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Eine tierische Freundschaft

© Simon Klages


Wie Jäger zu Gejagten werden
Verlassen in der Einsamkeit, die Steilklippen zur rechten, die Schlucht zur linken, rollte der blaue Kleinlaster den schmalen Gebirgspass hinab. Es dämmerte und die Lichtkegel der Scheinwerfer tanzten auf der brüchigen Straße wie ein Paar Marionettenartiger Monde.
In dem Gefährt saßen zwei Männer. Der Fahrer, ein großer kräftiger Mensch mit brutalem Gesicht und rauer Stimme, sah äußerst zufrieden aus. "Lief ja wie am Schnürchen, was, Willi?", raunzte er, indessen er seine Tellergroße Hand auf den Rücken des Beifahrers niedersausen ließ. Dieser, wesentlich kleiner und mit einer gewaltigen Hakennase ausgestattet, stöhnte vor Schmerzen auf, nickte dann aber zustimmend. "Ja, Kurt, auch wenn es ganz schön anstrengend war." Und sich die Schulter reibend, ergänzte er listig: "Aber was für ein Prachtexemplar, der Bursche. Ich sag's dir; für den muss Fellucini noch was extra abdrücken."
Fellucini hieß der kleine Wanderzoo, dessen ganzer Stolz, der Braunbär Bronco, kürzlich gestorben war. Da gab es keine zwei Meinungen- ohne seine Hauptattraktion war der Zoo nicht einmal die Hälfte wert. Allein am Geld fehlte es, um einen neuen Bären zu kaufen, und so hatte Fellucinis Direktor die beiden Männer beauftragt unter dem Siegel der Verschwiegenheit Ersatz zu beschaffen.
Tatsächlich war ja auch alles nach Plan verlaufen. Unter gebotener Vorsicht, um unerwünschte Zeugen des verbotenen Unternehmens zu vermeiden, hatte man den Unterschlupf eines kräftigen Bären ausfindig gemacht und ihn überrascht und betäubt. Schwierig freilich war es gewesen das Zentnerschwere Tier anschließend zum Wagen zu transportieren und dort unterzubringen. Meter für Meter hatten sich die Männer in dem unwegsamen Gelände vorangekämpft und dabei immer wieder einen Flaschenzug einsetzen müssen, um ein plötzliches Abrollen des fahrbaren Käfigs zu verhindern. Das Ganze war so mühsam gewesen, dass sie letzten Endes nicht nur Schweißgebadet gewesen waren, sondern tatsächlich einige Kilogramm Gewicht verloren hatten.
Um so erleichterter waren die Bärenfänger nach all den Strapazen nun endlich nachhause zu kommen und die versprochene Belohnung zu kassieren. Wenn man das Gebirge erst einmal verlassen hatte, würde der Rest des Weges ein Kinderspiel sein.
Doch da fing der Wagen mit einem Mal an zu vibrieren. Irgendetwas polterte.
"Was war das denn?", rief der Hakennasige Willi erschrocken.
"Ach, das ist der Bär, der ist wohl aufgewacht", gab Kurt zur Antwort. "Aber es kann ja nichts passieren. Er ist doch im Käf..."
Die Worte blieben ihm im Halse stecken als plötzlich ein dunkler Schatten an der Windschutzscheibe vorbeihuschte. Blitzschnell war es gegangen, zu schnell, um erkennen zu können, um was es sich dabei handelte.
"Gott, Kurt! Was ist das?" Willi starrte seinen Begleiter voller Entsetzen an. Doch als dieser verkniffenem Blickes in die Dunkelheit hinausspähte, um die Ursache des unheimlichen Geschehens ausfindig zu machen, schlug etwas krachend auf dem Dach des Autos auf. Und gleich noch einmal. Es schien fast so, als bewerfe Jemand den Wagen mit Steinen.
"Du, das ist mir nicht geheuer", näselte Willi. "Gib doch Gas, dass wir wegkommen."
"Geht nicht", entgegnete Kurt. "Der Pass ist zu eng, um hier zu beschleunigen. Man kann unmöglich schneller fahren, das wäre zu gefährlich."
"Und was machen wir jetzt? Ich meine... da draußen ist doch irgendwas..."
"Ja, sieht ganz danach aus." Kurt überlegte. An Spuk und Übersinnliches glaubte er schon rein aus Prinzip nicht, und so war er davon überzeugt, dass es sich bei den Ereignissen dort draußen um einen schlechten Scherz handelte. In seinem grenzenlosen Selbstwertgefühl und der Auffassung, dass es grundsätzlich niemand wagen dürfe sich mit ihm anzulegen, konnte er sich derartige Dreistigkeiten natürlich nicht gefallen lassen. Sein Gesicht nahm also einen entschlossenen Ausdruck an und er versetzte grimmig:
"Wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Gib mir das Gewehr!"
"Was??", stammelte Willi. "Du willst doch wohl nicht etwa da raus?"
"Natürlich, du Angsthase. Oder willst du nicht wissen, wer uns da zum Narren hält? Außerdem können wir hier drinnen gar nichts machen, sind praktisch ausgeliefert.."
