details offenbart, welche dem Leser zuvor überhaupt nicht aufgefallen sind. Verstehen Sie? Aber … das sind Träume. In Wahrheit fällt mir überhaupt keine Geschichte mehr ein …" "Hmm", piepste der kleine Bursche zuversichtlich, "Sie werden sie schreiben." "Ja", hauchte Wanja glücklich, schloss die Augen und schlief kurz darauf in seinem Stuhl ein.
Am nächsten Morgen frühstückten sie ausgiebig, wobei der winzige Bursche - so kam es Wanja jedenfalls erneut vor - nur zaghaft zugriff. Ja, selbst von der hausgemachten Leberwurst nahm er nur eine winzige Messerspitze. ‚Er wird schon nicht verhungern,' tröstete Wanja seine aufkeimende Besorgnis. Nachdem er sich seinen dritten Becher Kaffee eingeschenkt hatte, stand er frohgelaunt auf, entschuldigte sich bei dem kleinen Kerl und empfahl sich bis zur Mittagszeit. "Es ist die Arbeit, die mich ruft. In der Kammer
nebenan finden Sie einige ausgezeichnete Bücher, oder Sie können einen Spaziergang machen." "Hmm", erhielt er einsilbig zur Antwort, obwohl der kleine Bursche, erfreut über so viel Aufmerksamkeit und Gastlichkeit, dankbar lächelte. "Dann darf ich mich jetzt zurückziehen. … Nun denn!" Voller Tatendrang durchmaß er den Raum, setzte sich an den Schreibtisch, legte in ritueller Weise Papier und Stifte zurecht und betrachtete dann mit schief gelegtem Kopf einen imaginären Punkt an der Decke.
So, in seiner Denkerpose erstarrt, grübelte er intensiv über einen möglichen Anfang nach, der bei dem Leser sofort Interesse wachrufen würde.
"Es wird eine große Geschichte werden." "Wie?" Wanja schreckte aus seinen Überlegungen auf. Der kleine Herr Glück beobachtete ihn, lächelte schief und nickte ihm aufmunternd zu. Irritiert schloss Wanja die Augen und begann - ein Zeichen seiner Nervosität - an seinem Stift zu kauen. ‚Eine große Geschichte.' Die Worte, kaum hörbar, gingen ihm mehrmals durch den Kopf, und plötzlich öffnete sich vor ihm ein großes schrecklich in den Angeln schnarrendes Tor. Licht fiel in seine seit siebzig Tagen
verknoteten Erfinderzellen, ein Geistesblitz, wie er ihn noch nie zuvor in seinem bisherigen Leben wahrgenommen hatte. "Wäre es nicht heller Tag gewesen", -so erzählte er es später dem Bäcker - "dann hätte ich sämtliche Kerzen überstrahlt."
Noch blendete ihn der Glanz des Geistesblitzes, doch mit der Zeit gewöhnte er sich an das strahlende Licht und vor innerer Erregung zitternd, breitete sich seine Geschichte vor ihm aus. Alles war da! Wanja brauchte nur den einzelnen Szenen zu lauschen. Mit ungeheuerer Behändigkeit flog seine Hand über das Papier und füllte Bogen um Bogen. Der Schweiß trat ihm vor Anstrengung auf die Stirn, und während seine Schreibhand mit magischem Eifer der Handlung folgte, wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der
Stirn. Bis zum Mittag hielt ihn der Geistesblitz in seinem übernatürlichen Licht gefangen, ehe er langsam verblasste und einen völlig ermüdeten Geschichtenerzähler zurück ließ. Der Stift entglitt seiner kraftlosen Hand. Wanja war so erschöpft, dass er sich nicht einmal daran erinnern konnte, ihn frisch angespitzt zu haben. Zitternd, mit schmerzendem Handgelenk, ordnete er den Stapel Papier und legte ihn, als handle es sich um das Geschenk einer guten Fee, andächtig vor sich hin. Er warf einen neugierigen Blick
auf die erste Zeile. "Nein! Erst wenn die Geschichte vollendet ist! Solange werde ich mich gedulden und … ja, Herrn Glück werde ich sie als Erstem vorlesen." Erst jetzt erinnerte er sich seines Gastes. Doch der kleine Kerl saß auf dem Tisch, lächelte gutmütig und wartete vermutlich auf das Mittagessen.
