Love is like a tower
Von Christel Helzle-Götting
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sherryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstrasse beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
"Aber ich muss doch nach Hause, dem Jung was zu Essen machen", hörte Karl
eine panische Stimme vom Flur. Waltraud Meier hatte mal wieder die
Orientierung verloren.
"Sie sind jetzt hier zu Hause, Frau Meier", antwortete die Pflegerin mit
erhobener Stimme und führte Frau Meier zurück in den Aufenthaltsraum.
Karl war es so satt und er hoffte nur darauf, dass der Tod ihn vor der
Demenz holen würde. So wollte er nicht leben. Er holte sich Hut, Jacke und
Stock aus seinem Zimmer und machte sich auf. Das Abenteuer, die Landstraße zu
überqueren, stand ihm bevor, doch drüben im Park um den alten Turm war er vor
den anderen Bewohnern des Seniorenstifts sicher.
Das Hupen und Schimpfen der Autofahrer ignorierte Karl wie jeden Tag und die
Gefahr, überfahren zu werden, war so wild auch nicht. Besser so, als qualvoll
jahrelang in einem Krankenhaus vor sich hin sterben.
Im Park angekommen setzte er sich auf seine übliche Bank und streckte die
Beine aus.
Fast verärgert klappte Sheryll ihr Laptop zu, als der Zug in den
Frankfurter Hauptbahnhof einfuhr. Der Bericht über ihre Besuche bei den
Fernseh- und Radiosendern in Köln war noch nicht fertig, jetzt würde sie
heut Abend im Hotel noch mal ran müssen. Die Verwaltungen, zu denen sie
wegen der Drehgenehmigungen für den Turm müsste, waren um die Zeit bestimmt
nicht mehr besetzt. Am besten sie nahm sich ein Taxi und fuhr erst mal zu
der Location hin. Falls sich rausstellen sollte, dass sie für den Videodreh
gar nicht geeignet wäre, hätte die Agentur sonst die Kosten für die
Drehgenehmigungen an der Backe und es war ja klar, wer das dann wieder
ausbaden musste.
Der Taxifahrer war offensichtlich Vietnamese, redete aber im breitesten
Frankfurterisch. Doch Sheryll hörte ihm nicht zu, sondern blätterte die
Unterlagen über den Turm durch. Es war ein denkmalgeschützter Turm aus dem
14. Jahrhundert und Sheryll konnte sich schon vorstellen was das wieder für
ein Aufwand würde, die Drehgenehmigung zu bekommen. Diese Amis stellten sich
so was immer so einfach vor und ihre Agentur konnte dann mit den deutschen
Behörden kämpfen. Na ja zumindest war es diesmal ein Titel für den Sheryll
diesen Kampf gern aufnahm. Seit sie die wundervolle Ballade "Love is like a
Tower" der amerikanischen Newcomer-Band gehört hatte, hatte sie mit allen
Mitteln gekämpft, dieses Projekt machen zu dürfen.
Schon von weitem sah Sheryll den Turm und war gleich überzeugt, dass er das
sei. Sie zahlte ihr Taxi und trat in den Park. Außer einem alten Mann, der
offensichtlich schlafend auf der einzigen Bank saß, war der Park
menschenleer. Seitdem sie den ersten Blick auf den Turm geworfen hatte, war
die Melodie wieder in ihrem Kopf. Jetzt war ihr klar, warum es gerade dieser
Turm sein musste.
Die Location war ideal und bot alles, was für den Videodreh gebraucht wurde.
Sheryll war gefangen von der Atmosphäre und mochte noch nicht ins Hotel
fahren. Warum auch, sie konnte sich doch genauso gut dort zu dem alten Mann
auf die Bank setzen und den Bericht weiterschreiben. Sie setzte sich
vorsichtig hin um ihn nicht zu wecken.
"Interessantes Bauwerk unser Turm, nicht?", Sheryll zuckte zusammen als
wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
"Entschuldigung, ich dachte Sie schlafen", meinte sie.
"Brauchst dich doch nicht entschuldigen Kindchen", erwiderte Karl, "ich bin
jeden Tag hier. Weißt du, damals, vor dem Krieg hab ich meine Margot hier
kennen gelernt, genau hier auf dieser Bank. Ich meine, das war natürlich
eine andere Bank damals, aber sie stand genau hier."