Und ohne auf die beschwörenden Zurückhaltversuche seines Begleiters einzugehen, trat Kurt auf die Bremse, entriss dem kreidebleichen Willi unsanft das Gewehr, öffnete die Fahrertür und trat hinaus in die Dunkelheit.
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"Ist da wer?", rief Kurt als er sich breitbeinig auf der verlassenen, engen Gebirgsstraße platziert hatte. Er versuchte seiner Stimme einen energischen Klang zu verleihen, doch war das leichte Zittern, das in ihr lag, nur schwer zu überhören. Niemand antwortete, nichts rührte sich.
"Komm schon, du Feigling. Zeig dich!"
Bis auf einen leisen Windhauch herrschte Stille.
Mittlerweile war die Dämmerung zur Nacht geworden und da der Mond sich hinter einem dichten Paar Wolken versteckt hatte und es in der verlassenen Gebirgslandschaft keine Laternen gab, konnte man mittlerweile kaum noch die Hand vor Augen erkennen. Kurt fiel der tragbare Akkuleuchter ein, der sich zusammen mit den anderen Gerätschaften hinten im Wagen befand. Er öffnete den Kofferraum, kletterte hinein und sprang kurz darauf mit der riesigen Taschenlampe wieder auf die Straße. Dann ließ er, die Lampe in der einen, das Gewehr in der anderen Hand, den kräftigen, grellen Lichtkegel umherwandern und suchte die Straße und die Felsklippen ab- ohne nur die geringste Spur des Störenfrieds zu entdecken. Auch die Schlucht auf der Westseite bot in ihrer Rabenschwarzen Tiefe keine Erkenntnisse.
Langsam riss Kurt der Geduldsfaden. "Was glaubst du eigentlich wer du bist?", rief er. "Hier einfach so die Leute zu erschrecken! Wobei- glaub' nicht, das wäre dir bei mir gelungen. Willi, ja, der macht sich vielleicht in die Hosen, aber bei mir zieht so was nicht. Ich hab' keine A...."
Da ertönte plötzlich ein schrilles, irres Gelächter und unterbrach seine Rede jäh. Wie tausend Stimmen hallte es von den Bergwänden wieder. Kurt war so erschrocken, dass der Strahl des Akkuleuchters kurzzeitig wie in einer Lasershow durch den Nachthimmel wirbelte. Dann drang auf einmal ein lautes Flattern an sein Ohr und, noch ehe er reagieren konnte, spürte er wie etwas seinen Nacken streifte. Entsetzt riss er den Kopf herum und sah gerade noch wie der unheilvolle Schatten in der Dunkelheit verschwand. Was dann folgte, lässt sich nur schwer beschreiben. Es ertönte ein Laut, ein Geräusch, das so entsetzlich schrill und Ohrenbetäubend war, dass es einem nicht nur durch Mark und Bein fuhr, sondern die äußerste Grenze des Erträglichen überschritt, Körper und Geist in Erschütterung hinterließ. Trotz aller gespielter Gleichgültigkeit, die Kurt vorher an den Tag gelegt haben mochte- nun erlitt er wahrhaftig Todesängste, die er nicht versteckten konnte. Er ließ Gewehr und Lampe fallen und rannte zur Vordertür des Kleinlasters, riss diese auf und wollte gerade anfahren, als sein Blick auf den Beifahrersitz wanderte. Willi war verschwunden! Anscheinend hatte er es angesichts der Schreckeneinflößenden Vorgänge nicht länger ausgehalten und die Flucht ergriffen. Zu Fuß- Kurt hatte wohlweißlich den Zündschlüssel mitgenommen, um zu verhindern, dass sich sein Begleiter kurzerhand mit dem Wagen aus dem Staub machte. Apropos Zündschlüssel! Nun fiel es Kurt siedensheiß ein; er hatte ihn im Kofferraum stecken lassen, als er dort den Akkuleuchter herausgeholt hatte! Die Panik des Bärenfängers wuchs ins Unermessliche. Draußen war dieses Etwas und er saß hier in der Falle... Zurückgehen zum Kofferraum, in dessen Nähe sich ja auch das Gewehr und die Lampe befanden? Sich hier im Wagen einigeln und der Dinge harren, die da kommen sollten? Da platzte mitten in seine wirren Gedanken wieder der schreckliche, der unbeschreibliche Laut in seinem tausendfachen Echo und kurz darauf tauchte am Fenster der unheilsverkündende Schatten auf. Kurt schrie, riss die Fahrertür auf und rannte Hals über Kopf davon, rannte so schnell er konnte, bis die Nacht in verschluckt hatte.
