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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Das pure Leben!

© Beate Treutner


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl rief nach seiner Mutter: "Huuungeeer!!" Mutter kam schlurfend um die Ecke. 2 Laib Brote, einen Ring Wurst, 8 grüne und 3 gelbe Paprikaschoten auf einem Tablett bugsierend, die Zigarettenkippe im Mundwinkel, den schäbigen Bademantel um sich gewickelt ging sie auf Karl zu und knallte das Tablett auf den Tisch. "Da", raunte sie und schlurfte mit ihren Filzlatschen wieder Richtung Küche. Karl langte nach einem Messer und teilte das Brot und die Wurst in Stücke, dann begann er, alles zu verschlingen. Nebenbei zappte er sich von einem Fernsehsender zum nächsten. Ansonsten herrschte gefräßige Stille.
Der ICE fuhr im Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich und Sheryll zwängte sich nach draußen. Ihr langes blondes Haar wehte ihr ins Gesicht und vorsichtig, um ihren Lippenstift nicht zu verwischen, zupfte sie sich die Strähne wieder nach hinten. Auf dem Parkplatz stand ein Wagen für sie bereit, den Schlüssel hatte sie schon in ihrer zierlichen Handtasche. Sie öffnete zuerst den Kofferraum, und wie sie angeordnet hatte, stand da eine Schachtel mit ihren bequemen Autofahrersandalen. Froh, ihre hochhackigen Pumps loszuwerden, entledigte sie sich derer und zog diese rostbraunen Latschen an. Ein wenig schmunzelte sie bei dem Gedanken, dass jemand sie so sehen könnte. - Superschickes Joop-Kostüm und Gesundheitslatschen!
Aber das war ihr jetzt egal, denn sie hatte noch eine längere Fahrt vor sich. Sie war auf der Suche nach einer geeigneten Kulisse für den Videoclip einer Rockband. In Köln hatte sie einen Vertrag mit dem Besitzer einer Reithalle abgeschlossen. Die Dreharbeiten sollten dort in 3 Wochen beginnen. Nun suchte sie noch nach dem alten Turm, den sie irgendwann einmal in dieser Gegend gesehen hatte. Als Requisiteurin hatte sie immer ein offenes Auge für interessante Objekte. Den Turm hatte sie vor ihrer Zeit bei dieser Filmfirma mal gesehen, sich den Ort aber nicht notiert. Ihr Orientierungssinn aber würde ihr sicher helfen. Rein nach Gefühl fuhr sie los.
Karls Mutter kam wieder um die Ecke und brachte eine Kanne Tee und einen Korb mit 5 Flaschen Bier. Karl langte gierig nach dem Tee und trank direkt aus der Kanne die Hälfte ab. Dann öffnete er das Bier und schaltete wieder in einen anderen Fernsehkanal. Vom Essen war nicht mehr viel übrig, aber die Mutter brachte nun noch 3 Stück Käsekuchen und eine Schüssel Schokopudding mit Sahne. Schweiß stand auf seiner Stirn und seine fettglänzenden Haare standen in alle Richtungen. Mutter hatte sie ihm gestern geschnitten. Zum Friseur wollte und konnte er auch nicht. Seit 12 Jahren hatte er das Haus nicht mehr verlassen. Er sah nur seine Mutter. Ganz selten auch mal den Doktor, aber der kam meistens zu Mutter. Und natürlich die Menschen im Fernseher. Das war Karls Tor zur Welt. Für ihn gab es nur schlafen, essen, fernsehgucken. Naja und malen! Sobald er auf der Mattscheibe ein neues Gesicht sah, karikierte er es. Alle hatte er schon auf Papier gebracht - Politiker, Schauspieler, Musiker und sonstige VIPs, Nachrichtensprecher, Sportler oder einfach die Talkgäste einer Show. Mutter rahmte die Bilder der allgemein bekannten Gesichter ein und verkaufte sie auf Märkten und an Souvenirläden. Davon konnten Karl und sie ganz gut leben.
Sheryll fuhr auf einer Landstraße südlich von Frankfurt und nach fast einer Stunde sah sie in der Ferne einen Turm. Ob es dieser war, den sie suchte, konnte sie noch nicht genau erkennen, aber im Grunde war es auch nicht wichtig. Hauptsache sie konnte sich das Gebäude für den Videoclip gut vorstellen. Die Landschaft drum herum war auch ganz passend. Viele kräftig grüne Bäume, Wiesen, kaum Häuser und wenig Verkehr. Sie hielt ihren Wagen etwa 50 Meter vor dem Turm, stieg aus und lief darauf zu. Es war nicht ganz einfach, denn eigentlich gab es nur einen kleinen Trampelpfad, der zum Turm führte, und der war schon ganz schön zugewachsen.. Am Turm angekommen, lief sie um ihn herum und fand eine Eisentür mit der Aufschrift: " Eintritt verboten!" Oben gab es eine Aussichtsplattform. Ideal für ihre Zwecke. Aber ob der Turm auch baulich so in Ordnung war, dass man ihn auch betreten konnte? Sheryll lief zurück. In der Nähe ihres Autos entdeckte sie ein kleines altes Haus. "Ob die vielleicht mehr wissen?", überlegte sie. Im Garten war Wäsche aufgehängt und sie amüsierte sich über 2 Hosen, die da hingen. Die waren so breit, dass sie eigentlich nur für Dekozwecke verwendet werden konnten.