Sheryll wollte eigentlich ihr Laptop auspacken und Karls Erzählungen
genauso ausblenden wie sie das sonst immer tat, aber die Atmosphäre um den
Turm, die Melodie in ihrem Kopf und Karls Erzählung bildeten eine Art
Einheit, die sie nicht zu zerstören wagte.
"Damals kamen wir jeden Sonntag hierher, zuerst ich und Margot und später
dann auch mit unserer kleinen Louise. Die Kleine hat hier Laufen gelernt.
Und als sie grad laufen konnte, da kam der Krieg und ich musste fort. Hier
haben wir uns verabschiedet und es war uns immer klar, hier würden wir uns
auch wiedersehen. Ich wurde an der Ostfront verwundet und geriet in
Gefangenschaft. Und die ganze Zeit dort hat mich der Gedanke
aufrechterhalten, dass Margot und Louise dort an unserem Turm sein würden
wenn ich heimkäme. Ich kam sehr spät heim, war einer der letzten die noch
heimkamen. Aber heim kann man eigentlich gar nicht sagen: unsere Straße war
zerstört worden und war inzwischen schon wieder neu aufgebaut. Aber keiner
der alten Nachbarn lebte mehr dort. Seitdem bin ich jeden Abend hier am
Turm. Anfangs weil ich gehofft hatte, Margot kommt irgendwann wieder her.
Aber irgendwann hab ich mir gesagt, "Karl," hab ich gesagt "sie sind sicher
nicht mehr am Leben, mach dir nichts vor." Trotzdem bin ich weiter jeden
Abend hergekommen und deswegen bin ich auch dort drüben in den Seniorenstift
gezogen obwohl ich mir da vorkomm wie im Irrenhaus." Karl brach ab und
versank in Gedanken.
Sheryll saß nur still auf der Bank, kein Gedanke an Videodrehs, Behörden
oder Fernsehsender, ganz gefangen in der Geschichte. Sie wurde erst
unterbrochen als Karl aufstand.
"Ich muss jetzt gehen, Kindchen, heut gibts Milchreis zum Abendbrot und das
will ich auf keinen Fall verpassen. Vielleicht sehn wir uns ja noch mal hier
bei unsrem Turm.", meinte er noch und ging langsam, auf seinen Stock
gestützt aus dem Park. Sheryll saß noch lange auf der Bank und wunderte
sich, welche Einheit der Turm, Karls Geschichte und die Ballade einer
amerikanischen Band bilden konnte.
Als die Durchsage kam, dass die Maschine aus Los Angeles jetzt gelandet sei,
klappte Sheryll ihr Laptop zu und sah auf die Uhr. Bei der Verspätung
müssten sie direkt zum Drehort fahren, keine Zeit mehr für irgendwas
anderes. Sie begrüßte die Band und fuhr sie zu dem Turm. Als er in Sicht kam
spürte sie sofort wieder die Stimmung und erinnerte sich an Karls Erzählung.
Ob der alte Herr heute wieder zu seinem Turm kommen würde und was er wohl
von dem Videodreh halten würde?
Komischerweise war Chuck, der Frontmann der Band verstummt sobald der Turm
in Sicht kam. Sheryll musste sich darauf konzentrieren einen Parkplatz zu
finden und konnte deshalb nicht nachfragen. Doch als sie im Park standen kam
Chuck zu ihr und sagte in fast perfektem Deutsch: "Sheryll, ich wollte
danke sagen, dass ihr den Turm gefunden habt. Meine Mom und meine Grandma
haben immer davon erzählt. Sie sind Deutsche weißt du, und damals hat meine
Grandma hier gelebt und war immer hier in dem Park. Alle Erinnerungen, die
meine Mom noch an Deutschland hat, drehen sich um diesen Turm. Hier hat sie
ihren Dad zum letzten Mal gesehen und hier haben sie damals nach dem Krieg
jeden Abend gesessen und darauf gewartet, dass er aus dem Krieg zurückkommt.
