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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Eine Kurzgeschichte von Angela Hoffmann


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl fühlte sich gut. Er öffnete das Fenster seines alten Opel Kadetts etwas. Eine leichte Brise wehte ihm um die Nase, als er auf irgendeinem Parkplatz auf der Landstraße in Richtung Frankfurt anhielt, um den ehrwürdigen, alten Turm zu betrachten. Er hätte den Weg auch doppelt so schnell nehmen können, wenn er stattdessen über die Autobahn gefahren wäre. Aber Karl hatte es nicht eilig. Karl hatte selten Stress, denn er machte sich einfach keinen. Sein Leben verlief immer ruhig und geregelt, ohne besondere Hochs und Tiefs. Er war ein ganz gewöhnlicher junger Mann und es reizte ihm auch nicht, etwas besonderes zu sein. Karl wollte nach Frankfurt, um sich Wohnungen anzuschauen, denn im nächsten Monat würde er seine neue Stelle bei "Xeno", einer neuen IT-Firma antreten. Drei Wohnungen würde er erst abends gegen 19 Uhr besichtigen. Jetzt aber war es erst vier Uhr und in zwanzig Minuten würde er in Frankfurt City ankommen.
Sherylls Gedanken schweiften, von ihrem neusten beruflichen Projekt, als Fotografin, zu ihrem ganz Persönlichen und das hieß Janne: Der hübscheste Kerl der Galaxie, nein, des ganzen Universums. Er war Sänger und Gitarrist der "Randy Guys", einer Rock-Band.
Janne war Finne. Seine Gesichtszüge wirkten zart und fein, beinahe kindlich. Seine helle Haut schimmerte porzellanartig, fast zerbrechlich. Das schönste an ihm aber waren, das fand Sheryll jedenfalls, seine Augen: Sie waren hellblau, wie der Frühlingshimmel und sie schienen sprechen zu können. Sie unterstrichen seine geschmeidig, sanfte Stimme. Seine Rock-Balladen trafen sie direkt ins Herz und weckten Sehnsüchte in ihr, die sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn an die Hand zu nehmen. Er würde sie dabei anlächeln, mit seinem Lächeln, das selbst das kälteste Gletschereis zum Schmelzen brachte. Sie wünschte sich ihn zu küssen, erst ganz sanft, nur den Hauch seiner Lippen auf ihrem Mund zu spüren, und dabei seinen Geruch tief einatmen, ganz in sich aufnehmen, bis seine Küsse leidenschaftlicher würden und dann....
Sheryll wurde aus ihrer Gedankenwelt gerissen, denn der Zug hatte sein Ziel erreicht. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Aber ihre Hoffnungen waren berechtigt: Bei dem letzten Auftritt der Band in einer Disco, nahe ihrer Heimatstadt, hatte er ihr ganz tief in die Augen gesehen, sie während der Pause angesprochen und sie nach ihren Namen gefragt. "Sheryll", hatte er mit seiner sanften, melodischen Stimme gehaucht, "das klingt nach einem Feld voll tiefblauer Kornblumen in der Sommersonne!" Aus dem Mund eines jeden anderen hätte es affig geklungen, aber bei ihm wirkte das echt. Und zuletzt, bevor er weiterspielen musste, hatte er ihr eine Freikarte, für dieses Konzert, heute, hier in Frankfurt gegeben. Seine Band würde als Vorband für eine andere, renommiertere Gruppe auftreten. Aber die Hauptband war ihr "schnurzpiepegal".
Sheryll irrte verloren in der Stadt herum. Sie kannte hier keine Menschenseele und bis heute Abend um acht war noch viel Zeit. Natürlich hätte sie auch einen späteren Zug nehmen können, doch befürchtete sie, sie könnte zu spät ankommen.
Sie faltete ihren Stadtplan auseinander. Die Sonne blendete sie, so dass sie Schwierigkeiten hatte, die Namen der Straßen entziffern zu können.
Da hörte sie auf einmal eine freundliche, männliche Stimme neben sich fragen: "Darf ich dir meine Sonnenbrille leihen?"
Sheryll blickte in das offene Männergesicht. Er lächelte lieb.
"Ach ich glaub', das nützt auch nichts, außerdem weiß ich sowieso nicht, wohin ich will!"
"Da haben wir ja was gemeinsam. Möchtest du mit mir nichts tun?!"
Normalerweise würde sie mit so einem durchschnittlichen Typen, wie diesem hier, zumindest rein optisch, keine drei Sätze wechseln, aber da ihr langweilig war - warum nicht?!
Sie nickte nur.
