Briefe von Karl
Von Dirk Christofczik
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sherryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstrasse beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll schaute nachdenklich durch das Fenster auf die vorbeirasende Landschaft. Ihre Gedanken waren bei dem schwarzen Riesen, so nannte sie den alten Turm, den sie im vergangenen Jahr im Odenwald entdeckt hatte. Im Grunde war dieser Turm nichts Besonderes, er stand zwar schon seit Jahren unter Denkmalschutz, aber eine besondere historische Bedeutung hatte er anscheinend nicht. Alles in allem gab es für eine junge Archäologin, wie Sheryll es war, keinen besonderen Grund sich einem derartigen Gebäude längere Zeit
zu widmen. Doch schon das erste Mal, als sie durch die schmale Tür zwischen den kalten Backsteinen trat und die gut 20 Meter bis zur Spitze des Turms schaute, da spürte sie die unerklärliche Anziehungskraft, die dieses eigenartige Gebäude auf sie ausübte. Die dunklen Backsteine wirkten unheimlich und strömten eine eisige Kälte aus. Sie schienen sie anzustarren und mit jedem Tag, den sie in diesem Turm verbrachte, keimte in ihr das Gefühl, dass sie aus irgendeinem bestimmten Grund diesen schwarzen Riesen gefunden
hat. Sheryll löste ihren Blick von der Landschaft, die im Zeitraffer an ihr vorbeisauste, und griff die braune Versandtasche, die neben ihr auf dem leeren Sitz lag. Bedächtig öffnete sie das Kuvert und kramte einen DIN A 5 großen, durchsichtigen Plastikbeutel hervor. In dem Beutel erkannte man braune Bruchstücke eines Blatt Papiers, zusammengesetzt wie eine zerbrochene Vase. Sie hielt den Beutel in die Luft und taxierte das seltsame Schriftstück, dabei wanderten ihre Gedanken zurück zum letzten Montag, als sie
diese Papierreste in dem alten Turm fand. Es war seltsam, fast wie ferngelenkt steuerte sie an diesem Tag auf diesen einen losen Backstein im Gemäuer des Turmes zu. Er ließ sich nicht sehr leicht aus der Mauer lösen, doch ein Taschenmesser und ein kleiner Spatel taten ihr Pflicht, und so hatte sie den Stein relativ schnell aus der Turmmauer entfernt. Sie traute ihren Augen nicht, denn der dunkle Backstein war von innen ausgehöhlt, und in dem Hohlraum fand sie ein kleines Bündel aus gegerbtem Leder. Als sie es
öffnete, fand Sheryll mehrere dieser halb zerbröselten Blätter, die alle mit schwarzer Tinte beschrieben waren. Der Zustand der Blätter deutete sofort darauf hin, dass es sich um sehr alte Stücke handeln musste. Die Schrift war allerdings nicht mehr zu entziffern, man konnte nur erahnen, dass es Worte waren, die dort auf dem Papier einmal zu lesen waren. Die Zeit hatte ihre Arbeit sorgfältig gemacht, doch nicht daran gedacht, dass die Technik des 21. Jahrhunderts ihr ein Schnippchen schlagen könnte. Nach ihrem
Fund machte sie sich sofort auf den Weg nach Köln, wo sie in der Universität alle Möglichkeiten hatte, das Schriftstück zu datieren, und vor allen Dingen zu restaurieren. Was sie herausfand, verschlug ihr den Atem und versetzte ihr Herz seit diesem Zeitpunkt in einen dauerhaften Trommelwirbel. Genau an diesem Tag begannen die Träume!
