Ein heißer Sommer
© B. P. Anderson
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Seit Sheryll den Anruf der Frankfurter Firma erhalten hatte, ging es ihr wesentlich besser. Denn seit kurzem versuchte sie sich als Model und Schauspielerin - leider mit mäßigem Erfolg. Aber in einer Tageszeitung hatte sie eines Tages eine vielversprechende Anzeige entdeckt und sich beworben.
In den letzten Monaten hatte sie fast ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht. Wenn sie zu irgendwelchen Vorstellungsgesprächen ging, wollte sie modisch immer auf dem neuesten Stand sein. Und das kostete viel Geld.
Sheryll verfügte zwar über Traummaße, ein apartes Gesicht und kurze dunkle Haare. Aber zur Zeit waren mehr die blonden Frauen angesagt. Dabei sah Sheryll mit ihren 25 Jahren wahrlich nicht schlecht aus.
Das fand anscheinend auch der Mann, der ihr gegenüber im Abteil Platz genommen hatte. Denn er ließ sie keinen Moment aus den Augen. Aber davon bemerkte Sheryll zunächst nichts.
Seit der Abfahrt aus dem Kölner Bahnhof saß Sheryll mit übereinandergeschlagenen Beinen in der Fensterecke.
Ihr ganzes Denken hatte sich seit der Abfahrt immer wieder um den Job in Frankfurt gedreht. Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Die Anruferin hatte nur geheimnisvoll von einem Projekt gesprochen, das unbedingt abgeschlossen werden müsste und sehr gut bezahlt würde.
Schon einen Tag nach dem Anruf fand Sheryll in ihrem Briefkasten einen großen Umschlag. Er enthielt Zugfahrkarten und einen Zettel mit Adresse und Wegbeschreibung. Sogar der angekündigte Scheck mit der großen Anzahlung war dabei. Sheryll wäre vor Glück beinahe geplatzt.
Erst als der Mann ihr gegenüber plötzlich dezent hüstelte, schreckte Sheryll hoch und nahm den Mann näher in Augenschein. Seine Kleidung hatte der Mann mit Sicherheit nicht von der Stange gekauft. Ihr Blick glitt über die Hose des Mannes und blieb an einer ausgebeulten Stelle besonders lange haften. Sheryll schoss das Blut in den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie daran nicht ganz unschuldig war. Ihr wurde es ziemlich heiß.
Verlegen sah sie an sich herunter und musste sich insgeheim eingestehen, dass ihr ultrakurzer Rock vielleicht doch etwas zu gewagt war. Man konnte ihn mit ein wenig Übertreibung ohne weiteres mit dem Nierengurt eines Motorradfahrers verwechseln. Aber Sheryll hatte sich fest vorgenommen, ihre schlanke Figur ins rechte Licht zu rücken. Sie wollte sich in Frankfurt auf jeden Fall für eine weitere Zusammenarbeit empfehlen.
Sheryll schätzte den Mann auf Mitte bis Ende dreißig, obwohl die grauen Haare ihn älter erscheinen ließen.
Für die grandiose Aussicht aus dem Fenster hatte der Mann allerdings ebenso wenig einen Blick übrig wie Sherryl, obwohl der Zug durch den wunderschönen sonnenüberfluteten Westerwald fuhr.
Vielmehr glitten die Augen des Mannes immer wieder über Sherylls lange schwarz bestrumpfte Beine. Sheryll wurde es bei seinen taxierenden Blicken noch heißer. Ganz automatisch strich sie ihren enganliegenden Minirock glatt. Doch dadurch wurde er auch nicht länger.
Verlegen wollte Sheryll ihre Sitzposition ändern, wurde aber durch die überraschend sympathische Stimme des Mannes unterbrochen.
"Schönheit sollte man nicht verstecken, junge Frau!", sagte er mit ruhiger Stimme und dabei funkelten seine blauen Augen.
