Der dicke Mann und der Stuhl
© Manfred Schröder
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der gut und gerne, doch vor allen Dingen viel ass. Deswegen war er auch so furchtbar dick. Der dicke Mann war sehr vornehm und anspruchsvoll. Und weil er sehr reich war, konnte er sich viel mehr leisten, als die meisten Menschen in dieser Welt und hätte deswegen ja auch zufrieden sein können. Doch das war er nicht. Denn es gab ein grosses Problem, worüber der dicke Mann sehr traurig war. Alle Stühle, auf die er sich setzte, gingen schon nach kurzer Zeit entzwei. Sie brachen
einfach unter seiner Last zusammen. Und da auch die Stühle nicht einfach und robust sein durften, sondern wie alles andere, vornehm und zierlich, musste er sich fast jede Woche einen neuen kaufen.
Darum ging er denn wieder einmal, wie unzählige Male vorher, durch die teuerste Geschäftsstrasse der Stadt, wo es alle die schönen und anspruchsvollen Sachen zu kaufen gab, auf der Suche nach einem neuen Stuhl. So blieb er hier stehen und dort und sein Herz schlug erregt beim Anblick all der herrlichen Sachen in den Schaufenstern. Am meisten interessierten ihn natürlich die Antiquitätengeschäfte, in denen er ein beliebter, und wie die Verkäufer sagten, beleibter Kunde war. Doch das letzte sagten sie nur heimlich
kichernd untereinander.
Plötzlich blieb der dicke Mann wie angewurzelt vor einem Antiquitätengeschäft stehen. Da stand er doch, mitten in der Schaufensterauslage; der Stuhl seiner Träume; seiner ganzen Wünsche und Hoffnungen. So zierlich und fein, dass er seine Augen garnicht davon ablassen konnte.
-Ein richtiges Rokokokostühlchen-, flüsterte er andächtig, wobei er vor innerer Aufregung ein ko zuviel aussprach.
-Solch ein herrliches Stück hat ja die Welt noch nicht gesehen. Was es auch kosten mag; dieses muss ich haben.-
Und er vergass natürlich wieder vollkommen, dass er an diesem zierlichen Stühlchen keine lange Freude haben würde. Der Verkäufer des Geschäftes hatte längst durchs Fenster bemerkt, dass der dicke Mann, den er gut kannte und schätzte, den Stuhl mit leuchtenden Augen betrachtete. Schnell setzte er noch eine Null hinter dem Preis, der am Stuhl befestigt war. Als der dicke Mann das Geschäft betrat, läutete leise und vornehm eine kleine Glocke, die oberhalb der Türe befestigt war. Der Verkäufer lächelte, grüsste
ergeben und blieb in Habachtstellung stehen. Der dicke Mann lächelte zurück und deutete stumm, aber mit glänzenden Augen auf den Stuhl im Schaufenster. Der Verkäufer schaute den dicken Mann zunächst ein wenig fragend an, so als ob er nicht sofort begriffe. Doch dann ging ein füchsisches Lächeln über sein Gesicht.
-Ja, natürlich. Jetzt verstehe ich-, sagte er, in dem er ebenfalls auf den Stuhl zeigte.
-Ja, ein herrliches Stück. Das beste, ach, was sage ich, das allerbeste, das kostbarste, das wir je hatten. Ein einmaliges Kunstwerk eines grossen Meisters. Und sehr preiswert.-
-Was kostet er?-
Der dicke Mann atmete schwer vor Erregung.
-Hundert Euro-, antwortete der Verkäufer. Und da ihm plötzlich einfiel, dass er soeben eine Null dem ursprünglichen Preis hinzugefügt hatte, verbesserte er sich noch schnell und sagte:
-Hundert Euro ist alleine ein Stuhlbein wert. Der ganze Stuhl kostet nur tausend Euro.-
War der dicke Mann auch sonst sehr geschäftstüchtig; in solchen Augenblicken liess er sich immer übers Ohr hauen.
-Gut-, sagte er. -ich nehme ihn.
Mit seinen gepflegten Fingern zog er einige Scheine aus seiner Brieftasche und überreichte sie dem Verkäufer.