Karl schaffte es einfach nicht, wieder einzuschlafen! Die Träume raubten ihm jetzt schon seit Tagen den Schlaf. Immer wieder sah er diese blauen Augen und die schwarzen, lockigen Haare im Schlaf, und jedes Mal, kurz bevor er nass geschwitzt aufwachte, erblickte er in seinem Traum einen dunklen Turm. Wieder einmal in dieser Nacht stand er auf, ging zu seinem Schlafzimmerfenster und schaute hinaus in den Wald, aus dessen Mitte der Tannenturm, so nannten ihn die Einheimischen, wie ein warnender Finger in den Nachthimmel
ragte. Karl hatte von Anfang an keine Zweifel, dass dies der Turm aus seinen Träumen ist. Niemals in den 15 Jahren, in denen er in dieser Wohnung lebte, war ihm dieser Turm besonders aufgefallen. Um so unheimlicher war es für ihn, dass so plötzlich diese unbeschreibliche Anziehungskraft von diesem Gemäuer ausging. Er fühlte sich ausgelaugt von dem unruhigen Schlaf der letzten Nächte. Wenn er einmal nicht träumte, dachte er an die dunklen Augen dieser Unbekannten und den schwarzen Turm, der sich wie ein Parasit
in seinem Kopf eingenistet hatte und sich, wie ein ungebetener Gast, schamlos ausbreitete. Er schien ihn magisch anzuziehen, ihn zu locken, um ihm zu erzählen, was sie verband. Karl hatte es noch nicht ausgesprochen, aber in seinem tiefsten Inneren wusste er, dass er bald zu diesem Finger, der gespenstisch zwischen den dichten Kronen der Bäume herausragte, gehen würde, um zu entschlüsseln, was er von ihm wollte. Es gab nicht viele Fragen, die Karl quälten, er wollte nur die Bedeutung des Turmes enträtseln, und
er wollte wissen, wer die Frau mit den schwarzen Locken ist, die ihm mit ihren dunklen Augen so merkwürdig vertraut vorkam. Er lag in seinem Bett und starrte gedankenversunken an die Decke, die langsam transparent wurde, glasklar wie die Scheibe an seinem Fenster. Er sah den Turm durch die Decke seines Schlafzimmers, zum Greifen nahe und doch so fern. Darüber wachten, wie ein ängstliches Mondgesicht, die Augen dieser fremden Frau, die ihn zu rufen schien, deren Stimme aber nicht zu hören war. Allmählich glitt
Karl in einen leichten Dämmerschlaf, eine dieser kurzen Erholungsphasen, die der Turm seinem Körper gönnte, aus der er aber schon bald schwitzend und keuchend aufwachen würde.
Sheryll konnte sich nicht erinnern, jemals schlecht geschlafen zu haben. Sie schlief zwar nie mehr als sieben Stunden, doch in dieser Zeit hätte man sie samt Bett in eine andere Galaxie tragen können, sie wäre nicht aufgewacht. Doch jetzt war sie müde, hundemüde, denn seit ihrem Fund in dem hohlen Backstein des Turmes hatte sie nicht eine Nacht richtig geschlafen. Just in der Nacht nach der Entdeckung der verrotteten Papierschnipsel begannen diese seltsamen Träume. Sie sah den Turm, dann diese smaragdgrünen Augen
und das blonde Haar eines Mannes, den sie nicht kannte. Jede lange Nacht hielt sie dieses Bild wach, und sie ahnte bereits beim ersten dieser Träume, dass dieser Mann vor ihrem geistigen Auge derjenige war, der diese zerbröselten Papierschnipsel irgendwann einmal beschrieben hat. Diese Augen blickten so traurig, verzweifelt, und getrübt durch viele Tränen, die schon lange versiegt waren, aber deren Quelle noch genauso brodelte wie eh und je. Schon ein Tag später wusste sie, wem diese Augen gehörten und so unfassbar
es war, musste sie akzeptieren, was dieser armen Seele passiert ist. Die Untersuchung der Papierreste war eine Routinesache, doch die Ergebnisse waren einzigartig, unglaublich aber eindeutig und unwiderlegbar. Das Papier, es war alt, sehr alt, etwa aus dem 14. Jahrhundert, doch dies war noch keine Sensation. Aber die Tinte, ja die Tinte, ging es Sheryll immer wieder durch den Kopf. Die Tinte war keine richtige Tinte! Die Laboruntersuchung ergab ein Gemisch aus verschiedenen Farbpigmenten, ätherischen Ölen und
Kakaobutter; die Zusammensetzung von Kugelschreiberpaste! Das Ergebnis schien unmöglich, doch selbst mehrere Wiederholungen der Tests brachten immer wieder dasselbe Ergebnis: Irgendjemand im 14. Jahrhundert musste im Besitz eines Kugelschreibers aus dem 21. Jahrhundert gewesen sein. Die Stimme des Zugbegleiters, der den Reisenden mitteilte, dass sie in 15 Minuten in Frankfurt sein würden, riss Sheryll aus ihren Gedanken. Der Himmel war rabenschwarz geworden, bemerkte sie, als sie aus dem Fenster sah, und die
Bäume wurden von einem starken Sturm wie Flitzebogen gespannt. Nur wenige Minuten später peitschte strömender Regen durch die Luft, und die Tropfen klopften drohend an die Scheiben des Zuges. Sheryll lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie das Unwetter wüten sah.