Im ersten Moment fühlte sich Sheryll geschmeichelt. Das legte sich aber, als sie die Bedeutung der Worte richtig begriffen hatte.
Sheryll schoss das Blut ins Gesicht. Ihr Bein befand sich noch in der Schwebe. Aber ohne dass sie es sich selbst erklären konnte, ließ sie es trotzdem wieder in die alte Stellung zurücksinken.
Ärgerlich über sich selbst fluchte sie in sich hinein, gab dem Mann aber zunächst keine Antwort. Sie wusste überhaupt nicht, was sie ihm darauf antworten sollte. Ihre Gedanken rasten im Eiltempo.
"Meinen Sie?", rief sie schnippisch zurück.
Sie hatte noch gar nicht richtig ausgesprochen, da ärgerte sie sich auch schon über ihre kindische Erwiderung.
"Na warte, was du kannst, das kann ich auch!", dachte sie wütend.
Karl döste mit offenen Augen vor sich hin, während die Landschaft rasend schnell am Fenster vorbeischoss. Zu Beginn der Fahrt hatte er noch aus dem Fenster gesehen und einige alte Häuser und Brücken bewundert. Aber schnell war ihm das leid geworden, weil der Zug so schnell fuhr.
Karl hasste Bahnfahrten und wäre nur zu gerne mit dem Auto gefahren. Wegen des zugeschickten Schecks hätte er das auch ohne weiteres tun können, aber Karl wollte und musste sein Geld zusammenhalten. Deshalb ließ er die Fahrkarte nicht verfallen und biss in den sauren Apfel einer ihm eigentlich zutiefst widerwilligen langweiligen Zugfahrt.
Seit er aus dem Bahnhof in Kassel abgefahren war, nervte ihn das monotone Rattern der Räder.
Ihm schräg gegenüber saß eine Frau mit unauffälligem Gesicht. Karl hatte sie deshalb auch nicht weiter beachtet. Die Brille der Frau verstärkte noch den unscheinbaren Eindruck, den sie auf ihn machte. Sie starrte gedankenverloren vor sich hin.
Karls Stimmung ging gegen den Nullpunkt. Das änderte sich aber schlagartig, als die Tür sich wieder quietschend schloss. Er blickte auf und entdeckte eine rothaarige Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und versuchte ihren Koffer in die Ablage zu wuchten. Ohne nachzudenken, sprang Karl der Frau helfend bei.
"Danke, junger Mann", flötete die Rothaarige mit weicher Stimme, während sie sich zu Karl herumdrehte.
Zuerst fielen ihm die grünen Augen in dem attraktiven Gesicht der Frau auf. Karl fand, dass sie eine überaus faszinierende Erscheinung war. Sie war bestimmt einige Jahre älter als er selbst, sah aber wesentlich jünger aus. Die Rothaarige trug ein beinahe knielanges helles, fast durchsichtiges Sommerkleid und ein dazu passendes dünnes Jäckchen.
"Puuh, hier drin ist es aber heiß! Würden Sie bitte das Fenster einen Spalt öffnen?", hörte Karl die Frau stöhnend fragen.
"Ja, si ... sicher", brachte Karl stotternd hervor und beeilte sich, dem Wunsch der Frau nachzukommen.
Der Fahrtwind wehte mit Macht ins Abteil. Karl drehte sich zurück und setzte sich nichtsahnend. Er traute seinen Augen nicht, als er wieder aufblickte. Die Rothaarige wandte ihm ihren überaus reizvollen verlängerten Rücken zu und kramte mit herabgebeugtem Oberkörper neben dem Sitz der anderen Frau in ihrem Handgepäck herum.
Die Unscheinbare schien auf einmal gar nicht mehr so sehr in Gedanken versunken. Ärgerlich schleuderte sie Karl aus ihren Augen eisige Blitze entgegen. Mit offenem Mund und staunenden Augen saß Karl auf seinem Platz.
