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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Einmal Glück haben

Eine Kurzgeschichte von Josi Jorigas


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll starte aus dem Fenster auf eine grün-braune Masse, die aus kahlen Bäumen und durchnässten Feldern bestand. Es würde alles gut werden. Sie würde ihr selbstgeplantes Projekt nun beenden und endlich aus ihrem alten Leben fliehen können. 77 Minuten können eine Menge bedeuten. Für Sheryll lag nach 77 Minuten Zugfahrt ein neues Leben. Ein Leben ohne ihre große Liebe Tom, der ihr nie das gegeben hatte, was sie bei ihm gesucht hatte. Ein Leben ohne die Überreste ihrer Familie, ohne ihre Tante Diana und ihre Cousine Carola, die in jeden Gespräch fünf mal fragten, warum sie Tom nicht geheiratet hatte. So, als würde sie sich diese Frage selbst nicht oft genug stellen. Sicher wäre er ein idealer Mann gewesen, hübsch, erfolgreich, immer charmant. Leider zu jeder anderen Frau in Köln und nicht zu ihr, nicht, nachdem sich nach einem halben Jahr ihrer Beziehung Routine eingeschlichen hatte. Sie war trotzdem geblieben, drei Jahre lang, hatte drei Jahre lang erdrückenden Alltag ertragen, war nach der Ausbildung gar nicht erst auf Arbeitssuche gegangen, sondern war zu Tom gezogen und hatte für ihn den Haushalt erledigt. Sie hatte von Kindern geträumt und von einer großen Traumhochzeit. Ihre Mutter war nie verheiratet gewesen. Sie, Sheryll war das Überbleibsel eines Urlaubs in den Staaten und von ihrem Vater hatte sie nichts bekommen als den amerikanischen Namen. Sie wollte es besser machen. Ihre Kinder sollten Vater und Mutter haben.
Aber dann hatte etwas in ihr angefangen, dagegen zu kämpfen. Gegen diese trügerische Harmonie, gegen ihre beinahe devote Liebe zu Tom, der immer mehr zum Macho wurde, mehr mit Kumpels wegging als mit ihr, und den Kellnerinnen in seiner Stammkneipe mehr Komplimente machte. Das sollte nicht ihr Leben sein. Es musste einen Mittelweg geben zwischen dem Leben ihrer Mutter und diesem Spießerleben, auf das sie so zielstrebig zugeschossen war. Von einem Tag auf den anderen war sie zu dem Entschluss gekommen, Tom und Köln und alles, was zu diesem Leben gehörte, zu verlassen und ein neues, ganz anderes Leben zu beginnen. Frankfurt sollte nur der Anfang sein, ein Start. Bald würde ihr die Welt gehören. Ja, ihr Leben würde sich ändern.
Auch Karl ahnte nichts, als er seinen Platz am Fenster verließ und in die Küche seiner kleinen Junggesellenwohnung ging, um sich ein karges Abendessen zu bereiten, das aus Spiegelei bestand und fertig gekauftem Kartoffelsalat, der zu 95% aus Mayonnaise bestand und zu 5% aus Kartoffeln. Er fand auch noch eine Dose Bier im Kühlschrank, spülte schnell ein Glas ab, und goss den Inhalt der Dose hinein. Es war gemütlicher, aus dem Glas zu trinken. Den Teller mit seinem Abendessen stellte er auf einen Stapel Computerhefte, die seit Wochen auf dem Wohnzimmertisch lagen. Einen besseren Platz fand er nicht. Karl schaltete den Fernseher ein und starrte auf eine dramatische Szene in einer Seifenoper, deren Inhalt er nicht verstand und die ihn auch nicht interessierte. Dann war der Teller leer, Glas und Dose auch und Karl ging in die Küche, um etwas zu suchen. Irgendwo musste noch eine Flasche Wein stehen. Er fand sie, nachdem er den Inhalt seines Küchenschrankes auf dem Boden verteilt hatte. Nachdem er zwei Schubladen ausgeräumt hatte, fand er auch den Öffner. Er holte das Glas aus dem Wohnzimmer, spülte es kurz aus und nahm es dann, samt Flasche wieder mit zurück. Er blieb vor dem Fenster stehen. Draußen wurde es langsam dunkel. Es war ein goldener Herbsttag gewesen, aber bald würde es regnen. Regnen und regnen und bis zum März nicht mehr aufhören. Er besah sich den Turm vor seinem Fenster, der schon von ein paar Scheinwerfern angeleuchtet wurde. Karl hasste dieses Leben. Er hasste die muffelige Wohnung, den Job bei der Zeitarbeitsfirma und diese Stadt, in der Männer wie er immer von der Seite angestarrt wurden, weil sie nicht der Norm entsprachen. Er würde das ändern. Er würde alles ändern. Frankfurt sollte nur ein Anfang sein, ein Start. Bald würde ihm die Welt gehören. Ja, sein Leben würde sich ändern.