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Janosch, der große zottelige Braunbär, hatte von all dem Tumult nichts mitbekommen. Erst jetzt erwachte er aus seiner Trance. Sein Kopf war schwer und ihm schwindelte. In seinen Ohren klang das Echo eines wahrhaft grauenerregenden Geräusches, dessen Ursache er sich nicht erklären konnte. Zunächst vermochte er keinen klaren Gedanken fassen- alles drehte sich. Wo zum Himmel war er überhaupt? Es war so dunkel hier, dass man kaum etwas erkennen konnte. Aber es schien ein sehr enger Raum zu sein, in dem er sich befand. Und das waren doch.... ja wirklich, ganz unverkennbar; das da vor ihm waren Gitterstäbe! Gitter- diese berüchtigten verruchten Ebenbilder der Unterdrückung von Menschenhand! Langsam begann das verschwommene Bild der Ereignisse in Janoschs Kopf Gestalt anzunehmen. Er erinnerte sich an die zwei Männer, die ihn hinterrücks in seiner Höhle überfallen hatten, daran wie das spitze Etwas in seinen Leib gedrungen war, bevor er sich hatte aufrichten können, und wie ihm im selben Augenblick die Sinne geschwunden waren. Der Bär ließ den Kopf sinken. In seinen schlimmsten Träumen hatte er es sich nicht vorstellen können, einmal in menschliche Gefangenschaft zu geraten. Sicher, früher, als die Bärenjagd noch erlaubt gewesen war, mochte die Gefahr vielleicht bestanden haben, aber das war doch schon Jahrzehnte her! Wie hatte es im Hier und Jetzt nur dazu kommen können? Und, noch viel erheblicher- was würde noch kommen, was würde nun mit ihm geschehen?
Da ertönte aus dem Dunkel mit einmal eine quäkende Stimme. "Mach dir keine Sorgen, Janosch", sprach sie. "Es ist alles geregelt. Jetzt muss ich nur noch zusehen, wie ich dich da herausbekomme. Der Schlüssel steckt hier in der Tür, aber du weißt ja, für unsereiner ist das nicht so leicht zu handhaben." Der Bär stutzte. Schnüffelnd hob er die Nase. Dann trat auf sein Gesicht der Ausdruck großer Verblüffung.
"Fred, bist du das?", fragte er ungläubig.
"Klar", kam es als Antwort. "Den Typen hab' ich gezeigt was eine Harke ist, die sind fertig. Ich hab' dir doch gesagt, dass du eines Tages meine Hilfe brauchen würdest. Erinnerst du dich?"
Und Janosch erinnerte sich. Wie im Zeitraffer, und doch in voller Klarheit, erschien ihm diese eigenartige, verrückte Geschichte, die sich vor mehr als zwei Jahren ereignet hatte, vor dem geistigen Auge.
Eine schicksalsträchtige Begegnung
Es war ein angenehm milder Oktoberabend gewesen, damals vor zwei Jahren. Auf der Oberfläche des Sees spiegelte sich der glutfarbene Sonnenuntergang und das Tal mit seinen Wiesen und Tannenwäldern versank im rötlichen Dämmerlicht. Die Luft vibrierte, die Grillen veranstalteten ihr abendliches Konzert und auch die Vögel stimmten vor dem Zubettgehen den letzten Gesang an. Gelegentlich war das Kreischen eines Wildentenschwarms zu vernehmen, der sich auf den Weg in den Süden machte.
Eingenommen von der Idylle lag Janosch dösend vor seiner Höhle auf der Anhöhe des Berges. Die Ruhe tat ihm gut, denn das Bärenleben kann mitunter sehr anstrengend sein- anstrengender noch als das der Menschen. Nur ab und an blinzelte er verschlafen, gähnte, und rekelte sich träge, im Bewusstsein des vollendeten Friedens, der ihn umgab.
Da plötzlich passierte es. Drei ohrenbetäubende Schüsse... drei Schüsse, die wie Donner von den Bergwänden wieder hallten. Die Vögel schreckten auf, das Zirpen der Grillen erstarb und für einen Moment herrschte völlige Stille.
"Grauenvoll", brummte Janosch. "Dauernd dieses Geballere da unten. Auf wen haben die es diesmal abgesehen? Rehe, Wildschweine, Hirsche? Oder vielleicht ist es eine Fuchsjagd, oder sie schießen Gänse... es gibt ja so gut wie Niemanden, der verschont bliebe..."
Doch während er diese letzten Worte sprach, breitete sich in Janoschs Brust ein Gefühl der Beruhigung aus. Schon seit Jahrzehnten war im hiesigen Gebirge die Jagd auf Bären streng verboten, und in der Tat hatte sich in jener Zeit nicht ein einziger Bärenjäger mehr blicken lassen. Gott sei dank! In dieser Gewissheit ließ er sich bald erneut vom wiedererwachten Konzert der Natur einlullen und fiel schließlich in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte der Bär früh. Großer Hunger quälte ihn, Bärenhunger geradezu. Die ewigen Wurzeln und Beeren jedoch hingen ihm langsam zum Hals raus und zur Jagd fühlte er sich nicht aufgelegt. Zum Glück aber gab es ja noch eine andere Möglichkeit satt zu werden, und noch dazu eine, die einem Bären beim bloßen Gedanken das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt: Honig!
Ja, die Stöcke der Wildbienen bei den Zwergbuchen in den tieferen Bergregionen lagen zwar eine ganze Strecke entfernt, aber schließlich war heute Sonntag. Und wer etwas Ordentliches auf den Tisch bekommen will, muss auch einmal einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, dachte sich Janosch.