Das gleißende Sonnenlicht durchdrang das wehende helle Kleid und Karl musste schlucken, als er die Konturen der phantastischen Rundungen der Rothaarigen darunter erkennen konnte.
Der Fahrtwind spielte mit dem Stoff des weiten Kleides und steuerte ein übriges zu Karls trockenem Hals bei. Immer wieder hob der Wind das Kleid an. Karl erinnerten diese aufregenden Momente an einen Film mit der Monroe, als ihr weißes Kleid in die Höhe geweht wurde. Nur trug Marylin damals noch etwas darunter, während die Rothaarige anscheinend wegen der anhaltenden Hitzewelle darauf verzichtet hatte. Karl hatte plötzlich einen Kloß im Hals und der Schweiß brach ihm aus. Aber die Frau machte
keine Anstalten, sich allzu schnell wieder aufzurichten.
Wenn Blicke töten könnten, wäre Karl nicht lebend in Frankfurt angekommen. Wahrscheinlich war die Unscheinbare neidisch auf die tolle Figur der Rothaarigen. Anders konnte sich Karl die wütenden Blicke der Frau nicht erklären. Auf die Idee, dass sie vielleicht selbst einmal so bewundernd von ihm angesehen werden wollte, kam er aber nicht.
Karl war schließlich noch keine dreißig Jahre alt und hatte das gewisse Etwas, auf das Frauen flogen. Und Freunde alter Filme hätten ihm ohne weiteres eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Carry Crant bescheinigen können.
Aber die Unscheinbare mochte wohl keine alten Streifen. Stattdessen murmelte sie irgendetwas vor sich hin, was sich für Karl wie "Geiler Gockel" anhörte. Aber er kümmerte sich nicht weiter um die Frau und genoss stattdessen ein kleines Zipfelchen vom Paradies.
Völlig unerwartet richtete sich die Rothaarige wieder auf und brachte ein Taschenbuch hervor. Aufreizend langsam entledigte sie sich ihrer Jacke. Ihre Brüste schimmerten durch den Kleiderstoff. Die Frau setzte sich neben die Unscheinbare und sah zu Karl herüber. Sie brachte sein Blut mit einem einzigen heißen Augenaufschlag zum Sieden. Das verstärkte sich noch, als sie ihre hochhackigen schwarzen Schuhe abstreifte und ihre Füße gekonnt auf den Sitz zog. Äußerlich gelassen griff sie nach dem
Buch und begann darin zu blättern. Nebenbei blickte sie von Karl zu ihrer Nachbarin und wieder zurück.
Die Augen der Brillenträgerin verschossen wieder Blitze. Diesmal jedoch zu ihrer Geschlechtsgenossin hinüber. Aber die lächelte nur und zwinkerte Karl verschwörerisch zu.
Karl ertappte sich plötzlich bei dem Wunsch, auf den Platz neben der Rothaarigen zu wechseln. Aber er wusste nicht, unter welchem Vorwand er das anstellen sollte. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Ihm fiel aber auch nichts passendes ein. Er war ziemlich verwirrt, weil er sich von der attraktiven Frau wie hypnotisiert fühlte.
Gewaltsam versuchte Karl sich abzulenken und schloss seine Augen. Seine Gedanken landeten bei Sheryll, die er nun schon fast ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen hatte. Er dachte an die erste Begegnung auf den Seychellen. Zufälligerweise waren sie eines Abends an einer Strandbar zusammengestoßen und hatten sich gegenseitig ihre Drinks über die Garderobe geschüttet. Nach ersten gegenseitigen Schuldzuweisungen mussten sie beide lachen und fanden sich auf Anhieb sympathisch. Wie sich im weiteren
Verlauf des Abends herausstellte, wohnten sie glücklicherweise sogar im gleichen Hotel.
Doch nach herrlichen zehn gemeinsamen Tagen und Nächten musste Sheryll leider nach Deutschland zurückfliegen. Karl versprach seinem Urlaubsflirt, sich bei seiner Rückkehr zu melden und Sheryll gab ihm ihre Visitenkarte.
