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Die verschwundene Zeit
Von Torsten Houben
"Ich weiß nicht wo die anderen sind", sagte der alte Mann. Seine Augen waren trübe, ohne Glanz und starrten durch mich hindurch. Ich half ihm hoch.
"Haben Sie die Zeit gesehen, junger Mann?", fragte er nun. "Gestern war ich noch jung, heute fällt mir das Atmen schwer und bald werde ich es gar nicht mehr können."
Er drehte den Kopf in Richtung der Stelle, wo es geschehen war.
"Ich weiß nicht wo die anderen sind", wiederholte er und seine Stimme wurde zittriger von Mal zu Mal. Er hakte sich bei mir unter und stütze sich schwerfällig auf meinen Arm. Langsam führte ich ihn zu meinem Wagen. Ich hatte den Schreck relativ schnell überwunden. Als der Alte im Scheinwerferlicht mitten auf der Straße auftauchte, konnte ich gerade noch rechtzeitig auf die Bremse treten. Es war schon nach Mitternacht. Die Straße durch das Bruch wurde selten von Autos befahren. Der Mann konnte von Glück
sagen, dass ich so spät unterwegs nach Hause war. Ich kam vom Sportplatz, wo ich mit meinen Vereinskameraden noch lange unseren Sieg gefeiert hatte.
Warum ich diesen Umweg über die Waldstraße fuhr, wusste ich nicht. Ich hatte einfach Lust darauf. Und da saß er dann. Mitten auf der Straße.
"Wie heißen Sie? Wohnen Sie hier in der Nähe?", fragte ich ihn.
"Markus. Ich heiße Markus. Bringen Sie mich nach Hause? Ich will zu meinen Eltern."
Ich schätzte den Alten auf mindestens siebzig, wenn nicht noch älter und es schien so, als altere er weiter, während ich mit ihm sprach.
"Ihre Eltern? Aber ..."
Markus nahm schwach meine Hand in die seine.
"Bring mich nach Hause. Ich habe Angst."
Erst jetzt fiel mir seine seltsame Kleidung auf. Er trug ein bunt gestreiftes T-Shirt und eine kurze, braune Hose. Außerdem war er barfüßig. Der Mann schien meinen Blick auf die Füße zu bemerken.
"Meine Schuhe sind plötzlich zu klein geworden. Ich habe sie ausgezogen als ich erwachsen wurde", entschuldigte er sich.
"Ich sollte Sie erst einmal zu einem Arzt bringen. Ich fahre Sie in die Klinik."
"Ich bin nicht krank. Nur alt. Haben Sie die Zeit gesehen?", murmelte er. "Die anderen. Wo sind die anderen?"
"Welche anderen? Wovon sprechen sie?"
"Meine Freunde. Wo sind sie?"
"Kommen Sie. Ich fahre Sie ins Krankenhaus. Sie sind ja völlig verwirrt. Was ist nur passiert?"
Markus sah mich an: "Sie waren so wundervoll. Einfach wundervoll. Aber wir mussten gehen und jetzt? Jetzt ist die Zeit weg und sie sind auch weg und meine Freunde sind weg. Alles ist weg."
Der Alte bekam einen Weinkrampf und nur mit Mühe brachte ich ihn endlich dazu, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.
So schnell ich konnte fuhr ich erst quer durch den kleinen Ort und dann auf die Bundesstraße 9. Ich raste Richtung Stadt, fuhr in der Tempo-30-Zone mit 100 Sachen in eine Radarfalle ("Notfall", gab ich auf dem Anhörungsbogen an und die Strafe fiel gering aus) und kam endlich in der Klinik an.
"Schlaganfall ist es wohl nicht. Ich glaube der Mann hat Alzheimer. Er redet ja völlig wirres Zeug", bemerkte der Arzt.
"Sie waren so wundervoll. Aber ich musste gehen. Meine Eltern haben doch gewartet. Und jetzt ist die Zeit weg. Haben Sie die Zeit gesehen Herr Doktor? Ich weiß nicht wo sie ist. Ich weiß nicht wo die anderen sind", murmelte Markus.
"Andere?", fragte der Arzt mich. "Waren da noch andere Leute, wo sie ihn gefunden haben?"
"Nein. Er saß allein mitten auf der Straße."
"Wir werden ihn zur Beobachtung hier behalten. Wir brauchen seine Personalien. Vielleicht ist er auch aus der JVA ausgebrochen oder aus der Landesklinik ausgebüxt, da verschwinden doch ständig Irre."
"Ich glaube nicht, dass Markus irre ist."