"Genau, wie er es geschrieben hat!", murmelte sie leise vor sich hin und starrte gebannt in den Regen. Es war nicht leicht gewesen die Schrift auf dem Papier zu entziffern, und am Ende waren es nur Fragmente, die wieder lesbar wurden, doch die wenigen Teile, meist einzelne Wörter, ließen sich leicht mit Sinn füllen. Was sie zu lesen bekam, hatte es in sich und machte das Ganze noch unglaublicher, als es ohnehin schon war. Sheryll nahm ihr Labtop aus dem Gepäckfach über ihrem Kopf, klappte es auf und
ließ den Computer hochfahren. Dann öffnete sie die Dateien mit den Bildern des restaurierten Schriftstücks. Zum X-ten Mal las sie die bruchstückhaften Zeilen, die Gedanken eines Gefangenen; Briefe von Karl.
...25. Oktober 2003... Turm gegangen. Musste wissen... von ...will. Blitz ist eingeschlage...wo ...der Turm? Kein Turm!
Danach folgten Passagen des Briefes, die komplett zerstört waren. Am Ende des Papiers brachte die Restaurierung dann wieder Erfolg, und ein ganzer Block des Textes konnte wieder hergestellt werden. Sheryll blickte auf den Monitor des Laptops und ließ die Zeilen auf sich wirken.
.. leb jetzt das 2. Jahr in einer anderen Zeit. Es fällt schwer ... an die unbekannten Gepflogenheiten zu gewöhnen. Es fehlt an allem, für die Leute ... Außenseiter. ... gern nach Hause, doch der Turm bringt ...nicht wieder zurück, denn es gibt ihn nicht.
Karl Bauer, 14. Juni 1366
"Karl Bauer!", flüsterte Sheryll leise und blickte aus dem Fenster in das tobende Unwetter. Wenige Minuten später fuhr der ICE in den Hauptbahnhof von Frankfurt ein.
Die Nacht war unruhig, schlaflos, genau so, wie Karl es erwartet hatte, deshalb wunderte es ihn nicht, dass er sich den ganzen nächsten Tag über matt und ausgelaugt fühlte. Seine innere Unruhe, und der ständige Gedanke an den Turm, sowie an die unbekannte Frau, überlagerte seine Müdigkeit wie die Wolken die Sonne an diesem Tag verdeckten. Irgendwie fühlt Karl sich heute besonders kribbelig, und er wurde das Gefühl nicht los, dass er es heute tun würde, nein müsste. Er geriet immer tiefer in den Sog des Turmes,
der ihn anzog, wie ein riesiger Magnet und ihn nicht fallen lassen würde, bis er an ihm klebte, wie eine Fliege an einem Spinnennetz. Noch war er gehemmt, nicht bereit den letzten Schritt zu machen, doch noch heute würde er gehen, zum Turm, das ahnte er nicht nur, das wusste er, das wusste er ganz genau. Nachdem er sich bei der Arbeit krank gemeldet hatte, legte Karl die Arme auf die Fensterbank im Schlafzimmer und schaute über die Wipfel hinweg auf die Zinne des Turmes. Stundenlang stand er so am Fenster und
tat nichts anderes als schauen und grübeln. Das Wetter wurde immer schlechter. Dunkle Wolken zogen im Laufe des Tages auf, und ein böiger Wind setzte ein, der sich langsam aber sicher zu einem ausgewachsenen Sturm entwickelte. Die Bäume beugten sich der Kraft des Windes und bogen sich wie Gummibäume, nur der Turm stand fest im Wald und schien Karl zu rufen. Am Abend wurde der Sog des Turmes so stark, dass Karl entschied, sich treiben zu lassen. Er konnte nicht länger warten, Karl wollte hinaus in den Wald, zum