Als ihm dann, nach einer Stunde anstrengendem Marsches, der süße Honigduft in die Nase trat, gab es für den Bären kein Halten mehr. Verzückt trabte er auf die grauen Waben zu, die in den Baumhöhlen der Buchen kunstvoll verwoben waren. Gierig brach er eine davon auf, brachte mit der Tatze etwas Honig zum Vorschein, und leckte ihn genüsslich ab. Köstlich! Laut schmatzend langte er erneut zu. Wieder und wieder.
Da die Bienen ganz augenscheinlich unterwegs waren, dachte Janosch nicht einmal an die drohende Gefahr. Doch wie unvorsichtig ist so ein schlemmender Bär! Mit Leib und Seele dem Festmahl verschrieben, achtet er überhaupt nicht darauf, was um ihn herum geschieht. Und selbst jetzt, wo die Bienen angeschwirrt kommen, reagiert Janosch nicht sofort! Erst als sie sich Fuchsteufelswild und rasend vor Wut über den ungebeten Besucher auf ihn stürzen, bemerkt der Bär was hier im Gange ist. Panisch ergreift er die Flucht. Es geht es über Stock und Stein; Janosch rennt so schnell ihn seine Beine tragen, doch die Bienen bleiben hintendran, stechen zu als wenn es kein Morgen gebe. Sein dickes Fell mag ihn vor den Stichen schützen, aber die Nase... Nackt, weich und empfindlich ist sie sein großer Schwachpunkt. Wenn dort bloß nicht...
"Pling"
Da ist es passiert; eine besonders große, besonders fiese Biene hat ihren Stachel tief in Janoschs Schnauze gebohrt! Vor Schmerzen wimmernd und wild mit den Pranken rudernd, versucht er sich zu schützen, gerät an einen Abhang, verliert das Gleichgewicht und stürzt ab.
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"Auuu, oooh", ließ sich ein schwaches Stöhnen vernehmen. Verwirrt blickte Janosch um sich. Bestimmt fünf Minuten hatte er wie betäubt am Fuße des Berges gelegen, nachdem er Hals über Kopf hinuntergefallen, sein Sturz glücklicherweise durch einige am Hang wachsende Sträucher abgefangen worden war. Er war es nicht, der da jammerte, auch wenn er allen Grund dazu gehabt hätte. Aber wer dann?
"Ouuooh", ertönte es noch einmal. Aha... da, unter dem üppigen Rhododendronbusch, schien es hervorzukommen. Neugierig bog Janosch die Zweige auseinander- und staunte nicht schlecht: Dort saß, sich mit dem Schnabel den linken Flügel zupfend, eine kleine, Graugefiederte Ente. Wobei Ente nicht der treffende Ausdruck ist; der olivefarbene Kopf zeigte, dass es sich tatsächlich um einen Enterich handelte- einen Erpel.
"Ogott, zu Hilfe!", schrie dieser Erpel als er den riesigen braunen Kopf über sich schweben sah. "Ein nepalesischer Nasenbär will mich fressen. Hilf mir doch Jemand!"
Ärgerlich strich sich Janosch über sein bedauernswertes Riechorgan, das mittlerweile zur Größe einer Apfelsine angeschwollen war.
"Das kommt von einem Bienenstich", versetzte er mürrisch. "Ich bin ein ganz normaler Bär."
"Aber Bären sind Fleischfr..." Der Erpel stockte. "Äh, ich meine, ich hab' mal gehört vor ein paar hundert Jahren haben Bären auch Fleisch gefressen. Jetzt sind sie ja bekanntlich unter die Vegetarier gegangen. Das weißt du doch, oder..." Er schluckte. "Oder... etwa nicht?"
Jetzt musste Janosch grinsen. "Ich bin kein Vegetarier. Allerdings auch kein Aasfresser."
"Ich bin ein Aas, ich bin ein Aas", rief der Erpel eilig. "Noch bist du keines", antwortete der Bär belustigt. "Aber was machst du denn eigentlich hier? Und was ist mit deinem Flügel?"
"Na, was soll damit sein? Kaputt ist der, hin, im Eimer. Ein Jäger hat mit seinem Gewehr darauf geschossen. Gestern. Fast hätte ich mir beim Sturz den Hals gebrochen. Und wenn ich mich nicht hier unter dem Busch nicht versteckt hätte..."
Nun ging Janosch ein Licht auf. Eine Entenjagd war es gewesen, die gestern das Tal in Aufruhr versetzt hatte. Und dieses kleine, zerzauste Geschöpf vor ihm hatte es dabei erwischt.
Der Enterich derweil ließ mutlos den Kopf sinken.
"Was soll bloß aus mir werden?", sprach er in Grabesstimme, mehr zu sich selbst als zum Bären. "Meine ganze Familie, meine Freunde- sie sind alle nach Afrika unterwegs... Und ich, ich bin hier, ganz allein, während die da unten im blauen Nil baden und sich die Federn von der Sonne wärmen lassen. Bald kommt der Winter und ich bin hier ganz allein zwischen wilden Füchsen, hungrigen Wölfen und grässlich hässlichen Nasenbären..."