"So, Markus heißt er? Nicht irre? Sehen sie sich allein diese Klamotten an. Wie für einen Teenager."
"Ich glaube nicht, dass Markus irre ist", wiederholte ich nachdenklich.
Zu gern hätte ich mich genauer mit dem alten Mann unterhalten, aber man hatte ihm starke Beruhigungsmittel gegeben. Ich beschloss, ihn am nächsten Tag zu besuchen, um mehr herauszufinden.
Am Morgen des nächsten Tages fuhr ich erst einmal zurück zu der Stelle, an der ich Markus gefunden hatte. Ich parkte meinen Wagen am unbefestigten Straßenrand, stieg aus und begann die Gegend nach Hinweisen abzusuchen. Schneller als erwartet wurde ich fündig. Ein uralter Teddybär lag zwischen den Brennnesseln am Wegrand. Ich hob ihn auf und betrachtete das Spielzeug genauer. Er sah aus wie neu, aber machte dennoch den Eindruck als sei er sehr alt. Es war noch einer der Teddys, die mit Holzwolle gestopft waren.
Wie lange wurden die nicht mehr so hergestellt? 20, 30 oder 40 Jahre? Vielleicht noch länger. Auf der linken Pfote hatte die Mutter seines kleinen Besitzers den Namen ihres Sohnes gestickt: "Markus".
Was machte ein alter Mann nachts mit einem Spielzeug seiner Kindheit im Wald? War der Bär vielleicht der "andere" von dem Markus immer sprach? Ich nahm den Teddy ins Krankenhaus mit um ihn dem Alten zurückzugeben.
Markus erwachte gerade aus einem unruhigen Schlaf und öffnete die Augen, als ich das Zimmer betrat. Er freute sich sehr, als ich ihm seinen Bären in die Arme legte.
"Brumm, mein Lieber. Da bist du ja. Wo hast du gesteckt? Hast du sie auch gesehen? Sie waren wunderschön, nicht wahr? Wunderschön." Und an mich gewandt sagte er: "Sie sind wunderschön. Sie sind nicht böse, aber verführerisch. Sie vergessen dass wir nicht dort bleiben können. Und dann passiert so etwas. Aber ich habe keine Angst. Mein Leben war kurz, aber ich habe das Glück gehabt sie zu sehen und etwas Schöneres hätte es in meinem Leben nie geben können. Ich frage mich nur wo die anderen sind ..."
"Markus", fragte ich nun mit dem Schimmer einer Ahnung, "wie alt bist du?"
"Zwölf. Ich wurde 1921 geboren. Am 24. Dezember. Heiligabend. Ich bekam immer einen Apfel und ein paar Süßigkeiten extra, weil ich ja zur Bescherung auch noch Geburtstag hatte. Das war schön. Meine Schwester war immer neidisch."
"Welches Jahr haben wir?", fragte ich weiter.
Markus' Atem wurde zusehend flacher und seine Stimme schwächer als er antwortete: "Ich bin zwölf Jahre alt. Es ist das Jahr 1933. Mein Vater sagt es ist ein böses Jahr, weil böse Menschen im Land sind. Ich wollte sie fragen ob sie helfen können, aber sie kennen unsere Welt nicht gut und wissen nichts von unseren Sorgen. Sie haben uns eingelullt und dann war es zu spät."
"Wer sind 'sie'?"
"Ist der böse Mann noch da? Ein schlimmer Mensch, der Unheil bringt. Er will meine Freunde umbringen. Das sagte Papa immer."
1933. Mir war klar, dass Markus mit dem "bösen" Mann der kam nur die Machtübernahme von Adolf Hitler meinen konnte. Wie Recht sein Vater damals hatte, konnte Markus nicht wissen.
"Nein Markus, der böse Mann ist lange nicht mehr da. Er ist besiegt worden. Es gab Krieg. Aber das ist fast sechzig Jahre her."
"War ich so lange fort? Sie waren das! Sie sind so schön, aber man darf nicht so lange bei ihnen bleiben, wie wir das getan haben."
"Wer sind 'sie'?", fragte ich noch einmal. Eine Antwort blieb aus. Markus hatte seinen Augen wieder geschlossen - dieses Mal für immer.
Die Dame an der Anzeigen-Annahme sah mich verwundert an, als ich ihr das Foto eines Teddybären auf den Schreibtisch legte und dazu den folgenden Text:
"Wer erkennt Brumm? Der Bär ist an einer Pfote mit dem Namen 'Markus' bestickt und stammt aus den 30er Jahren. Bitte melden sie sich unter Telefon ..."