Gegen Nachmittag unternahmen sie gemeinsam einen längeren Spaziergang, wobei der kleine Bursche in der Kerbe von Wanjas Hut einen aussichtsreichen Platz fand. Die Landschaft flog nur so an ihm vorüber und wenn Wanja kurz am Wegesrand stehen blieb, um ein paar Worte mit den Bauern der Nachbarschaft zu wechseln, dann kullerte er hin und her, weil jeder Satz mit einem bestätigenden Nicken abgeschlossen wurde, bis Wanja sich verabschiedete und wieder in seinen gleichmäßigen Schritt verfiel. Später am Abend wurden
die Kerzen angezündet und während der winzige Kerl einen Ehrenplatz auf Wanjas Schreibtisch erhielt, schrieb dieser, von seinem persönlichen Geistesblitz entrückt, weiter an seiner großen Geschichte.
So gingen die Tage dahin, dehnten sich zu Wochen und aus dem warmen Spätsommer wurde es Herbst, gefolgt von einem frühen Winter. Bis in den Frühling arbeitete Wanja an seiner großen Geschichte, begleitet von den aufmerksamen Blicken des kleinen Kerls, dessen Gesicht über die dunkle Jahreszeit blass, fast farblos geworden war.
"Geschafft!" Wanja legte den Stift beiseite, reckte die Arme in die Luft, als ob dort oben die saftigsten Früchte hingen und schrie seine Freude übermütig hinaus. "Juhuu! Sie ist fertig. Der Traum meines Lebens, meine große Geschichte." Und tief in seinem Herzen wusste, ja, fühlte er, dass ihm etwas Außergewöhnliches gelungen war. Mit beiden Händen nahm er den dicken Stapel voll beschriebener Bogen Papier und zeigte sie voller Stolz dem kleinen Kerl. "Das verdanke ich Ihnen, lieber Herr
Glück. Seit wir uns zufällig trafen … das Schicksal uns zusammen führte, " -selbst jetzt noch rötete die Erinnerung sein Gesicht - "flogen mir die Ideen … nur so zu." Stotternd brach er ab und trocknete mit der Schulter sein Gesicht.
Schweigsam saßen sie am und auf dem Schreibtisch und betrachteten ehrfurchtsvoll die große Geschichte. "Gleich morgen früh", erklärte Wanja dem winzigen Burschen, "bringe ich sie sofort in die Druckerei vom krummen Korbe. Der wird Augen machen! Hoffentlich geht ihm das Papier nicht aus." Er lachte herzhaft und in den kurzen Atempausen vernahm er die glockenhellen Ausrufe des kleinen Kerls: "Juhee! Juhee!"
Den ganzen Abend über lachten und scherzten sie miteinander und wie es in solch erhebenden Momenten Brauch ist, floss der Wein in Strömen. Wanjas Nase färbte sich zusehends und als sich der Farbton ins Violette zu verschieben begann, rutschte er sanft vom Stuhl und blieb schnarchend auf dem Boden liegen.
Am Morgen verabschiedete sich Wanja von seinem Mitbewohner, allerdings ohne die obligatorische Verbeugung, gegen die sein Kopf bereits im Ansatz protestierte. So eilte er zur Tür, warf sich Mantel und Hut über und lief, als hätten unsichtbare Helfer seine abgetragenen Schuhe in der Nacht gegen Siebenmeilenstiefel umgetauscht, im Laufschritt in Richtung Dorf. Seiner Gewohnheit entgegen wandte er sich an diesem besonderen Tag nicht noch einmal zur Haustür um, und so blieb ihm der Umstand verborgen, dass sie einen
Spalt breit offen stand. Das war angesichts der friedliebenden Menschen auf Lurja kein Grund zur Besorgnis, zumal der letzte Dieb bereits vor vielen Jahren gestorben war und der Berufsstand seither als verwaist galt. Kobolde, jedenfalls die Lurjasche Gattung, wagten sich ja am hellen Tag nicht aus ihren Behausungen, und so wäre es eigentlich nicht weiter schlimm gewesen, wenn nicht gerade an diesem Tag ein fürchterliches Unwetter heraufgezogen wäre. Wanja hatte gerade beim krummen Korbe angeklopft, als Wind aufkam,
der sich binnen kürzester Zeit zu einem gefährlichen Sturm auswuchs. Blitze zerteilten die Luft, drohten donnernd den Knechten auf den Feldern, und kaum war die Warnung ausgesprochen, da öffnete der Himmel seine Schleusen.