Sheryll war in Frankfurt angekommen, hatte sich ein Taxi in die Innenstadt genommen und hatte in einem gemütlichen Lokal zu Abend gegessen. Sie hatte zwei Glas Wein getrunken, war in Gedanken noch mal ihren Plan durchgegangen. Sicher war er nicht perfekt. Aber mutig. Und mutig wollte sie immer sein. Sie zahlte und machte sich langsam auf den Weg. Fast zeitgleich hatte Karl seine Wohnung verlassen. Er zog sich seinen alten Mantel über und nahm den Beutel aus seinem Kleiderschrank, in dem alles lag, was er noch brauchte, um seinen Plan zu vollenden. Langsam und mit seltsamer Ruhe erfüllt ging er zu Fuß den Weg in die Innenstadt. Natürlich regnete es jetzt. Aber das störte ihn nicht mehr. Bald würde er irgendwo in der Sonne liegen. So oft hatte er davon geträumt, auszubrechen aus diesem Gefängnis, das sich sein Leben nannte. Jetzt würde er alle seine Träume in die Tat umsetzen. Er erreichte die Bank nach einer Viertelstunde. Er zog sich die Maske an, die er schon vor Monaten besorgt hatte und steckte die Pistole in die Innentasche seines Mantels. Er atmete tief durch, dann bog er um die Ecke und betrat die Bank, die Hand schon in der Innentasche. Die wenigen Besucher der Bank lagen auf dem Boden, die Angestellten hatten die Arme erhoben. Wenige Meter von ihm entfernt stand eine schwarzgekleidete Person mit erhobener Pistole. Verdammt, so etwas konnte nur ihm passieren. Nicht mal mit dieser Idee war er der erste gewesen. Was sollte er nun tun? Sich eine andere Bank suchen? Das war einfach lächerlich. Alles, was heute Abend passierte, war zum heulen komisch, konnte eine Szene aus einer Seifenoper sein. Nicht einmal dieses letzte Mal konnte er Glück haben.
Sheryll reagierte schneller als Karl. Natürlich hatte es sie verwundert. Sie war mitten im Überfall gewesen, als der nächste Bankräuber in die Bank stürmte. Allein wie sie und wahrscheinlich mit genauso schlechtem Plan. Das war wie in einem drittklassigem Gangsterroman. Aber jetzt musste sie das Beste daraus machen. "Gut das du kommst!", rief sie mit lauter und fester Stimme, "Wurde auch wirklich Zeit." Sie packte eine Frau, die vor ihr auf dem Boden lag und befahl ihr, aufzustehen. "Nimm sie als Geisel." Dann richtete sie die Pistole auf einen Bankangestellten. "Haben Sie mich nicht verstanden? Geld in diesen Beutel hier, los!"
Karl hielt die Pistole auf die Geisel gerichtet, noch immer zu verdutzt, um das, was hier passierte wirklich begreifen zu können. Das hier war mehr als lächerlich. Aber immerhin, er sah, wie der Angestellte Geld in den Sack räumte. Es schien alles reibungslos zu laufen. Vielleicht war es dieses Planlose, dieses Verrückte, das diese Unternehmung zu einem Erfolg machte. Zwei Beutel waren schon voll mit Geld.
"Los, komm her und hilf mir tragen", kommandierte Sheryll und gefiel sich in der Rolle als Gangsterboss schon ganz gut, "Einen Fluchtwagen hast du doch bereitgestellt, oder?"
"Unser Fahrer wartet draußen", antwortete Karl und kam sich vor wie in der Neufassung von Bonnie und Clyde, ein Film, der ohne Drehbuch gedreht wurde.
Gemeinsam rannten Sheryll und Karl nach draußen, jeder mit zwei Beuteln Geld unter den Armen. Wortlos rannten sie die Straßen lang, brauchten bis zu Karls Wohnung nur zehn Minuten. Die Polizei suchte jetzt nach drei Flüchtigen Bankräubern in einem gestohlenem Auto.
"Sheryll", sagte Sheryll, als sie wieder genug Luft zum Sprechen hatte.
"Ich bin Karl", antwortete Karl.
Sheryll musste grinsen. "Danke. Ohne dich hätte ich das wohl nicht geschafft."
Karl lachte. Das war einfach Wahnsinn, was hier vor sich ging. Das konnte einfach nicht real sein.
Sie packten das Geld, eine ganze Menge Euro, in zwei von Karls alten Koffern. Gegen Mitternacht verließen sie die Wohnung und fuhren in aller Ruhe mit einer U-Bahn zum Bahnhof, wo Karl zwei Tickets für den ICE nach München kaufte. Früh morgens kamen sie dort an, nahmen sich ein billiges Zimmer in einem Hotel für Rucksacktouristen und hörten sich im Radio den Bericht über den seltsamsten Bankraub aller Zeiten an. Am späteren Morgen, nach einem Frühstück, buchten sie einen Flug nach Rio, wo sie ein paar Wochen lang Urlaub machten. In Deutschland fahndete die Polizei vergeblich nach einer Gruppe Krimineller. "Der Überfall musste seit Wochen geplant gewesen sein", sagte ein Sprecher im Fernsehen, "Es war ein Überraschungsangriff gewesen, der nur durch exzellente Planung funktionieren konnte."
Sheryll und Karl mussten darüber lachen. Sehr viele Jahre später erzählten sie ihren Enkeln von der außergewöhnlichen Geschichte ihrer Liebe, von einer Hochzeit in Los Angeles und von einem sehr schönem Leben auf der Flucht. Es war nur einmal in ihrem Leben, an dem Sheryll und Karl richtig Glück gehabt hatten, aber dieses eine Mal reichte für den Rest ihres Lebens.



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