"Nun mach mal halblang", schnaubte Janosch, der, was sein Äußeres anging, ausgesprochen empfindlich war- auch wenn er mit dem geschwollenen Knubbel mitten im Gesicht wohl tatsächlich ziemlich furchterregend aussehen musste. Der Erpel fuhr erschrocken zusammen und versteckte seinen Kopf schnell unter dem gesundgebliebenen Flügel.
Nachdenklich betrachtete Janosch ihn eine Weile lang. Es stand außer Frage, dass dieses armselige Häufchen Elend nicht die geringste Chance hatte verletzt hier in der Wildnis zu überleben. Irgendwie tat ihm die Ente leid. Die Gesetze der Natur sind hart und ohne Erbarmen für den Schwachen, dessen war sich der Bär bewusst. Und doch empfand er die Art und Weise, in der die Menschen mit ihren Feuerwaffen Jagd auf wehrlose Tiere machten, als tiefe Ungerechtigkeit. Wahrscheinlich war es dieses Unrechtsbewusstsein, das in Janoschs Kopf jene verrückte Idee entstehen ließ. Denn nach einem längeren Moment des Besinnens sprach er in versöhnlichem, wenn auch merklich um Gleichgültigkeit bemühten Ton:
"Hör zu. Dass du hier nicht bleiben kannst, wissen wir beide. Du sagst es ja selbst; für Raubtiere wärest du leichte Beute. Und auch wenn der See gleich dort hinten ist, bist du mit deinem dünnen Federkleid für unsere harten Winter nicht gewappnet. Dein Flügel muss behandelt und auskuriert werden. Auch das ist dir ohne fremde Hilfe nicht möglich. Wenn du also... Ich meine..."
Der Bär räusperte sich. Augenscheinlich war es ihm unangenehm, mit seinem Anliegen herauszurücken.
Der Enterich starrte ihn fragend an.
"Weißt du, wir Bären halten zwar Winterschlaf, aber das nicht ununterbrochen, nicht über die gesamte Zeit, man will ja nicht verhungern. Diese langen Tage und Nächte in der Höhle sind da auf Dauer ziemlich langweilig. Manchmal kommt man sich richtig verlassen vor, ganz einsam, und, na ja... ich wollte dir also vorschlagen, den Winter über in meine Höhle einzuziehen. Nur so kannst du wieder gesund werden und im Frühling dein normales Leben führen. Und ich bekomme ein wenig Unterhaltung..."
"Was?", versetzte der Erpel, völlig verblüfft. "Meinst du das ernst?"
"Ja", antwortete der Bär.
"Und... und du willst mich nicht fressen?"
"Nein, von so einem Kümmerling wie dir werde ich eh nicht satt."
Es entstand eine Pause, die Janosch, der Sentimentalitäten nicht ertragen konnte, ausgesprochen peinlich war. Der Erpel dagegen wirkte gerührt
"Also...", quakte er. "So einen lieben Nasenb... so einen netten Bären wie dich hab' ich noch nie kennen gelernt. Eigentlich bist du ja der erste, den ich kennen lerne, aber ich bin mir sicher- so nett ist sonst keiner. Ich nehme dein Angebot gerne an."
"Schon gut", winkte der Bär verlegen ab. Und um das Gesprächsthema abzulenken, sagte er: "Mein Name ist übrigens Janosch. Und wie heißt du?"
"Fred", erwiderte der Erpel.
Eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft
Bald fiel der erste Schnee und legte sich wie eine weiße Decke über Gipfel, Felsen und Gräser. Das Wasser des Sees gefror und ein eisiger Wind pfiff durch Tal und Berge. Zwar war die Bärenhöhle nicht sonderlich warm, doch bot sie zumindest Schutz vor der erbarmungslosen Witterung.
"Janosch, könntest du mir die Füße massieren?", fragte Fred, der Enterich, und setzte seine flehendste Miene auf.
Der Bär hatte es langsam satt. Sein Gast dankte es ihm schlecht, dass er sich so großmütig gezeigt und ihn aufgenommen hatte. Am Anfang hatte Fred ja noch erheblichen Respekt gezeigt- wohl weil er befürchtete, dass Janosch sein Fastengebot noch einmal überdenken würde. Doch dann, im Laufe der Zeit, als der Erpel gemerkt hatte, dass sein so mürrisch auftretender Gastwirt tatsächlich keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, war er mit jedem Tag dreister und fordernder geworden.
"Nein", brummte Janosch darum etwas unwirsch. "Massier sie dir selbst. Ich habe keine Lust dazu."
"Aber... warum? Was hab' ich dir denn getan?", fragte Fred gespielt verständnislos.
"Das weißt du ganz genau. Du bist doch die reinste Plage."
"Die reinste Plage...?? Wieso das in aller Welt?"
"Was soll ich denn noch alles für dich machen? Erst mal hole ich mit viel Mühe die Kugeln aus deinem Flügel, schiene ihn, spiele rund um die Uhr Krankenschwester und vernachlässige dabei meine eigenen Probleme..."
"Aber... ich dachte, das hättest du gern getan?", unterbrach ihn der Erpel.