Die Altenpflegerin führte mich zu einem Zimmer im ersten Stock. Eine Heimbewohnerin hatte mich auf die Annonce hin angerufen. Frau Weber war eine noch sehr rüstige Dame Anfang achtzig. Erst vor kurzem war sie aus ihrer eigenen Wohnung in die Senioren-Wohnanlage "St. Marien" umgezogen. Sie versorgte sich dort nach wie vor selbst, aber im Notfall war auch schnell Hilfe verfügbar.
"Ich habe den Bären meines Bruders gleich erkannt müssen Sie wissen. Er hing so an ihm. Er hat ihn auch mitgenommen, als er damals verschwand. Ist einfach weggelaufen. Zusammen mit Anne und Peter. Mein Vater war daran nicht ganz unschuldig. Er hat zu viel Panik verbreitet."
"Panik? Weshalb? Bitte, Frau Weber, Sie müssen mir alles erzählen was Sie wissen."
Frau Weber schenkte mir Tee nach und begann: "Hitlers Machtübernahme hat unsere Eltern damals in Angst und Schrecken versetzt. Sie hatten früh erkannt, was dieser Mann im Schilde führte. Auch mit meinem Bruder und mir wurde viel darüber geredet, dass die Juden in Gefahr seien. Dass Hitler sie ausrotten will und so weiter. Ich weiß bis heute nicht, woher mein Vater all diese Informationen hatte, aber sie stimmten, wie wir ja heute leider wissen."
"Waren ihre Eltern denn Juden?", unterbrach ich sie.
"Nein, aber viele unserer Freunde. Auch Markus' Freunde Anne und Peter waren es. Und darum hat Markus eines Tages beschlossen die Feen zu suchen."
"Feen? Er hat wirklich geglaubt, dass es Feen gibt?"
"Natürlich! Wie wir alle daran glauben und geglaubt haben. Feen, Elfen und Trolle. Es gibt sie, doch ihre Welt ist vor unseren Augen verborgen. Markus hat es immer gewusst. Oft saß er im Garten unter dem Birnbaum und hat sich mit der Baumnymphe unterhalten. Naturgeister sind immer um uns. Wussten Sie das nicht? Wie sonst wäre die Welt das, was sie ist? Haben Sie nicht auch schon den Zauber einer Blumenwiese genossen? Oder die Macht, die von alten Bäumen ausgeht? Ohne die Geister der Natur gäbe es das nicht."
Eigentlich war ich immer ein realistisch denkender Mensch, aber die Ereignisse der letzten Tage und die fantastisch klingenden Worte der alten Dame, die sie mit so einer ernsthaften Überzeugung aussprach, ließen mir beinahe keinen Zweifel daran, dass es die Wahrheit war.
"Markus ging mit Peter und Anne in das Bruch um den Feenhügel zu suchen", fuhr Frau Weber fort. "Das hat er damals nur mir anvertraut. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Was geschehen ist weiß ich nicht, aber ich denke die Feen haben ihn nicht mehr gehen lassen."
"Doch, das haben sie", sagte ich und berichtete ihr von den letzten Tagen. Auch fragte ich Frau Weber, die sich anscheinend gut mit der Feenwelt auskannte, warum es möglich war, dass Markus dachte, es sei immer noch 1933. Gehirnwäsche aus der anderen Welt?
"Er muss tatsächlich in einem Feenhügel gewesen sein. Dort vergeht die Zeit viel langsamer als bei uns. Wenige Stunden dort sind in der Menschenwelt Jahrzehnte. Sobald Markus das Reich der Feen verließ, holten die Jahre ihn ein und er alterte in Minuten."
"Darum fragte er mich wo die Zeit sei!"
"Das wird es sein. Der arme Kerl", Frau Weber liefen Tränen über die Wangen. "Er war doch mein Bruder."
Blieb nur die Frage offen, was aus Anne und Peter wurde? Konnten sie ebenfalls fliehen? Doch dann müssten auch sie im Wald herumgeirrt sein. Verwirrt und ohne Ahnung was da mit ihnen geschah. In Minuten um 70 Jahre altern, dass stellte ich mit schrecklich vor. Doch niemand fand je wieder eine Spur der beiden. Ich gehe heute davon aus, dass Anne und Peter bei den Feen geblieben sind. Und dort in der anderen Welt dürfen sie auch heute noch Kinder sein. Den Schrecken der Naziherrschaft entkommen und fern von den
Tücken der heutigen Welt.
Schön wäre es, wenn ich auch so einen Feenhügel finden und für immer dort leben könnte.
Eingereicht am 08. November 2004.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.