-Ich hoffe, sie können ihn mir noch heute bringen lassen. Sie kennen ja meine Adresse.-
Der Verkäufer versprach es mit unterdrücktem Jubel, da er an seine Provision denken musste. Als der dicke Mann das Geschäft wieder verliess, blickte er noch einmal zum Stuhl hin und murmelte:
-Welch ein herrliches Stück.-
Er ging zum Auto, wo der Chauffeur auf ihn wartete und liess sich zu seiner Villa fahren, die ausserhalb der Stadt lag. Sofort setzte er sich auf den Balkon seines Schlafzimmers, welches sich im ersten Stock befand und schaute in fiebriger Erwartung auf das grosse Eingangstor des Parks. Vor lauter Stuhl hatte er sein Mittagessen, einen Berg voll brasilianischer Kartöffelchen, Rindsbraten mir Spargel und Eiscreme mit Sahne, vollkommen vergessen. Seine treue, doch unterbezahlte Haushälterin Frida, konnte sich nicht
erinnern, dass so etwas früher schon einmal passiert war. Doch aus Erfahrung klug geworden, störte sie ihn nicht und wartete der Dinge, die da kommen würden.
´Sollte man meinen Stuhl heute doch nicht bringen´, dachte der dicke Mann traurig und blickte die ganze Zeit nervös auf seine goldene Armbanduhr, die ihm auch nur zeigte, dass die Zeit verging.
´Ach, das wäre schade. Wo ich mich so darauf gefreut habe.´
Endlich, es war schon Abend und die Sonne versank hinter den hohen Bäumen, die im Park standen, kam der Besitzer des Geschäftes, höchstpersönlich, um ihm den Stuhl zu überreichen.
Wie der dicke Mann plötzlich die Treppe herunterlaufen konnte, als er den Wagen in den Park einbiegen sah. Wenn auch nicht so schnell, wie Frieda, wenn er nach ihr rief.
´Mein Gott´- dachte diese, ´das kann nur ein neuer Stuhl sein.´
Der Antiquitätenhändler strahlte übers ganze Gesicht, als er dem dicken Manne den Stuhl überreichte.
-Wo gibt es sonst noch so etwas herrliches-, sprudelte er los.
-Zuerst war ich ja ein wenig böse mit meinem Verkäufer, dass er dieses Prachtstück so billig verkauft hatte. Doch als er mir sagte, dass Sie der Käufer waren; nun, ein solch treuer Kunde. Ja, Sie hatten Glück, dass wir gerade jetzt ein solches Exemplar in unserem Geschäft hatten.-
Der dicke Mann schwieg vor Freude und Entzückung und betrachtete nur seinen Stuhl, sein Stühlchen, welches er in seinen Händen hielt. Das Gerede des Antiquitätenhändlers hatte er wohl kaum wahrgenommen. Dieser, der es auch bemerkte, sagte noch ein paar Albernheiten, verabschiedete sich und fuhr davon. Der dicke Mann trat ins Haus zurück und rief mit lauter Stimme nach seiner Frieda, damit auch sie käme, sein Stühlchen zu bewundern.
-Als ob ich nicht wüsste, was gekommen ist-, seufzte sie in ihrer Küche. Sie kam heraus und schlug, der dicke Mann hielt es für Begeisterung, die Hände über den Kopf zusammen.
-Jesses-, rief sie aus, -welch ein Stühlchen. So etwas gibt´s bestimmt kein zweites Mal auf der Welt.-
Anstatt Stuhl, sagte sie Stühlchen, um ihm eine Freude zu machen. Der dicke Mann nickte.
-Ob ich mich heute schon darauf setzen soll?-
Da Frieda nicht wusste, ob die Frage an sie gerichtet war, murmelte sie nur, -Na, ja-, und schaute ihn aus schrägen Augen an.
-Nein-, rief der dicke Mann aus, -nein. Erst will ich in Vorfreude schwelgen. Ist sie nicht die schönste Freude? Neben meinem Bett will ich es stellen und bei seinem Anblick in den Schlaf gleiten.-
Er schwieg einen Augenblick und stieg dann mit seinem neuen Schatz die Treppe hinauf und verschwand in seinem Schlafzimmer. Dass er nicht übers Essen gesprochen hatte, konnte Frieda nur recht sein. Der ganze Abend würde ihr alleine gehören. Da das Schlafzimmer des dicken Mannes direkt über ihrem Zimmer lag, hörte sie ihn noch den ganzen Abend vor Freude über seinen Stuhl seufzen, hörte, wie er mit ihm sprach und fand es wie immer, reichlich albern. Doch da sie schon lange in diesem Hause war, wunderte sie sich
über nichts mehr. Und der dicke Mann träumte, dass alle Stühle, auf die er sich setzen wollte, davonliefen und er bis in alle Ewigkeit zum stehen verurteilt war. Zum Glück wachte er auf, doch es dauerte lange, bis er wieder erneut in den Schlaf fiel.