Fuße des Turms, hinein in den Kern, der ihn will, der ihn braucht, der ihn frisst. Am späten Nachmittag schnappte er sich schließlich seine Regenjacke und ging hinaus in den Regen. Er hatte schon viele Unwetter gesehen, doch heute war der Himmel besonders dunkel, die Wolken vereinigten sich zu einem alles überziehenden, rabenschwarzen Teppich. Der Regen war so stark, dass Karl den Kopf geneigt halten musste, um ungehindert atmen zu können. Als er den kleinen Forstweg, der hinter seinem Haus in den Wald führte,
betrat, da zuckten die ersten grellen Blitze am Himmel und erhellten für einige Sekunden die Szenerie zu einer gespenstischen Atmosphäre. Wollte er wirklich weitergehen? Sollte er nicht lieber kehrt machen und den nächsten Psychiater aufsuchen? Karl zögerte einen Augenblick, doch, warum auch immer, war er sich sicher, dass es nur einen Weg geben würde, die Träume zu verscheuchen.
Nach der Ankunft in Frankfurt, verstaute Sheryll ihre Reisetasche in einem Schließfach. Sie nahm nur ihr Notebook, ihren Lamy Kugelschreiber, den sie vor Monaten in der U-Bahn gefunden hatte, ihre Regenjacke und eine Flasche Evian aus ihrer Reisetasche, steckte alles in eine Leinentasche von Edeka und machte sich auf den Weg zum Taxistand. In der Bahnhofshalle fiel ihr Blick auf die große Anzeigetafel mit den An- und Abfahrtszeiten der Züge, darunter sah sie das Datum des Tages: 25. Oktober 2003. Genau heute
wird es passieren, dachte sie erneut, wobei sich eine Gänsehaut in rasender Geschwindigkeit von ihrem Nacken aus, wie ein Flächenbrand über ihren ganzen Körper ausbreitete. Es war bereits Mittag, doch das machte ihr keine Sorgen, denn sie konnte nicht zu spät kommen, weil sie wusste, dass sie ihn sehen würde. Sie hatte schließlich von seinem Gesicht geträumt, von seinen strohblonden Haaren, und von den traurigen Augen, die in tiefer Bodenlosigkeit von seiner Qual erzählten, von Karl Bauer, dem Mann der heute
einen Weg antreten sollte, seinen vorbestimmten Weg. Aber welche Rolle spielte sie auf diesem langen Weg zurück, in eine Zeit, aus der es keine Wiederkehr geben würde? Was konnte sie tun, wenn Karl diesen schicksalhaften Schritt in den Turm machen würde? Würde sie ihn aufhalten, sollte sie ihn aufhalten oder einfach nur zusehen, wie er verschwindet?
Der Taxifahrer war Gott sei Dank ein ruhiger Geselle, und so konnte sie sich in das Kunstleder des Wagens zurücklehnen und ihren Gedanken freien Lauf lassen. Der Wagen roch nach Vanille, Sheryll hasste Vanille.
Wer bist du, Karl Bauer?, ging es ihr durch den Kopf, obwohl ihr der ungeliebte Duft die Sinne vernebelte.
Wo bist du?, sinnierte sie weiter und schaute dabei aus dem Seitenfenster des Wagens. Sie beobachtete die Menschen, die mit Regenschirmen über die Bürgersteige hetzten. Jeder von ihnen konnte Karl Bauer sein, vielleicht der da mit dem Trenchcoat oder vielleicht der an der Bushaltestelle, oder sogar der Taxifahrer, der sie zu dem unheimlichen Turm fuhr. Das Unwetter wurde derweil immer schlimmer, kübelweise strömte der Regen aus dem geöffneten Himmel, und das Taxi kam nur langsam durch den dichten Stadtverkehr
der Frankfurter City. Sheryll nahm noch einmal ihre Laptop auf den Schoß und öffnete die Datei mit Karls Briefen. Sie las an der Stelle weiter, an der sie im Zug aufgehört hatte.