"Ich hab's getan, weil's nötig war. Du wärst ja sonst krepiert. Aber nun, wo du übern Berg bist, was trägst du da zum Haushalt bei? Schaffst du etwas zu essen heran? Zeigst du auf irgend eine Weise, dass du es verdient hättest, dich hier wie die Made im Speck aufzuführen?"
"Nein", versetzte der Bär, ohne eine Antwort abzuwarten. "Du tust nichts, gar nichts, du schmarotzt nur und störst mich mit deinem nervigen Gequake in meinem dringend benötigten Winterschlaf und dann kommst du mit solchen Forderungen wie vorgestern, dass ich dir doch bitte die Eisfläche des Teiches aufschlage, damit du ein Bad nehmen' kannst - und ich Schaf tu es auch noch!"
Janosch schüttelte energisch den Kopf. "Aber dir die Füße massieren, das geht zu weit, das mach ich niemals!"
Fred sah ziemlich betroffen drein. "Ich... ähm, ich wusste ja nicht, dass es dir so viel Mühe macht. Weißt du, ich würde wirklich gerne helfen, ich dachte nur, du wolltest das nicht, weil ich ja so ungeschickt bin..."
"Was??", schnaufte Janosch fassungslos.
"Ja, wirklich, ich hab doch zwei linke Hände, äh, Flügel, und einer ist ja ganz besonders links, ich meine link, nämlich der linke, der tut nämlich noch ziemlich weh und ich wollte ihm nicht zu viel zumuten..."
"Hör bloß auf mit dem Geschnatter, Fred", knurrte der Bär ärgerlich. "Ich sag's dir im Guten: Entweder du hilfst hier mit, oder du fliegst hochkant raus."
"Ist gut", erwiderte die Ente kleinlaut. "Sag mir, was ich tun soll, ich tu's."
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Noch nie hatte Fred erlebt, dass Janosch derartig aus der Haut gefahren war. Tatsächlich hatte er es auch nicht bewusst beabsichtigt seinen Gastgeber nachhaltig zu triezen oder ihn gar auszunutzen. Er hatte ihn in seinem tristen Alltagstrott unterhalten wollen, so wie der Bär es sich damals gewünscht hatte. Doch der trug sein dickes Fell augenscheinlich nur außen herum und war in Wahrheit ausgesprochen empfindlich. Wie empfindlich hatte der Erpel nicht geahnt. Seine an sich eher scherzhaft gemeinten Neckereien schien sich Janosch zu Herzen genommen haben und sein lockeres Verhältnis zu Fleiß und Ordentlichkeit hatten ihn offensichtlich gereizt. Nun waren diese angestauten Gefühle zum Ausbruch gekommen...
Hier schien Wiedergutmachung angesagt- nicht nur weil Fred den angekündigten Rauswurf fürchtete, sondern weil ihm seine Fehltritte, vor allem die all zu große Faulheit, die er im Nachhinein selbst zugeben musste, leid taten. Um zu zeigen, dass es ihm leid tat, wollte er seine Versäumnisse nun nachholen. Doch stellt sich hierbei die allgemeine Frage: Welchen Nutzen erfüllt eine Ente in einer Bärenhöhle?
Was die Nahrungssuche anging, konnte Fred seinem Gastgeber wenig hilfreich sein. Nicht nur, dass er außerstande war etwas zu den Mahlzeiten des Bären beizutragen. Nein, der dicke Schnee- und Eispanzer, der Gräser, Wiesen und Gewässer überzogen hatte, verhinderte sogar, dass er sich sein eigenes Futter beschaffte. Fred blieb auf Janosch angewiesen, und darauf, dass der ihn am ohnehin kargen Mahl, den gesammelten Knollen und Wurzeln, teilhaben ließ.
Statt dessen versuchte der Erpel sich an anderer Stelle nützlich zu machen. Schon länger hatte er beobachtet, dass Janosch sich öfters, vor allem im Schlaf, den Pelz kratzte. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihm manchmal von einem Erlebnis erzählt hatte, das ihr an den Nilufern Ägyptens, dem Winterquartier der Wildenten, widerfahren war. Sie hatte nämlich beobachtet, wie sich winzige Vögel auf den Rücken der Flusspferde niederließen, um sich über die unzähligen Parasiten, die sich dort festgesetzt hatten, herzumachen. Die dicken, trägen Nilpferde ließen das gerne zu, wurden sie doch so von ihrer Plage befreit.
Fred kombinierte messerscharf: Er als Parasitenjäger, Janosch als Nilpferd... Ein regelrechter Geistesblitz! Nur würde der mürrische alte Brummbär diese feine Idee mit Sicherheit ablehnen.
Aber auch dafür fand Fred eine Lösung. Er wartete ab, bis Janosch eingeschlafen war, und begann dann mit dem Schnabel durch das dichte Rückenfell zu wühlen, um seinen Freund zu "entlausen". Na, wenn das mal keine fette Laus war, die sich da direkt unter der Schulter versteckt hatte! Entschlossen hackte die Ente zu, "um dem miesen Vieh den Garaus zu machen", wie sie später kleinlaut beteuerte. Janosch aber brüllte wie von der Tarantel gestochen, denn der für derartige Tätigkeiten denkbar ungeeignete Entenschnabel hatte ihn böse gezwickt.
