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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Eine Kurzgeschichte von Linda Abramzik


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll hatte die letzten beiden Wochen in Köln verbracht, um mit einem Kunden über den Verkauf eines Grundstückes in Schottland zu verhandeln. Der Grund mit einem alten Turm darauf, hatte der kürzlich verstorbenen Mutter ihres Kunden gehört und war nun in seine Hände gefallen. Sherryl war Immobilien-Maklerin in Edinburgh, eine Top-Kraft auf ihrem Gebiet. Sie hatte zu Lebzeiten der alten Misses Eldington durch ihre Beratungen zur Seite gestanden. Ihr Sohn, Richard Eldington, vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgewandert, war ein unangenehmer Zeitgenosse. Sheryll hatte bereits den Gutshof in Aberdeen vermietet und die Muschelfarm bei Skye verkauft, Herr Eldington wollte mit seiner ehemaligen Heimat nichts mehr zu tun haben. Allerdings machte ihr der Verkauf des alten Turmes Sorgen.
Der Turm war seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Eldington, es wurde gemunkelt, dass sich die längst Verstobenen der Sippe sogar immer noch zum Ceilidh, zum großen Tanzfest, trafen. Gerade diese Geschichten machten Eldington noch wütender. Nicht nur, dass es für den alten Turm keinen Käufer geben würde, Herr Eldington wollte das alte Gemäuer einreißen lassen. Da das Gebäude aber dem Denkmalschutze unterstand, tobte der Mann wie ein Berserker.
Sheryll war nun wieder auf dem Weg in die Heimat, der Zug würde bald in Fankfurt eintreffen und der nächste Flieger nach Hause würde der Ihre sein. Der Streit mit Eldington hatte einen schalen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. Mittlerweile hatte sie einen Käufer ausfindig machen können, einen jungen Mann, der nahe des alten Turmes lebte. Karl Netherbow, Sohn eines schottischen Schäfers und einer deutschen Mutter, die ihm ein beträchtliches Erbe hinterlassen hatte, als sie im Kindbett verstarb. Sein Vater hatte das Geld versoffen, er war aber gestorben, bevor nichts mehr da war, und so hatte sich Netherbow jr. entschieden, den alten Turm vor seinem Fenster zu erwerben. Sheryll wunderte sich zwar aber sie würde sich um derlei keine Gedanken machen, solange sie, wenigstens vorerst, aus dem Bannkreis des streitsüchtigen Eldington entkommen war.
Sie hielt sich selbst für wenig abergläubisch, aber es bereitete ihr doch einige Sorgen, wenn sie daran dachte, dass Eldington vorzuhaben schien, die sterblichen Überreste seiner Mutter exhumieren und nach Deutschland verfrachten zu lassen. Da er nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen sie gemacht hatte, vermutete Sheryll richtig, dass er der Mutter auf diesem Wege die letzte Verachtung zuteil kommen lassen wollte. Misses Eldington hatte ihre Heimat geliebt und es war ihr sehnlichster Wunsch, in guter schottischer Erde begraben zu liegen, in der Nähe all ihrer verstorbenen Lieben.
"Der Mann ist ein Teufel, soll er doch von Geistern verfolgt werden", murmelte Sheryll beim Aussteigen. Der Herr, den sie in Gedanken angerempelt hatte, bemerkte sie nicht einmal.
Karl Netherbow erwartete Sheryll bereits und ließ sie mit einem galanten Lächeln eintreten. "Ich hoffe, Sie haben alle erforderlichen Papiere dabei", lächelte er ihr beim Abnehmen ihres Mantels zu. Sheryll setzte sich in den alten Cinzsessel vor dem Kamin. "Ich habe alle Unterlagen dabei und wir können noch heute den Kauf abwickeln." Sie wühlte fahrig in ihrer Tasche, der Mann machte sie nervös. "Darf ich Sie fragen, was Sie für ein Interesse an diesem alten Turm haben?" Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen. Wenn ihm diese Unhöflichkeit aufgefallen war, so zeigte er es nicht. "Ich werde den Turm seinen Besitzern zurückgeben", erklärte er schlicht.
"Pardon?", sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben, "Wer sollen denn diese Besitzer sein, wenn nicht der Herr, von dem Sie den Turm erwerben?" Sie funkelte ihn an. Seine grünen Augen schienen sie auszulachen "Sheryll, ich rede von den Geistern." Sie starrte ihn vollkommen perplex an und kam nicht umhin, zu lächeln, als er jungenhaft die Schultern zuckte und das Thema grinsend mit einer Bewegung seiner Hand beiseite wischte. "Wo darf ich unterschreiben?"
Es war ein Jahr später, als Sheryll und Karl sich wiedersahen, das war auf der zweiten Beerdigung der alten Misses Eldington. Ihre Überreste waren ein zweites Mal der Erde entrissen worden, nun aber, um endgültig Ruhe zu finden in der Erde Schottlands.