Am anderen Morgen, schon ganz in der Frühe, war der dicke Mann, der sonst ein ausgesprochener Langschläfer war, schon hellwach. Die Sonne blinzelte durchs Fenster und der dicke Mann blinzelte aus kleinen, hinter viel Fett versteckten Augen zum Stühlchen hin.
´Mein Glück kann mir niemand mehr nehmen´, freute er sich und krabbelte mühsam aber glücklich aus den Federn. Er blieb noch einen Augenblick auf der Bettkante sitzen und schaute voller Besitzerstolz auf seine neue Errungenschaft, welche dort ruhig und friedlich auf seinen zierlichen vier Beinen stand.
´Ein Fest werde ich für dich geben´, dachte er und warf begeistert seine Arme in die Höhe.
´Uns alle Welt werde ich einladen, damit sie dich bewundern und mich beneiden. Ich muss gleich Frieda Bescheid geben, damit sie alles vorbereitet.´
Der dicke Mann erhob sich ächzend von seiner Schlafstätte. Sein ganzer Körper wabbelte unter seinem langen, seidenen Nachthemd hin und her.
´Dann wollen wir mal ein kleines Probesitzen machen. Noch nie war meine Vorfreude zugleich so schön und grausam gewesen. Stühlchen, Stühlchen, hoffentlich weisst du diese Ehre zu schätzen.´
Behutsam nahm er es in seine Hände und zog es an sich heran. Er wischte nicht vorhandenen Staub ab, und streichelte es zärtlich. Dann drehte er sich langsam herum und ihm war, als würde er eine heilige Handlung vollziehen. Und während er sich setzte, erfüllte ihn ein Wohlbehagen, das seinen ganzen Körper durchzog. Doch was war das? Er setzte sich und setzte sich, doch der edelste Teil seines Körpers wollte nirgends wo Platz finden. Nein, das war kein Sichsetzen mehr. Das war ein Fallen und der dicke Mann sass,
ehe er sich versah, auf dem Boden. Direkt neben dem Stühlchen. Er war so verdutzt, dass er zunächst nicht begriff, was geschehen war.
-Was ist passiert-, rief er aus.
-Warum sitze ich auf dem Boden und nicht auf meinem Stühlchen?-
Dieses stand ganz unschuldig und so bescheiden da, als könne es kein Wässerchen trüben.
´Das ist seltsam´, dachte der dicke Mann.
´Wie kann mir solches geschehen? Na, nichts grosses und schlimmes ist passiert. Nur gut, dass Frieda mich nicht so gesehen hat. Das wäre das ärgste gewesen.´
Mit viel Mühe, unter ächzen und stöhnen, erhob er sich.
´Versuchen wir es noch einmal.´
Er schaute wieder zärtlich, wenn auch ein wenig vorwurfsvoll auf das Stühlchen, welches lieb und brav neben ihm stand. Er drehte sich wieder herum und setzte sich ganz langsam. Und wieder schien das Sichsetzen kein Ende zu nehmen. Und plums, sass er wieder auf dem Boden. Er schaute sich verwundert und aufgeregt umher und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf.
´Träume ich, oder was ist los. Solches ist mir ja noch nie passiert. Na, aller guten Dinge sind drei.´
Als er jedoch nach dem Stuhl griff, fasten seine Hände ins Leere, sodass er beinahe nach vorne gefallen wäre. Denn das Stühlchen hatte mit seinen zierlichen Beinen einen kleinen Schritt zur Seite getan.
-Was habe ich denn da gekauft-, rief er aus. Jetzt schon mehr erzürnt als erstaunt.
-Ein Stuhl, der seine Possen mit mir treibt. Das ist also der Grund, warum ich mich schon zweimal auf den Boden gesetzt habe. Ich bin zwar dick und die Leute lachen darüber. Aber zum Narren lasse ich mich nicht halten. Denn diesen stolzen Preis habe ich nicht umsonst für dich ausgegeben.-
Und erneut griff er nach dem Stuhl. Doch dieser machte, kaum streckte er die Hand nach ihm aus, einen eleganten Satz zur Seite.
´Warte nur´, dachte er, ´nicht mit mir.´
Doch immer war der Stuhl schneller und wich geschickt aus, sodass der dicke Mann mehrmals auf den Boden fiel. Durch diesen Krach wurde Frieda wach.
