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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Eine Kurzgeschichte von Sarah Franziska Tichy


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Mit einem Seufzer wendet er sich vom Fenster ab und guckt sich in der düsteren Zelle um. Zwei harte Betten mit kratzigen Decken belegt, zwei kleine Schränke vollgestopft mit Fotos, Büchern und CDs. An der Wand hängen einige Poster des Playboys, nackte Frauen in zweideutigen Posen, nichts Besonderes für ein Gefängnis.
Ungeduldig trommelt die hübsche, schlanke Frau in dem schwarzen Kostüm auf ihrer Mappe rum. Sheryll hatte versucht sich zu konzentrieren, schließlich waren es nur noch zwei Wochen bis zur Eröffnung des neuen Einkaufszentrums in der Kölner Innenstadt, an der sie großteils beteiligt war. Doch sie dachte immer wieder an den vorstehenden Besuch. Nach zwei Jahren sollte sie ihn wiedersehen, ihren Bruder Michael. Sie war aufgeregt, nervös, unsicher, vielleicht auch ängstlich. Sie wusste nicht, was sie erwartete und das mochte sie nicht.
Sein letzter Tag... endlich! Seine wenigen Habseligkeiten hatte er schon eingepackt; ein paar Fotos von seinen Eltern und seiner großen Jugendliebe Sheryll, seine Lieblings-CDs von Queen und AC/DC und sein Tagebuch, das er führte, seit er 15 war. Jetzt war es 15:34 und erst um Punkt 18:00 wurde er entlassen. Endlich Freiheit, doch Angst machte sich in ihm breit. Was sollte er draußen machen? Wo sollte er wohnen? Zu wem konnte er gehen? So viele Fragen und keine Antwort.
"Mein Gott, geht das nicht schneller!" Sheryll wurde ungeduldig, sie mochte keine Züge, noch weniger, wenn sie vor dem Ziel Angst hatte. Trotzdem wollte sie schnell hin, alles das hinter sich haben, das war es, was sie wollte. Sie hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, hatte die Besuche aufgeschoben, aus Angst, wie sie heute zugeben musste. Ein gewalttätiger Bruder, kein leichtes Schicksal für eine junge, erfolgreiche Architektin.
Er lief unruhig hin und her. Karl war von Natur aus ungeduldig und warten verabscheute er. "Willste nicht mit auf den Hof? Komm, das letzte Mal... ", sagte sein Zellengenosse Dietmar. "Nee," Karl winkte ab, "lass ma´, ich muss noch was packen!" Er wollte allein sein, einfach nur allein sein. Dietmar zuckte mit den Schultern und bückte sich, als er durch die Tür ging. 1,98m groß und Schultern wie ein Möbelpacker.
Endlich! "Nächste Haltestelle; Frankfurt Hauptbahnhof: Dieser Zug endet dort. Anschlüsse ....." kam aus den Lautsprechern. Sie stand auf, ordnete ihre Klamotten und Haare und ging aus dem Abteil. Als der Zug in dem Bahnhof einfuhr, klopfte ihr Herz stärker denn je. Michael hatte nicht viel gesagt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn besuchen wolle. Nach zwei Jahren. Jetzt aber war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen, da musste sie jetzt durch. Der Zug hielt, die Tür ging auf und Sheryll trat hinaus in den kalten Novembertag. Es regnete, der Himmel war grau und sie fröstelte.
Er ging zum dritten Mal in einer halben Stunde aufs Klo. Wie gesagt, er hatte Angst. Und Karl hatte nicht oft Angst. Nicht mal, als der Richter ihn zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilte. Nein, nie. Aber jetzt. Und er ärgerte sich darüber, er war kein Schwächling. Nein, er wollte es nicht sein. Doch was sollte er tun? Erst mal ins Bordell, nahm er sich vor, drei Jahre Abstinenz, nicht leicht für einen Frauenschwarm. Grade mal 34 war er, das Beste Alter jeden Mannes. Sollte er versuchen, Sheryll zu sehen? Was wohl aus ihr geworden ist? Architektur wollte sie studieren, heiraten, Kinder kriegen. Bildhübsch war sie damals gewesen, mit 17, als sie neu in die Klasse kam. Sie waren zwei Jahre das Traumpaar der Klasse gewesen. Doch als sie nach Marburg ging um zu studieren, hörte alles auf. Sie verliebte sich in einen Jura-Studenten und er fing an, sich als Drogendealer über Wasser zu halten. Warum weiß er nicht, er war so hinein gerutscht, durch Freunde und so. Schlechte Ausrede, das wusste er selber, doch was sollte er groß sagen?
"Zur Strafvollzugsanstalt Höhesberg, bitte," sagte sie dem Taxi-Fahrer mit zitternder Stimme. Er nickte und lies das Gas an. Nach etwa 20 Minuten blieb er vor einem grauen, traurigen Gebäude stehen, das die gleiche Farbe wie der Himmel hatte. "Macht 7,55 bitte!" Sie gab ihm 10. Ohne noch ein Wort zu sagen, stieg sie aus und ordnete zum x-ten Mal ihre Kleider. Inzwischen war es kurz vor 18.00, sie hatte lange gebraucht um ein Taxi zu finden und vorher hatte sie versucht mit Bus und Bahn zum Gefängnis zu kommen.
Endlich! "Na, Karl, bereit für die Freiheit?", munterte ihn Herr Streckler auf, der Beamte, der ihm drei Jahre Essen und Trinken gebracht hatte. Karl nickte nur kurz, holte tief Luft, sah sich noch einmal zu Dietmar um und schritt großen Schrittes aus der winzigen Zelle raus in Richtung Freiheit. "Mach´s gut, Karl! Viel Glück da draußen!", rief ihm Michael zu. "Mach sie alle!", brüllte Axel. Michael nickte nur stumm und brachte ein schwaches Grinsen zu Stande. "So, Karl, viel Glück und las dich hier nie wieder blicken," sagte ihm Herr Streckler, als er das große Tor aufmachte. "Jaja," grinste Karl und holte tief Luft. Er schaute sich um. Der Himmel grau, wie an dem Tag, als er ins Gefängnis kam, die Straßen, Bäume, Sträucher sahen gleich aus. Er war irgendwie schon fast enttäuscht. Vor ihm auf der Straße hielt ein Taxi und ein gut gekleidete, attraktive Frau stieg aus. Ziemlich mürrisch und unsicher war ihr Gesichtsausdruck.
Sie zitterte am ganzern Körper. Als sie aufblickte, sah sie einen Mann, Mitte Dreißig, gutaussehend und ihr bekannt vorkommend. "Karl", schrie sie. Mein Gott, sie hätte ihn fast nicht wieder erkannt. Was tat er hier?
"Sheryll, was für ein Zufall!" Was tat sie hier??? Sie sah gut aus, verdammt gut. "Oh mein Gott, das kann nicht wahr sein. Was machst du hier?" "Ich besuche jemanden! Und du?? Bist du etwa gerade freigelassen worden?", fragte sie ihn mit Zittern in der Stimme.
Sie konnte es nicht glauben. Ihr Karlchen! Im Gefängnis! "Na ja, schon... wen besuchst du denn?", fragte er sie nun. "Wollen wir uns nicht irgendwo hinsetzen und reden?" "Ok, gerne!" sagt er und sie gingen in ein nahes Café und redeten. Sehr lange. Sie vergas den Besuch bei ihrem Bruder und er vergas seine Angst vor der Freiheit.
Und am Ende schliefen sie beide glücklich zusammen in einem Hotelbett...



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