März 1369
Die Eingewöhnung ...besser. ... wieder gesund. Hab ... entschlossen den Turm zu bauen. ... vor den Männern des Landgrafen in acht nehmen. Siegfried entwickelt sich prächtig!
Sheryll verstand die letzte Zeile nicht, so oft sie diese auch las. Sie konnte sich nicht erklären, wer Siegfried ist, schließlich nahm sie an, dass es jemand war, der ihm beiseite stand, vielleicht ein Hund oder ein Gefährte. Sie klappte den Computer zu und schloss die Augen. Sie nickte tatsächlich etwas ein und verbrachte den Rest der Zeit in einem leichten Dämmerschlaf.
Die Stimme des Fahrers weckte sie schließlich.
"So, da wären wir junge Frau!" Sheryll schreckte hoch.
"Wollen Sie hier wirklich bei diesem Wetter aussteigen?", sagte er ehrlich besorgt. Sheryll schaute hinaus, der Sturm tobte mit voller Kraft, und der schier unendliche Regen kannte kein Erbarmen.
"Ja!", sagte sie kühl. "Was bekommen Sie!"
Sie bezahlte den Fahrer, dann streifte sie sich ihre Regenjacke umständlich über und stieg hinaus in den Sturm.
Karl hatte Mühe, sich durch das Unwetter zu kämpfen. Der stundenlange Regen hatte den Weg aufgeweicht und in einen glitschigen Morast verwandelt. Seine Sportschuhe waren durchnässt, und er ärgerte sich, dass er nicht seine stabilen Trekking Schuhe angezogen hatte. Trotzdem zweifelte er nicht einen Augenblick an seinem Unterfangen. Je näher er dem Turm kam, um so heftiger wurde das Gefühl, angezogen zu werden. Es war etwa so, als würde er alleine an einem Tauziehen teilnehmen, nur dass auf der anderen Seite ein
unbesiegbarer Gegner stand, der ihn mühelos über die rote Linie zog. Karl fühlte, dass der Turm in forderte, ihn haben wollte, aber warum, das wusste er nicht. Von weitem konnte er die Wegkreuzung sehen; die eine Seite führte ihn zum Turm, die andere zurück in das Dorf. Als er in der Mitte der Kreuzung stand verhaarte er einen Augenblick, dann zögerte er keine weiter Sekunde und nahm den Weg zum Turm. Einige Minuten später erkannte er die Backsteine des Turms, die vage zwischen den Bäumen hervorlugten. Sie waren
kaum zu erkennen, in der Dunkelheit wirkten sie doppelt so düster. Er ging noch die letzten Meter des Weges, dann, als würde er zwischen dem Dickicht eines Urwaldes auf eine Lichtung treten, sah er den Turm in seiner vollen Größe vor ihm emporragen. Immer wenn ein Blitz die Dunkelheit erhellte, konnte Karl bis zur Zinne des Turmes schauen, und er war erstaunt, dass er in Wirklichkeit wesentlich höher war, als es von seinem Schlafzimmerfenster aussah. Langsam ging er auf die schmale Tür zu, die in den mächtigen
Steinen eingelassen war. Als er näher kam, bemerkte er, dass es nur ein Durchgang war, der ihn einlud, in das Innere des Turms zu treten. Der Sturm tobte über ihn, und irgendwo schlug der Blitz krachend in einen Baum ein. Karl war es egal! Er fühlte sich wie in einer Blase, nichts konnte ihn beeindrucken, nur diese unbeschreibliche Energie, die der Turm auf ihn ausstrahlte und seine Beine in Bewegung hielt. Er wollte gerade durch den Eingang gehen, als irgendetwas die Blase zum Platzen brachte. Dann er hörte
die Stimme, die ihn rief, nicht die des Turmes, sondern eine menschliche Stimme.