Sheryll läutete. Eine alte, schäbig aussehende Frau öffnete die Tür. Sheryll erklärte ihr kurz, dass sie von einer Filmcrew sei und diesen Turm für ein paar Tage mieten wolle, aber nur wenn die Aussichtsplattform benutzbar wäre." Wissen Sie darüber etwas?"
Die Frau bat sie herein und führte sie ins Wohnzimmer. "Das ist Karl, mein Sohn", sagte sie und deutete auf ein Sofa, das über und über von einem Mann bedeckt war. Sheryll drehte sich fast der Magen um. Noch nie im Leben hatte sie so einen dicken, nein - fetten Menschen gesehen. Die Oberschenkel waren so dick wie mindestens 2 mal Sheryll´s Hüftumfang. Das Gesicht ein aufgeblasener Luftballon mit einem schrecklichen Haarschopf obendrauf. Der Brustkorb senkte und hob sich gigantisch schnaufend, wie eine Lok. Vor ihm lagen mehrere benutzte Teller und Gläser. Stifte und Papier waren im ganzen Zimmer verteilt. Ein unangenehmer Geruch stand im Raum. Und dieser Kerl grinste sie an. Er hatte noch nie so eine schöne Frau in Natura gesehen. Nur im Fernsehn. "Hallo, ich bin Sheryll" Sie versuchte sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen. "Ich komme im Auftrag meines Arbeitgebers und wir wollen hier am Turm den Videoclip einer bekannten Rockband drehen. Die Außenfassade wäre ideal, aber wir würden auch gerne hoch auf den Turm. Wissen Sie ob das möglich ist?" Sie versuchte, nicht zu tief einzuatmen, denn ihr war ganz flau im Magen.
Karls Herz hingegen klopfte wie wild. So eine schöne Frau hier bei ihm. Und sie will einen Film drehen. An seinem Turm, vor seinem Fenster.? Die Welt würde zu ihm kommen! ER konnte ja nicht hinaus.
"Ja, wir haben hier einen Schlüssel", schnaufte er während er zu Stift und Papier griff und anfing, sie zu malen, "und soweit ich weiß ist er begehbar. Seit 15 Jahren war ich nicht mehr dort, aber es wird sich nicht viel verändert haben. Sie können ja mal nachschauen." Karls Mutter hatte alles mitgehört und hielt ihr den Schlüssel hin. "Wir werden natürlich dafür bezahlen", fügte Sheryll hinzu. Karl strahlte. "Ach, Sie glauben gar nicht, was das für mich bedeutet. Wenn ICH nicht in die Welt kann, so kommt das pure Leben jetzt zu MIR", und er stellte sich alles so aufregend vor, dass ihm die Hände schon leicht zitterten. Sein Atem rasselte. Sheryll bedankte sich schnell für den Schlüssel und ging nach draußen, um den Turm genau zu betrachten. Karl kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich wieder kam.
"Der Turm ist ideal! Ich werde alles weitere in die Wege leiten, so dass wir in etwa 5 Wochen mit dem Dreh hier anfangen würden." Sie wollte sich verabschieden, doch Karls Mutter bat sie nochmals herein. "Mein Sohn möchte Ihnen noch etwas mitgeben", nuschelte sie und Karl reichte ihr die fertige Karikatur. "Armer Kerl", dachte sie noch, bedankte sich schnell und hastete wieder an die frische Luft.
Erst unterwegs schaute sie sich die Zeichnung genauer an. Sheryll mit Kostüm und Gesundheitslatschen! Sie musste herzlich lachen. Aber die Zeichnung war erstaunlich gut, sehr charmant und trotzdem lustig gezeichnet. "Was für ein Künstler", murmelte sie. "Das kann der Kerl." Sie verspürte Mitleid darüber, wie sein Leben aussah. Vielleicht könnte sie ihm irgendwie helfen.
Genau 5 Wochen später fingen die Dreharbeiten an. Sheryll sah Karls Mutter schon von weitem im Garten und lief rasch zu ihr. "Hallo", schnaufte sie, "ich will mich gerne bei Karl noch für diese tolle Zeichnung bedanken. Ich habe sie einer Freundin gezeigt, die in Frankfurt eine Galerie besitzt. Sie war begeistert. Karl hat Talent. Vielleicht will er gerne ein paar Bilder bei ihr ausstellen?"
Karls Mutter schaute wie immer griesgrämig mit ihrer Zigarette im Mundwinkel drein und raunte: "Karl gibt's nicht mehr! Die ganze Aufregung um den Film hat ihm so zugesetzt, dass er einen Herzinfarkt bekam. Die Sanitäter brauchten aber 4 Stunden, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, weil sie ein spezielles Bergungsgerät brauchten. Wegen seinem Gewicht. Verstehen Sie?! Das dauerte seinem Herz leider zu lang."
Sheryll war entsetzt. Sie hauchte: "Nicht das Leben ist zu ihm gekommen, sondern der Tod!"



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Eingereicht am 30. Dezember 2003.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.