Doch wie das Schicksal es wollte, tauchte Karls Koffer nach dem Rückflug nicht wieder auf. Leider hatte sich darin auch Sherylls Karte befunden. Doch trotz wochenlanger intensiver Suche im Raum Köln hatte er nie wieder etwas von Sheryll gesehen oder auch nur gehört.
"Würden Sie mir bitte meinen Koffer herunterheben? Ich muss hier aussteigen."
Verstört schreckte Karl auf, als die Rothaarige ihn wiederholt ansprach.
"Wo sind wir denn hier? Entschuldigen Sie, ich habe ein wenig geträumt", versuchte sich Karl zu rechtfertigen.
Ein zufälliger Blick auf die Unscheinbare bestätigte ihm, dass die Frau ziemlich nachtragend war. Vernichtende Blicke trafen ihn.
"Frankfurt/Flughafen", erwiderte die Rothaarige und nahm den Koffer entgegen.
"Oh, dann muss ich hier auch aussteigen", hatte es Karl plötzlich eilig.
Noch ziemlich durcheinander packte er seine Sachen zusammen. Wenig später zwängte er sich erleichtert hinter der Rothaarigen zum Ausgang. Er war froh, dem Drachen aus seinem Abteil entkommen zu sein. Statt dessen bewunderte er den anregend aufregenden Gang der rothaarigen Frau und blieb absichtlich ein Stück hinter ihr. Karl träumte mit offenen Augen. In seiner Fantasie sah er die Frau ganz ohne Kleidung vor sich hergehen; nur mit dem Gepäck in der Hand. Sofort wurde es ihm wieder richtig heiß.
Die Frau schritt mit gleichmäßigen Bewegungen durch die gesamte Bahnhofshalle.
Ihr wohlgeformtes Hinterteil schaukelte dabei von links nach rechts und wieder zurück. Karl folgte ihr wie in Trance, ohne die Augen von ihr lassen zu können. Schon stand die Rothaarige auf dem Bahnhofsvorplatz. Ihr Kleid wehte im Wind wie ein Wäschestück auf einer Leine. Karls Fantasie schlug Purzelbäume, während die Rothaarige zielstrebig den Taxistand ansteuerte.
Karl beschleunigte seine Schritte, um wenigstens noch nach ihrem Namen zu fragen. Er wollte die Unbekannte nicht einfach so ziehen lassen. Aber ehe er zu ihr aufschließen konnte, öffnete sie die hintere Tür eines der gelben Fahrzeuge und schwang sich elegant hinein. Karl legte einen kurzen Spurt ein. Aber da war es schon zu spät. Für einen kurzen Moment konnte Karl noch einen Blick unter ihr wehendes Kleid erhaschen, bevor die Frau die Tür zuzog. Fasziniert und mit keuchenden Lungen blieb er
stehen und starrte auf das abfahrende Taxi. Die Rothaarige sah aus dem Seitenfenster und warf ihm völlig überraschend eine Kusshand zu.
Wie berauscht konnte sich Karl eine ganze Weile nicht bewegen und blickte dem davonbrausenden Fahrzeug noch lange nach.
Gelassen ertrug der Grauhaarige Sherylls Blicke. Nur ein leicht spöttisches Lächeln hatte sich in seinem markanten Gesicht festgesetzt.
Dadurch fühlte sich Sheryll erst recht herausgefordert. Die Selbstbeherrschung des Mannes ärgerte sie maßlos. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie verließ das Abteil und schloss sich in der Toilettenkabine ein.
Schon wenig später ging Sheryll in ihr Abteil zurück und verstaute ein winziges Stoffteil in ihrer Reisetasche.