"Wenn wir schon zusammen auf so außergewöhnliche Weise unsere Zeit verbringen, möchte ich mich zumindest vorstellen: Mein Name ist Karl, genannt Charly".
"Hi Charly, ich bin Sheryll!"
"Da meine Briefmarkensammlung zu Hause in Düsseldorf liegt und ich dich nicht damit ködern kann, probier ich's einfach mit einer Einladung zum Kaffee!" - Seine Augen blickten sie arglos an.
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen: "Nein lieber nicht!"
Er blickte sie daraufhin trübselig, mit seinen großen, treuen Hundeaugen an.
"Aber wenn dein Angebot auch für ein Eis steht, dann überleg ich's mir vielleicht doch noch anders!" - "Ist gebongt! - Da du meine Sonnenbrille nicht haben wolltest, biete ich dir an, einfach mir zu folgen. Aber keine Angst", ergänzte er noch verschmitzt lächelnd, "ich bin nicht der Rattenfänger von Hameln!" - "Und ich nicht so leicht zu kriegen!"
Charly war drei Jahre älter als sie, aber er wirkte älter als dreiundzwanzig. Er schien so vernünftig und anständig zu sein. Aber seine braunen Augen blickten sie aufrichtig und fasziniert an.
Er erzählte ruhig und ernsthaft, aber dennoch nicht ohne Witz und Charme. Er konnte vor allem das, was viele nicht schafften: über sich selbst lachen! Die Zeit verging rasend schnell und Sheryll hatte sich schon lange nicht mehr so prächtig amüsiert, wie in diesem frühen Abendstunden.
Auf einmal blickte Charly besorgt auf seine Armbanduhr: "Schade Sheryll, ich muss los, die erste Wohnung kann ich mir in fünfzehn Minuten ansehen und ich muss noch ein Stück laufen. Aber wenn du willst, kann ich dich morgen mitnehmen. Deine Wohnung liegt sozusagen auf meinem Weg. An Köln muss ich da sowieso vorbei fahren.
Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen um zehn Uhr im gleichen Cafe.
Sheryll stimmte ihn einfach nur zu. Morgen früh würde sie mit Janne zusammensein. Charly würde umsonst auf sie warten! Eigentlich tat ihr das leid, wenn sie sich vorstellte, er würde morgen früh auf sie warten und warten und ganz besorgt auf seine schwarze Armbanduhr mit den leuchtend goldenen Ziffern blicken. Aber sie brachte es einfach nicht fertig ihm die Wahrheit zu sagen!
Das Konzert war atemberaubend. Janne schien sie in der Menschenmenge wieder zu erkennen. Sie glaubte, er zwinkere ihr heimlich zu.
Noch bevor die Hauptband zu spielen anfing verließ sie die Halle. Sie stellte sich an den Ausgang und wartete und wartete, bis Janne wohl kommen würde. Das Konzert war längst zuende. Da erschien er: Eine Haarsträhne hing ihm wirr in sein erhitztes, aber strahlendes Gesicht. Sheryll wollte schon auf ihn zustürmen, da entdeckte sie, wie eine langbeinige, elfenhaft wirkende Gestalt, buchstäblich auf ihn zu schwebte. Er umarmte sie, zog sie hoch zu sich, auf seine Augenhöhe und küsste sie leidenschaftlich. Sheryll versteckte sich vor Scham und Enttäuschung hinter einer grauen Betonsäule. Tränen der Trauer rannen ihr übers Gesicht.
Da tippte ihr jemand von hinten leicht auf die Schulter: Charly!, plötzlich gab es für sie nichts Schöneres, als seinen offenen, treuherzigen Hundeblick wieder zu sehen! Wie sein Gesicht leuchtete, als er sie anschaute! Wie sehr, das war ihr heute Nachmittag noch gar nicht aufgefallen!
"Hi Sheryll, ich bin's schon wieder! Ich dachte mir, vielleicht würde es dir ja gefallen, wenn wir unseren gemeinsamen Tag, noch schön ausklingen ließen. Da du mir gesagt hattest, du würdest heute Abend auf das Konzert hier gehen, dachte ich mir: Schau' doch einfach mal vorbei, vielleicht triffst du Sheryll! Und tatsächlich hab' ich dich in der Menschenmenge wieder gefunden! Wenn das kein gutes Omen ist! Möchtest du mit mir mitkommen, Sheryll, so wie heute Nachmittag?"
Sie packte ihn einfach am Ärmel seiner graublauen Cordjacke und zog ihn mit sich mit.
Ausgelassen rumalbernd zogen sie bis zum Morgengrauen durch die Straßen.



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