Wanjas Haustür wurde aufgerissen, krachte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen die Wand und verhakte sich dort. Die erste Sturmbö wirbelte sämtliche Papiere von seinem Schreibtisch hoch in die Luft. Stifte rollten wie toll geworden vor dem heulenden Sturm davon, versuchten sich vergeblich auf dem Boden in Sicherheit zu bringen. Nichts blieb an seinem gewohnten Platz. Selbst der kleine Kerl wurde über die Kante gefegt, krachte hart zu Boden, hüpfte als willenloser Spielball der Naturkräfte quer durch den Raum und fiel
nahe dem Kamin in eine tiefe Bodenritze. Nichts war mehr von ihm zu sehen, kein Laut drang aus der Tiefe; er verschwand, wie er aufgetaucht war.
Wanja blieb bis zum späten Abend beim krummen Korbe. Erstens gab es wegen der großen Geschichte viel zu besprechen und zweitens setzte bei einem derartigen Unwetter kein vernünftiger Mensch auch nur einen Fuß vor die Haustür. So kam er erst spät in der Nacht heim und fand sein Haus in größter Unordnung vor. Die ganze Nacht über räumte er auf und wischte den Boden trocken, denn überall hatte das Unwetter seine Spuren in Form kleiner Seen zurückgelassen. So kam es, dass er praktisch erst mit dem ersten Hahnenschrei
an Herrn Glück dachte. "Hallo! Wo sind Sie, Herr Glück?" Überall suchte er nach dem kleinen Kerl, und je länger er vergeblich nach ihm Ausschau hielt, desto verzweifelter rief er nach ihm: "Hallo, Herr Glück! Hören Sie mich? Wenn ja, dann antworten Sie bitte!" Nichts!. Der kleine Bursche blieb verschwunden. Noch tagelang kroch Wanja auf allen Vieren durch den Raum, ja selbst die nähere Umgebung nahm er gründlich in Augenschein. Zu seinem Leidwesen wurde die Mühe nicht belohnt: Herr Glück blieb
verschwunden.
Die Tage vergingen und mit der Zeit schwand die erste große Trauer über den Verlust des Freundes, und als im Sommer, genau zur Sonnenwende, seine große Geschichte zu den Menschen gelangte und sie einmal zu Tränen rührte, dann wieder herzhaft auflachen oder nachdenklich nicken ließ, erholte er sich langsam.
Seine große Geschichte wurde ein Erfolg und machte Wanja bis in den letzten Winkel von Lurja berühmt. Selbst Besucher, welche sich nur auf der Durchreise befanden, klopften bei ihm an die Haustür, nur um ihn einmal persönlich zu sehen. Wanja war glücklich. Er hatte seine große Geschichte geschrieben, und wenn er jetzt im Wald spazieren ging, um neue Geschichten zu erfinden, dann lauschte er wie früher den Gesprächen der Vögel, die ihm der Wind heimlich zutrug und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht eine
Geschichte zu schreiben begann oder an einer etwas längeren weiter arbeitete, ehe er den Stift beiseite legte und das fertige Werk auf den Stapel zu den anderen packte.
Die Jahre vergingen und trotzdem senkte sich an keinem Tag die Sonne ihrem Ruhebett entgegen, ohne dass Wanja nach Herrn Glück Ausschau gehalten hatte. "Der kleine Kerl!" murmelte Wanja oft und ertappte sich zuweilen selbst dabei, wie er Herrn Glück ins Reich der Träume versetzte, so, als hätte er nie wirklich existiert. Dann winkte Wanja lächelnd ab und schalt sich selbst einen alten Narren.
Eingereicht am 21. Januar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.