Sie ließ sich nieder und schlug die Beine provozierend langsam übereinander. So gut es ging, versuchte sie dabei eine bekannte Schauspielerin zu kopieren, die vor einigen Jahren in einem Film zusammen mit Michael Douglas für einen handfesten Skandal gesorgt hatte.
Der Adamsapfel des Mannes hüpfte vor Überraschung, als er erkannte, dass die Frau gegenüber plötzlich nichts mehr unter dem Rock trug.
Sheryll frohlockte, als sie die ersten Schweißperlen auf der Stirn ihres Gegenübers entdeckte. Nervös leckte sich der Mann über die Lippen.
"Na, was sagst du jetzt? Das hast du nun davon!", schoss es Sherryl triumphierend durch den Kopf.
Doch für sie völlig unerwartet hatte Sheryll keine Zeit mehr, sich allzu sehr über ihren Erfolg zu freuen. Sie hatte nicht mehr an die verkürzte Fahrtzeit über die neue Trasse gedacht. Der Zug fuhr mit quietschenden Bremsen in den Frankfurter Bahnhof ein.
Sie richtete sich auf und griff nach ihrem Koffer. Plötzlich spürte sie den Körper des Mannes dicht hinter sich. Eine ungeahnte Erregung erfasste Sheryll und am liebsten wäre sie noch eine ganze Weile bewegungslos stehen geblieben. Mit wogender Brust ließ sie es geschehen, dass der Mann ihren Koffer herabhob. Sie bedankte sich mit belegter Stimme und verließ das Abteil.
Sie war noch ganz durcheinander von der Berührung des Mannes; selbst als sie schon im Taxi saß. Von dem Zettel las sie die Adresse ab und nannte sie dem Fahrer. Unauffällig sah sie aus dem Fenster, um nach ihrem ehemaligen Begleiter zu suchen. Aber der war wie vom Erdboden verschwunden.
"Schade!", dachte sie enttäuscht.
Der Wagen fuhr an und sie drehte ihren Kopf zurück. Aber auch ihre suchenden Blicke aus dem Rückfenster konnten den Eleganten nicht entdecken.
"Vielleicht ist er hier gar nicht ausgestiegen", schoss es ihr durch Kopf.
Achselzuckend machte Sheryll es sich bequem und versuchte den eleganten Mann aus ihren Gedanken zu verbannen. Ihre Gedanken eilten zu ihrem letztjährigen Urlaub zurück und sie musste unwillkürlich lächeln. Vor ihrem geistigen Auge tauchte Karl auf. Sie glaubte wieder den Duft des Cocktails in der Nase zu spüren, der sich damals über ihre Kleidung ergossen hatte.
Aber plötzlich lächelte sie nicht mehr.
"Er hat sich einfach nicht gemeldet, der Idiot!"
Wütend geworden, versuchte sie Karls Gesicht aus ihrem geistigen Auge zu verdrängen und konzentrierte sich statt dessen wieder auf den Mann aus ihrem Abteil.
Aus einer Laune heraus ließ sie den völlig überraschten Taxifahrer plötzlich vor einem Café halten und bezahlte hastig. Sheryll musste jetzt unbedingt etwas trinken. Sie würde zu spät kommen, aber das war ihr auf einmal egal.
Erst anderthalb Stunden, zwei Tassen Kaffee und drei doppelte Cognacs später, stand Sheryll vor einem elegant aussehenden Neubau mit Glasverkleidung.
"Best Film Productions", las sie murmelnd von einem kleinen dezenten Firmenschild ab und betrat das große Gebäude.
Die ältere Frau am Empfang lächelte und begrüßte sie ziemlich überschwänglich, kaum dass Sheryll ihren Namen genannt hatte.
"Gut, dass du da bist. Wir können ohne dich nicht weitermachen. Ich bringe dich ans Set", gab sie sich erleichtert.