Nach diesem missglückten Versuch hatte Fred noch einen weiteren Einfall. Janoschs Nervosität führte er keineswegs auf sein eigenes "nerviges Gequake", wie der Bär es genannt hatte, zurück. Vielmehr sah er den Grund in dessen "fehlender mentaler Entspannung". Um dieser auf die Sprünge zu helfen, begann der Erpel also seinem Freund Gute Nacht Lieder vorzusingen.
Fassen wir uns kurz: Der Versuch endete in einer Katastrophe. Es hat wohl seinen Grund, dass Enten, anders als beispielsweise Stare und Rotkehlchen, nicht gerade für ihre Sangeskünste bekannt sind. Als Fred vor dem Schlafengehen die Eigenkomposition "Quak, Entchen, quak" anstimmte, entging der Bär nur knapp einer Herzattacke.
Trotz allem- dass Fred sich bemühte, übersah Janosch nicht. Natürlich hätte er es ohnehin nie übers Herz gebracht, die schutzlose Ente ihrem Schicksal zu überlassen, verbarg sich doch, wie wir wissen, unter der rauen Schale des Bären ein weicher Kern. Janosch bot Fred also weiterhin Unterkunft, gab ihm von seinem Essen, und erlaubte es ihm sogar sich in den bitterkalten Winternächten an seinem Fell zu wärmen.
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Als der Winter schließlich zuende ging und die eisige Kälte den angenehmeren Graden des Frühjahrs wich, die Bäume ihr weißes Gewand verloren und das Schmelzwasser von den Berggipfeln die kleinen Gebirgsbäche vorübergehend in reißende Ströme verwandelte, kehrten die Zugvögel von ihrer Reise in den Süden zurück. Riesige Schwärme von Gänsen, Schwänen und Störchen verdunkelten den blauen Frühlingshimmel und auch die Wildenten langten schließlich an, glücklich, nach den Strapazen des Fluges endlich wieder festen Boden unter den Watschelfüßen zu spüren.
"Janosch, hast du das gesehen, meine Familie und meine Freunde sind wieder da", rief Fred, die Ente, aufgeregt.
"Ja", erwiderte der Bär. "Sehe ich, sehe ich. Mach dich auf, sie warten auf dich."
"Ja, gleich, aber erst...also, ich möchte mich bei dir bedanken. Ich weiß, dass es nicht immer ganz einfach war mit mir. Aber trotzdem hast du mir geholfen. Ohne dich hätte ich meine Flügelverletzung niemals überstanden. Und den Winter erst recht nicht."
"Hauptsache, ich habe dich überstanden", brummte Janosch.
"Weißt du, diese Hilfe werde ich dir niemals vergessen", meinte Fred, ohne auf die Bemerkung des Bären einzugehen. "Ich habe jetzt nichts wie ein Geschenk, aber eines Tages werde ich dir alles zurückzahlen."
Janosch schnitt eine Grimasse. "Glaub' mir, das größte Geschenk für mich ist, dass du nun endlich weg bist. Zurückzahlen könntest du mir sowieso nichts. Was sollte denn, bitteschön, eine Ente für einen Bären tun können?" Und mit einem etwas spöttischen Grinsen fügte er hinzu: "Ach ja, sicher, falls ich mal einen kaputten Flügel haben sollte, kannst du ihn ja zusammen flicken."
Fred ließ sich nicht beirren. "Du musst mir ja nicht glauben. Aber mein Versprechen gilt trotzdem. Irgendwann wirst auch du einmal Hilfe brauchen, und dann, dann bin ich da."
Dankbarkeit
"Irgendwann wirst auch du einmal Hilfe brauchen, und dann bin ich da."
Die Worte klangen in Janoschs Ohren wider als wäre es gestern gewesen. Damals hatte er darüber nur gelächelt. Doch nun saß diese kleine, mickerige Ente dort vor dem Käfig, in dem er gefangen war, und zog ihr Melonengrinsen- Janosch konnte es erkennen, weil inzwischen ein heller Streifen Mondlichts durch den Türspalt gefallen war und den Raum erhellte.
"Fred, was zum Himmel geht hier eigentlich vor?", wollte der Bär wissen. "Ich erinnere nur noch wie die Jäger mich in der Höhle überfielen- und dann wurde alles schwarz um mich herum. Dann wach' ich auf, und bin hier... gefangen. Was ist überhaupt passiert?"
"Ich glaube, jetzt ist es erst mal das Wichtigste, dich da rauszuholen", antwortete der Erpel. Flatternd verließ er den Wagen und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Schlüsselbund im Schnabel zurück. Nun gehört Türenaufschließen, wie jeder weiß, nicht gerade zu den alltäglichen Beschäftigungen einer Ente und dementsprechend schwer fiel es Fred den Käfig zu öffnen. Nach fast einer Stunde schließlich, unter Probe verschiedener "Schnabeltechniken" zum Einstecken und Umdrehen des Schlüssels, sprang das Schloss endlich auf. Janosch war frei!