Es waren nicht viele Leute gekommen, einige sehr alte Menschen, die Sheryll schon bei der ersten Beerdigung der Dame gesehen hatte, es mussten wohl Freunde sein. Die Schwägerin, uralt und verweint, als wäre die alte Dame gerade erst gestorben, hatte sie auch schon kennen gelernt. Und dann waren da noch der ehemalige Vorarbeiter der Muschelfarm, der beim damaligen Verkauf entlassen worden war - und natürlich Karl. Sie freute sich fast, ihn wiederzusehen, rief sich aber gleich wieder zur Ordnung.
Nach dem Begräbnis wurde im Pub noch getrunken, gefeiert und getanzt. Karl forderte sie auf, er war ein glänzender Tänzer. Als der Abend sich dem Ende zuneigte, wurde die Stimmung ruhig und bequem, alle saßen um einen Tisch herum und der alte Vorarbeiter begann, von der alten Lady zu erzählen. "Sie wollte immer nur hier begraben sein, sag ich euch. Meiner Treu, wie konnte der Jung se nur rausreißen, aus der Erde, die se so geliebt hatte?" Seine Stimme klang rau und traurig "S´musst ne ja schlecht treffen, dass er das gewagt hat. Sei Mudder wird über ihn gekommen sei." Die alte Schwägerin war bei diesen Worten wieder erwacht.
Sheryll blinzelte. Karl sah sie an "Haben Sie denn nichts von der Geschichte gehört, Sheryll?"
"Welche Geschichte denn nun wieder?" Sie hatte das vergangene Jahr hart gearbeitet, war viel im Ausland tätig gewesen und hatte sich einen guten Grundstock für ihre eigene Firma geschaffen. "Ich weiß von keiner Geschichte."
"Nu", meldete sich wieder der alte Vorarbeiter, "s´ist doch so, dass Betty die Heimat so geliebt hat, wie keine Zweite." Er grunzte gerührt. "Hat zu mir mal gesagt, Gott hab se selig, dass se nur hier Ruhe finden würd. Hat wohl schon daran gedacht, dass ihr Balg was gegen se tun würd." Ein zustimmendes Gemurmel war zu hören. Der Alte fuhr fort: "Sean, sagte se zu mir, wenn mein Seele raus is, ausm Körper, da will se nur hier sein in ihrem Land und darauf achten, dass mein Körper wieder zu dem Land wird, das mich geboren hat." Er schnäuzte sich geräuschvoll in ein gestreiftes Taschentuch "So hat se gesagt."
Karl brachte Sheryll an diesem Abend nach Hause. Sie hatten ein gutes Stück zu laufen und Sheryll war recht nachdenklich. "Was hältst du davon, was der Alte gesagt hat?" Sie hatte ihn persönlich angeredet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er sah sie lange und nachdenklich an. Dann sagte er mit einem Beben in der Stimme "Hier gibt es Dinge, die nicht erklärbar sind. Hier gibt es das Ursprüngliche, das nur die Eingeborenen verstehen, das weißt du selbst. Aber ich brauche keine Geistermärchen, um an ein anderes Märchen zu glauben." Er kam näher und ihre Körper berührten sich fast. "Vielleicht hat den jungen Eldington der Fluch getroffen, bei mir war es auf jeden Fall der Schlag, der mich getroffen hat", dann küsste er sie.
Zwei Jahre später saß Sheryll in ihrem Büro, sah aus dem Fenster auf das wunderschöne Land unter ihr. Sie betrachtete liebevoll den alten Turm, der sie zu dem Mann geführt hatte, den sie liebte. Neben ihr schlief in einer Wiege, ihre gemeinsame Tochter Betty.
Sheryll hatte sich tatsächlich noch einmal die Mühe gemacht, dem rätselhaften Tod Eldingtons auf den Grund zu gehen. Es gab keine wirklichen Fakten, in den Akten war von Selbstmord die Rede. Sheryll war sich sicher, dass diese Interpretation völlig falsch sein musste. Eldington war viel zu selbstverliebt gewesen, um sich selbst zu schädigen.
Das Merkwürdige war nur, dass er völlig alleine in seinem Kölner Appartement, auf dem Boden liegend, gefunden wurde, den blutigen Kopf auf einem zerschlagenen Spiegel. Die Diagnose war plötzlicher Herztod.
Sheryll wusste, was die Polizei nicht wusste, nämlich, dass der Spiegel aus Misses Eldington´s Besitz stammte. Sheryll hatte ihn häufig in der Hand der alten Dame gesehen. An einem nebligen Tag hatte die alte Frau sie zu sich an den Lehnstuhl gerufen und sie in den Spiegel blicken lassen "Wer Schlechtes tut, wird Schlechtes sehen und wenn es im eigenen Bildnis ist", hatte sie gesagt und Sheryll hatte ein wenig geschaudert. Eine Woche später war Betty Eldington gestorben.
Nach der Beerdigung hatte Sheryll in stillem Andenken den Spiegel in eine Steinritze des alten Turmes geschoben, um wenigstens das ehemals darin gefangene Antlitz seinen Wurzeln näher zu bringen.
Sie hatte niemandem davon erzählt.
Lächelnd lehnte sie sich zurück, und genoss den Blick über das Land, das sie so sehr liebte.



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