"Karl? Karl Bauer?", drang es leise durch den Krach, den der tosende Sturm erzeugte. Karl wusste sofort, wem die Stimme gehörte, die so zaghaft seinen Namen rief. Obwohl der Turm an ihm zog und zerrte, drehte er sich um. Aus der Deckung des Waldes kam jemand auf ihn zu, die Kapuze einer Regenjacke über den Kopf gezogen, den Oberkörper nach unten geneigt, um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen. Langsam kam die Person näher, als sie nur noch einige Meter von Karl entfernt war, zog sie die Kapuze
in den Nacken und durchnässte schwarze Locken fielen ihr auf die Schultern. Als der nächste Blitz die Szenerie erhellte, erkannte Karl die blauen Augen, die er schon so oft in seinen Träumen gesehen hatte.
"Wer bist du?", rief er ihr zu.
Sheryll kam noch ein paar Schritte näher, bis sie Karl Auge in Auge gegenüberstand. Sofort erkannte sie seine blonden Haare, die unter der Kapuze hervorlugten. Die grünen Augen erinnerten sie an Edelsteine.
"Du darfst nicht in den Turm!", sagte sie ernst.
"Was? Warum? Warum soll ich nicht in den Turm gehen?" Beide schauten sich schweigend an, während neben ihnen die Blitze in den Wald einschlugen.
"Ich werde gehen, nein, ich muss gehen, egal was passiert.", flüsterte Karl leise, doch Sheryll schien ihn zu verstehen. Sie schloss die Augen und senkte den Kopf.
"Was wird passieren? Du weißt es, nicht wahr?", fragte Karl sie fast flehend. Sheryll nickte bejahend.
"Sag es mir, bitte!"
"Ich kann nicht. Ich kann dich nur bitten, nicht in diesen Turm zu gehen!" Karl schüttelte den Kopf.
"Das geht nicht!", erwiderte er enttäuscht und drehte sich um. Langsam ging er auf das Portal des Turmes zu.
"Warte!", schrie Sheryll durch den Sturm. Noch einmal drehte Karl sich um und schaute sie mit seinen grünen Augen fragend an.
"Was für einen Kugelschreiber hast du dabei?" Karl schaute etwas verwirrt, dann zuckte er mit den Schultern und antwortete ihr.
"Ich versteh dir Frage zwar nicht, aber ich habe gar keinen Kugelschreiber dabei!" Zuerst dachte Sheryll, sie hätte ihn vielleicht falsch verstanden, doch dann traf sie die Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Sie öffnete ihre kleine Umhängetasche und wühlte darin herum, bis sie ihren Lamy Kugelschreiber in der Hand hatte. Sie betrachtete ihn ausdruckslos, drehte ihn um seine eigene Achse, dann schaute sie Karl wieder an.
"Ich glaube, ich weiß jetzt, wer Siegfried ist, oder besser gesagt, wer er war!" Langsam ging sie auf Karl zu und nahm seine Hand. Regentropfen lösten sich von ihrer Nasenspitze, explodierten auf ihrem Kinn und zerstieben in der Luft. Sheryll lachte Karl ehrlich an.
"Ich verstehe nicht!", sagte er völlig verwirrt.
"Das macht nichts, du wirst bald verstehen. Ich werde dir alles erzählen. Lass uns nun in den Turm gehen, wir haben einen weiten Weg vor uns." Die beiden gingen Hand in Hand die letzten Meter bis zum dem steinernen Durchgang, der in den Turm führte. Als sie ihre Füße auf die Türschwelle setzten, schlug ein mächtiger Blitz in die Zinne des Turms ein. Steine gingen zu Bruch und fielen tosend zu Boden. Die Spitze des Turmes wurde in ein gleißendes Licht gehüllt, welches sich langsam nach unten ausbreitete
und den Turm langsam darin verschwinden ließ. Sheryll und Karl standen im Inneren des Turmes und schauten fasziniert in die Höhe. Das Licht kam näher, und sie beide spürten, dass ihre nächtlichen Träume bald ein Ende haben würde. Dann, als sie beide zusammen mit dem Turm eine Einheit aus Licht bildeten, da rückte Sheryll ganz nah an Karl, legte ihren Mund an sein Ohr und flüsterte: "Wir gehören zusammen Karl, und das schon seit über 600 Jahren!"