Vor einer Doppeltür machte die Frau halt, öffnete sie und schob Sheryll in einen riesengroßen Raum hinein. Er war durch transportable Wände mehrfach unterteilt. Sheryll kam sich plötzlich vor wie in der Schlafzimmerabteilung eines Möbelhauses. Sie war aber erst recht irritiert, als sie ihre Blicke neugierig umherschweifen ließ. Auf einem nahestehenden Bett wälzten sich einige nackte Pärchen. Kreuz und quer lagen mehrere Frauen und Männer auf dem nächsten Bett. Überall um die Betten herum waren
Scheinwerfer angebracht und Kameraleute filmten aus allen nur erdenklichen Positionen.
Sheryll hatte alles erwartet, nur das nicht. Vor Verlegenheit wusste sie nicht, wohin sie blicken sollte. Schon wollte sie vor Scham auf dem Absatz kehrt machen, als sie auf einem weiteren Bett den eleganten Mann aus dem Zug wiedererkannte. Er wirkte noch immer sehr elegant, obwohl er splitternackt war. Verblüfft und zugleich magisch angezogen starrte sie an ihm herunter. Aber der Mann war nicht allein. Links neben ihm kniete eine hübsche rothaarige Frau in mittleren Jahren. Sheryll wäre vor
Aufregung beinahe gestolpert, als sie näher an das Bett herantrat. Vielleicht zeigte aber auch der ungewohnte Alkohol seine Wirkung. Jedenfalls glaubte sie auch den zweiten Mann erkannt zu haben.
"Karl?", fragte sie mit zweifelnder Stimme.
"Was machst du denn hier, Sheryll?", hörte sie den anderen nackten Mann auf dem Bett mehr erstaunt als entsetzt fragen.
Sie schloss die Augen, um das was sie zu sehen glaubte, erst einmal zu verdauen.
Sheryll wollte es einfach nicht wahrhaben. Aber es war Karl - ihr Karl aus dem letzten Urlaub auf den Seychellen.
Eine ihr bis dahin nicht gekannte Eifersucht stieg in Sheryll hoch, als sie die gutgewachsene Rothaarige ansah. Dass sie es sich zwischen dem Eleganten und Karl bequem gemacht hatte, passte ihr überhaupt nicht.
"Karl!", entfuhr es Sheryll und betonte seinen Namen mit vorwurfsvoller Stimme.
Aber Karl war nicht minder überrascht und konnte seine Augen nicht von Sheryll lassen.
"Ich habe dich überall gesu...", setzte er zu einer Erklärung an und wurde sogleich unsanft unterbrochen.
"Zieh dich aus, Kleine. Wir sind spät dran", rief der Regisseur laut dazwischen.
Er konnte nur Sherryl meinen, denn die anderen Darsteller waren nicht mehr angezogen.
Karl glaubte plötzlich die aufsteigende Wut in Sherylls Gesicht zu erkennen. Das war schließlich auch seine erster Impuls gewesen, nachdem die ältere Frau ihn ans Set geführt hatte. Doch dann war er zu seiner eigenen Überraschung doch geblieben, weil er die Rothaarige aus seinem Abteil entdeckt hatte.
Karl befürchtete zuerst, Sherryl würde ihren neuen Job hinschmeißen und einfach aus dem Studio rennen. Aber von wegen. Sheryll riss sich mehr die wenigen Kleidungsstücke vom Körper, als dass sie sie auszog. Und schon sprang sie nackt aufs Bett und ehe der überraschte Karl reagieren konnte, verabreichte ihm seine Urlaubsliebschaft eine klatschende Ohrfeige.
"Und das ist dafür, dass du dich seit einem Jahr nicht gemeldet hast", pflaumte sie ihn zornig an.
Mehr verblüfft als vor Schmerz griff sich Karl an die Wange. Mit aufgerissenen Augen musste er mit ansehen, wie seine Urlaubsliebe die Rothaarige zur Seite schob. Sofort drängte sie sich an den eleganten Grauhaarigen heran und ließ den konsternierten Karl im wahrsten Sinne des Wortes links liegen.