Draußen hatte die Nacht sich mittlerweile aufgeklart und am Himmel stand zwischen Tausenden und Abertausenden Sternen die helle, beinahe runde Scheibe des Mondes. Doch was dort unten, auf dem eng geschlungenen Waldpfad, in dem fahlen Mondlicht zu erblicken war, hätte wohl kaum einer für Wirklichkeit gehalten. Ein riesiger Bär und eine kleine watschelnde Ente, die nebeneinander herliefen und sich unterhielten als wenn es in der Welt nichts Natürlicheres gäbe...
Janosch löcherte Fred mit Fragen, doch der Erpel machte sich einen Spaß daraus, ihn eine Weile in seiner Neugierde schmoren zu lassen. Schließlich aber nahm er eine würdevolle Miene an, räusperte sich und begann von seiner Heldentat zu erzählen. Er begann damit, wie er auf seinem abendlichen Rundflug die zwei Männer beim Abstieg ins Tal erspäht hatte.
"Die schleppen sich da mit diesem Käfig ab und ich glaub' ich guck nicht richtig", rief er mit theatralisch aufgerissenen Augen. "Ich denk da liegt so ein alter Kartoffelsack, aber als ich näher ran komme, seh' ich: das bist DU. Ein ganz schöner Schock. Die Zunge hing dir aus dem Maul." Und mit einem selbstgefälligen Augenzwinkern fügte hinzu: "Aber nur keine falsche Panik, Agent Fred war natürlich zur Stelle."
Er berichtete, wie er dann "ohne mit der Wimper zu zucken" dem Kleinlaster gefolgt war. Wie er Steine gesammelt und damit das Dach des Autos beschmissen hatte, um es zum Stehen zu bringen. Wie der eine der Jäger mit einem riesigen Gewehr in der Hand ausgestiegen war, aber er, Fred, todesmutig den Kampf aufgenommen und seinen Feind in die Flucht geschlagen hatte.
"Wie hast du das denn geschafft, ihn in die Flucht zu schlagen?", wollte Janosch wissen.
"Na, ich bin einfach um seinen Kopf herumgeflattert, blitzschnell und elegant und dann gleich wieder ins Dunkle, so dass er es kaum sehen konnte und denken musste; das ist ein Gespenst... Und dann, dann hab' ich..." Fred zögerte und sah fast aus als schäme er sich. "Na ja, weißt du, ich muss selber zugeben, dass meine Gesangsstimme wohl doch etwas zu wünschen übrig lässt. Nach altem Brauch wollte ich mich nämlich auf die Schlacht so richtig einstimmen. Und weil ich keine Trompete hatte, musste ich halt singen. Den ‚Entenmarsch', das alte Kampflied. Aber kaum hatte ich angefangen, waren die Typen schon völlig paralysiert. Und dann sind sie Hals über Kopf weggerannt."
Janosch lachte. "Du bist schon ein komischer Vogel, Fred. Nein nein, guck nicht so beleidigt. So war das nicht gemeint."
Eine Weile schritten die Beiden wortlos nebeneinander her. Der Bär versank in Gedanken. Über zwei Jahre lag jener Oktobertag zurück, an dem er das zersauste Häufchen von Ente am Berghang unter dem Rhododendronbusch gefunden hatte. Der gemeinsame Winter dann mit Fred in der Höhle war sicherlich eine Strapaze gewesen. Aber dennoch- als der Erpel schließlich zu seinesgleichen zurückkehrte, hatte sich Janosch eingestehen müssen wie sehr er ihm trotz all seiner Aufdringlichkeiten und Nervtötereien ans Herz gewachsen war. Ungläubig schüttelte er den Kopf. "Das größte Geschenk für mich ist, dass du nun endlich weg bist. Was sollte denn, bitteschön, eine Ente für einen Bären tun können?" So hatte er damals gespottet. Zwar waren diese Sprüche nicht wirklich böse gemeint gewesen; viel mehr hatte der Bär versucht seine eigene Beklommenheit in Anbetracht der rührseligen Verabschiedungsszene zu überspielen. Aber was musste der Erpel angesichts dieser Grobheit gedacht haben!
Ja, Janosch hatte sich sehr sicher gefühlt. Doch nun, nachdem das Unglück ihn Widererwartens ereilt hatte und er das Opfer einer menschlichen Verschwörung geworden war, hatte der Enterich sein Versprechen tatsächlich eingelöst und ihn gerettet...
"Fred", sagte Janosch verlegen. "Ich stehe tief in deiner Schuld. Danke."
Und sich räuspernd fügte er hinzu: "Also, wenn dir der Flug nach Afrika zu weit ist... Ich hab' den Winter über noch ein Türchen offen."
"Echt?", fragte der Erpel mit gespieltem Erstaunen. "Das hätte ich jetzt ja als allerletztes erwartet. Wie bist du denn auf die Idee gekommen? Ich dachte, du hättest genug von mir."
Als der Bär verschämt schwieg, meinte Fred frotzelnd:
"Aha, verstehe. Du hast wohl Angst, dass die Jäger wiederkommen könnten. Und da brauchst du mich als Bodyguard. Na gut, das kriegen wir hin."
Janosch lächelte.



Eingereicht am 22. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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