´Was ist denn da oben los. Ich dachte, er hätte einen neuen Stuhl gekauft und keinen Elefanten.´
Und da der Krach und das Stöhnen und Fluchen des dicken Mannes kein Ende nehmen wollte, beschloss sie nach oben zu gehen, um zu schauen, was los war. Sie zog ihren Morgenmantel über und lief, so schnell sie konnte, die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf. Und was sah sie, als sie die Türe öffnete? Beinahe hätte sie zu lachen angefangen. Da lag der dicke Mann, wie ein Käfer auf seinem Rücken; die Beine und Arme von sich gestreckt und versuchte sich auf die Seite zu drehen. Doch sie beherrschte sich noch und
rief:
-Du meine Güte, was ist denn da passiert?-
-Helfen sie mir-, rief er mit hochrotem Gesicht. Wie war er voller Wut und Scham, dass er so vor ihr auf dem Boden lag. Mit viel Mühe, schaffte sie es, ihn wieder hoch zu bekommen.
-Was ist denn passiert-? fragte sie nochmals.
-Ach, schweigen Sie. Nichts ist passiert.-
Er schaute sich im Zimmer umher.
-Wo ist mein Stuhl?-
Vor lauter Aufregung hatte er vergessen Stühlchen zu sagen. Frieda zeigte mit dem Finger zur Türe.
-Dort steht er ; an der Treppe. Wie kommt er denn auf einmal dort hin?-
-Wie kommt, wie kommt-, schrie der dicke Mann und stürzte sich auf ihn.
-Ich kriege dich.-
Doch der Stuhl hüpfte, kam war nahe heran, die Treppe herunter.
-Ich kriege dich-, wiederholte er und griff erneut nach dem Stuhl.
´Das wird heiter´, dachte Frieda.
´Er scheint verrückt geworden zu sein.´
Da jagte er nun mit wabbelnden Körper und wehendem Nachthemd dem Stuhle nach. Von einem Zimmer ins andere. Über den Flur, durch Küche und Wohnzimmer. Die Treppe hinauf und hinunter.
´Ihm das auszureden, hat wohl keinen Sinn´, dachte Frieda. Denn wie er auch war. Einen Charakterzug hatte er; störrisch wie ein Esel konnte er sein.
´Dieses Schauspiel werde ich mir nicht entgehen lassen,´schmunzelte sie.
Sie nahm einen Stuhl und setzte sich so, dass sie nicht zu sehen war und schaute, wie er dem Stuhl nachjagte.
´Wie lange mag er dies noch durchhalten´, dachte sie.
´In der Zwischenzeit werde ich mir ein Tässchen Kaffe kochen.´
Und so verging die Zeit. Sie speiste fürstlich zu Mittag; ass Kuchen mit Schlagsahne und blickte dem dicken Manne nach, der Stunde um Stunde hinter dem Stuhl herlief und Pfund um Pfund abnahm. Als die Sonne hinter den Bäumen im Park langsam versank, war er kaum wiederzuerkennen. Die Verwandlung war wirklich vollkommen. Aus dem dicken Mann war, na sagen wir es ruhig, ein schlanker Jüngling geworden, der in seinem seidenen Nachthemd fast nicht zu sehen war.
-Welch ein Wunder ist grösser. Ein laufendes Stühlchen, oder die Verwandlung eines dicken Mannes-, rief Frieda aus. Dieser blieb plötzlich stehen und ging zum grossen Spiegel, der in Goldrahmenfassung im Flur hing. Lange blieb er davor stehen und schüttelte immer wieder seinen Kopf. Befühlte sich von oben bis unten und konnte nicht glauben, was passiert war.
-Frieda-, rief er, eher ängstlich als befehlend, -Frieda, bin ich es noch?-
Sie blickte ihn bewundernd an.
-Sie sind es und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt. Einen neuen Speiseplan werde ich aufstellen, auf dem weder fettes Fleisch noch Sahnetorte steht.-
-Frieda-, sagte er, -diesmal sollen Sie das letzte Wort haben.-
Er schaute sich um.
-Wo ist mein Stühlchen?-
-Da kommt es-, sagte Frieda lächelnd. In der Tat, da kam es angehüpft und blieb neben dem dicken Mann, pardon, schlanken Jüngling stehen.
Frieda nickte.
-Nun können sie sich ruhig setzen. Es braucht jetzt keine Angst mehr zu haben, dass es nach einer Woche schon entzwei geht.-
Er zog es zärtlich an sich. Ganz langsam und vorsichtig setzte er sich, als müsse er immer noch ein wenig vorsichtig sein. Doch nein; das Stühlchen blieb artig stehen und er sass.
Seit dem lebten sie alle drei, der Mann, das Stühlchen und Frieda in Frieden und Eintracht miteinander.
Eingereicht am 12. Januar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.