Als sie keine Hoffnung mehr hatten, trafen sie hier im Park einen GI der
Charles hieß. Meine Grandma hat immer erzählt, dass sie sich sicher war, ihr
Karl hätte ihr den geschickt, damit sie nicht mehr alleine sei. Grandpa
Charlie hat die beiden mit nach Amerika genommen, als er abkommandiert
wurde, aber den Turm hier und ihren Karl hat sie nie vergessen. Als sie im
letzten Jahr gestorben ist, hab ich "Love is like a Tower" für sie und ihre
große Liebe geschrieben."
Sheryll hatte Chuck die ganze Zeit nur angestarrt. Das konnte doch kein
Zufall sein. "Hieß deine Grandma Margot und deine Mom, heißt die Louise?",
fragte sie atemlos.
Als Chuck erstaunt nickte, war Sheryll schon aus dem Park gelaufen und
überquerte die Landstraße ohne auf das Hupen der Autofahrer zu achten.
Im Seniorenstift erkundigte sie sich atemlos bei der ersten Pflegerin die
ihr über den Weg lief: "Entschuldigen Sie, ich suche einen alten Herrn
namens Karl, der nachmittags immer gegenüber in dem Park an dem alten Turm
sitzt. Kennen Sie ihn?"
Die Pflegerin nickte: "Herr Schlösser ja, wir haben ihm immer wieder gesagt,
dass es zu gefährlich ist, die Straße zu überqueren. Aber er wollt ja nicht
hören, sagte er wäre ja nur hier wegen dem Turm. Schreckliche Sache das mit
seinem Unfall gestern. Ins Universitäts-Krankenhaus hat man ihn gebracht und
ich hab gehört es soll gar nicht gut um ihn stehen. Sind Sie eine
Verwandte?"
Doch da war Sheryll schon wieder aus dem Seniorenstift heraus
und überquerte wieder die Landstraße.
Inzwischen hatte der Videodreh begonnen und Chuck war voll eingespannt.
Sheryll wurde jetzt nicht gebraucht. Sie schrieb eine Nachricht für Chuck
und fuhr zum Universitätskrankenhaus. Der Schwester in der Intensivstation
erzählte sie, sie sei Karls Enkelin, damit sie zu ihm gelassen wurde. Die
Schwester machte ihr nicht viel Hoffnung, sie sagte: "Gut, dass Sie noch
gekommen sind." Und auf Sherylls Frage nach den Heilungschancen schüttelte
sie nur den Kopf.
Sheryll setzte sich an Karls Bett, eingeschüchtert von den Maschinen und
Apparaten und von Karls zerschundenem Körper der trotzdem so still wirkte.
Doch dann richtete sie sich entschlossen auf. Karl musste erfahren, wie lange
Margot auf ihn gewartet hatte und dass sie ihn bis zum Schluss geliebt
hatte. Er musste wissen, dass Louise in Amerika ihr Leben lebte und er
musste von Chuck erfahren, der ein Lied für ihn und Margot und ihren Turm
geschrieben hatte.
Und so begann sie, obwohl es ihr schwer fiel, zu sprechen: "Karl, ich bins
Sheryll, das "Kindchen" dem sie vor ein Paar Tagen an Ihrem Turm begegnet
sind. Ich muss Ihnen was erzählen und ich hoffe, Sie können mich hören.", und
sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Die Bewegung hinter sich nahm sie
nicht wirklich wahr.
Als sie alles erzählt hatte zuckte sie zusammen als sich eine Hand auf ihre
Schulter legte. Es war Chuck der schon vor einer Weile hereingekommen war
und mit Tränen in den Augen hinter ihr stand. Auch Sherylls Augen füllten
sich mit Tränen als sie Chuck in den Arm nahm. "Da hat er seit seiner
Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft jeden Abend an dem Turm verbracht,
über fünfzig Jahre lang und an dem Tag, bevor er erfahren kann was aus
seiner großen Liebe und seiner kleinen Louise geworden ist passiert so
was", flüsterte sie.
"Gut, dass du da warst um uns noch zusammenzubringen. Ich muss Mom anrufen,
wie soll ich ihr das bloß erklären? Bleib bei mir Sheryll, ich mag nicht
allein bleiben jetzt."
Sheryll nickte, es ging ihr genauso. "Sing ihm das Lied vor.", flüsterte
sie.